Kurzbeschreibung

In dieser berühmten Rede, die der SPD-Abgeordnete Philipp Scheidemann (1865–1939) am 15. Mai 1917 im Reichstag hielt, forderte er einen Verhandlungsfrieden ohne Annexionen. Damit widersprach er sowohl der Obersten Heeresleitung (OHL) als auch den Forderungen des rechtsnationalistischen Alldeutschen Verbandes, der zu dieser Zeit noch die Fortsetzung des Krieges forderte, bis Deutschland seine expansionistischen Kriegsziele durch einen „Siegfrieden” verwirklicht hätte. Während einer Sitzung im Hauptquartier der OHL am 23. April 1917 hatten Hindenburg und Ludendorff Wilhelm II. und Reichskanzler Bethmann Hollweg unter Druck gesetzt, die Regierung solle die Kriegsziele Deutschlands, einschließlich der Annexion von Gebieten in Belgien, Frankreich und Russland, offiziell formulieren und veröffentlichen. Reichskanzler Bethmann Hollweg lehnte dies jedoch ab.

In seiner Rede verwies Scheidemann auf die Bemühungen sowohl der österreichischen als auch der provisorischen russischen Regierung, die beide Anfang 1917 getrennt voneinander versucht hatten, mit der Entente ein Friedensabkommen ohne Annexionen, also eine Rückkehr zum Status quo ante bellum, auszuhandeln. Wie alle Friedensinitiativen während des Ersten Weltkrieges blieben auch diese jedoch erfolglos, und Scheidemanns Vorhersage, dass die Regierung Kaiser Wilhelms durch die Missachtung des Willens der kriegsmüden deutschen Bevölkerung eine Revolution provozieren würde, sollte sich bewahrheiten. Diese Tonaufnahme entstand jedoch nicht im Reichstag, sondern es handelt sich um eine Studioaufnahme, die 1920 von der Preußischen Staatsbibliothek angefertigt wurde. Scheidemann, ein begabter Redner, der in den dazwischenliegenden Jahren Geschichte geschrieben hatte, indem er die deutsche Republik ausrief und als ihr erster Ministerpräsident fungierte, las für die Aufnahme noch einmal einen Auszug aus seiner Rede vor.

Philipp Scheidemanns Friedensrede im Reichstag (5. Mai 1917)

Quelle

Meine Herren, auf beiden Seiten werden die leidenden Völker mit Vertröstungen hingehalten, dass nun die endgültige Entscheidung unmittelbar bevorstehe und dass es nur notwendig sei, sich noch ein kleines Weilchen zu gedulden. Darüber sind nahezu drei Jahre vergangen. Immer wieder heißt es auf beiden Seiten: nächstens.

Ich halte es für die Pflicht aller klar und ruhig Denkenden in allen Ländern, dieses Spiel, das da mit Völkerleben gespielt wird, aufzudecken. Den Regierungen aller Länder zuzurufen: es ist genug! Jeder Mann mit Verantwortungsgefühl und Gewissen solle sich die Frage vorlegen, ob es erträglich wäre, immer neue Hunderttausende auf die Schlachtbank zu schicken, für ein Ziel, ein Eroberungsziel, das die erdrückende Mehrheit unseres Volkes gar nicht will, das überhaupt gar nicht erreicht werden kann.

Ich wiederhole, meine Herren, was ich seit Jahren vertreten habe: es wäre ein Glück für ganz Europa, wenn wir schnellstens einen Frieden der Verständigung haben könnten. Für die Verteidigung unseres Landes, für die Verteidigung von Heim und Herd wird und muss das Volk eintreten. Von der Führung des Krieges für irgendwelche Vergewaltigungsziele will unser Volk nichts wissen!

Dem werden wir Sozialdemokraten - darüber täuschen Sie sich nicht - uns aufs Entschiedenste widersetzen. Über den Frieden der Verständigung, für den wir alle Zeit eingetreten sind, höhnen die Alldeutschen als einen Verzichtfrieden, wie der Herr Abgeordnete Rösicke darüber gespottet hat. Was soll das heißen? Und auf was verzichten wir überhaupt? Wir verzichten auf die Fortsetzung dieses Krieges. Wir verzichten auf hunderttausende Tote und hunderttausend Krüppel. Wir verzichten auf tägliche Lasten von hundert Millionen. Wir verzichten auf die weitere Verwüstung Europas. Wir verzichten aber auf kein Stück deutschen Landes und kein Stück deutschen Gutes.

Wir verzichten auf das, was wir gar nicht besitzen. Wir verzichten auch auf die Illusion, dass der Krieg einen Gewinn bringen wird, der uns nicht zusteht, für den wir weitere furchtbare Opfer bringen müssten und den wir doch nicht erreichen würden. Wir verzichten darauf, andere Völker zu vergewaltigen und zu unterdrücken.

Wir verzichten aber nicht darauf, dass das deutsche Volk als ein freies Volk aus diesem entsetzlichen Kriege hervorgeht. Das nennen die Alldeutschen einen Verzichtsfrieden. Worauf wir verzichten, das sind die Alldeutschen und ihre dummen Schwätzereien. Zwei Regierungen, eine feindliche und eine verbündete, haben eine Haltung eingenommen von der wir wünschen, dass sie auch die Haltung der deutschen Regierung ist.

Ich frage den Herrn Reichskanzler, ob er einem befreiten und von den Grundsätzen der Freiheit und internationalen Gerechtigkeit geleiteten Volke etwa die Erobererfaust entgegenstrecken will; ich frage den Herrn Reichskanzler, ob er sich in einer Schicksalsfrage der Weltgeschichte von der erdrückenden Mehrheit seines eigenen Volkes und von seinem Bundesgenossen, der österreichisch-ungarischen Regierung, trennen will.

Ich will ganz offen sein, was das deutsche Volk trotz aller inneren Gegensätze zusammenhält, das ist die gemeinsame Absicht, fremde Anschläge auf deutsches Land und deutsches Gut abzuwehren. Was die große Masse von einem Teil der herrschenden Klassen, den Imperialisten und denen, die sich so gebärden, trennt, ist die Meinungsverschiedenheit über die inneren und äußeren Kriegsziele.

Fällt die Klammer und bleibt der Keil, dann klaffen die beiden Teile ohnmächtig auseinander. Das heißt, würden heute die englische und französische Regierung, so wie es die russische Regierung schon getan hat, auf Annexionen verzichten, und würde die deutsche Regierung statt durch den gleichen Verzicht den Krieg zu beenden ihre Eroberungsziele fortsetzen wollen, dann, meine Herren, verlassen Sie sich darauf, dann haben Sie die Revolution im Lande!

Quelle: Philipp Scheidemann, Reichstagsrede, 15. Mai 1917, Aufnahmedatum: 9. Januar 1920. Stiftung Deutsches Rundfunkarchiv

DRA