Kurzbeschreibung

Matthias Erzberger saß nach 1903 für die katholische Zentrumspartei im Reichstag und wurde zum Experten seiner Partei für Kolonial- und Haushaltsfragen. In dieser Reichstagsrede aus dem Jahr 1908 prangert Erzberger die riesigen Summen an, die in die deutsche Kolonie Kiaochow (Jiaozhou-Bucht, Kiautschou) an der chinesischen Küste flossen, während diese Deutschland wenig Nutzen brachte. Im Jahr 1921 wurde Erzberger, der nach dem Ersten Weltkrieg einer der Unterzeichner des Versailler Vertrages war, von Rechtsextremisten ermordet.

Matthias Erzbergers Kritik an der Kolonie Kiautschou (1908)

Quelle

Der Herr Staatssekretär hat in seiner Rede darauf hingewiesen, was wir in Kiautschou geschaffen haben. Auch die neueste amtliche Denkschrift, ein sehr interessantes Werk, zieht das Resultat der seitherigen zehnjährigen Tätigkeit der Deutschen in dem Kiautschougebiet, die aus dem chinesischen Drecknest ein hochmodernes Seebad geschaffen haben. Aber eins vermisse ich in der interessanten Denkschrift: alles ist aufgezählt an Entwicklung und Zunahme des Handelsverkehrs. Nur eine Zahl fehlt, die uns Deutsche so hart angeht, daß nämlich 110 Millionen Reichszuschuß geleistet worden ist.

(Hört! hört! in der Mitte.)

Es würde der Objektivität des Verfassers alle Ehre machen, wenn er uns die Zahl in der Denkschrift mitgeteilt hätte. Diese Gelder haben wir ausgegeben. Ich glaube, wenn man die 110 Millionen in Deutschland verwenden würde, so könnte man — um ein Wort des Abgeordneten Bebel zu gebrauchen — aus der Mark Brandenburg den schönsten Garten der Erde machen. Auch ganz ersprießliche Kulturarbeit könnte in der Heimat geleistet werden, wenn wir 110 Millionen auf ein Gebiet legen würden, das nicht so groß ist wie ein ordentlicher preußischer Landratsbezirk, auf ein Gebiet, das nur die Größe der Freien Stadt Bremen hat. Die Summe von 110 Millionen Mark müssen wir uns immer gegenüberhalten, wenn wir die Leistungen der Marineverwaltung, die ich durchaus anerkenne, richtig würdigen sollen.

Es ist angesichts dieser Ausgabe für Kiautschou nicht außer acht zu lassen, daß Kiautschou als Flottenstation, wie es ursprünglich geplant war, kaum in Betracht kommen kann. Wir müssen froh sein, wenn wir eine Flotte in Europa, in der Nord- und Ostsee halten können, die so stark ist, daß sich jeder Gegner Deutschlands hütet, mit uns anzubinden. Aber eine eigene große Flottenstation in Ostasien zu halten, ist, wenn der Plan je gehegt worden ist, prinzipiell aufgegeben worden.

Dafür sagt man jetzt: Kiautschou soll ein deutsches Kulturzentrum werden. Ja, meine Herren, wenn wir anfangen wollten, deutsche Kulturzentren überall in der Welt zu errichten, so würde das uns sehr teuer zu stehen kommen.

(Sehr richtig! in der Mitte.)

Was speziell die handelspolitische Entwicklung des Hafens betrifft, so leugne ich gar nicht, daß die Aus- und Einfuhr in dem Hafen sehr gestiegen ist, aber nicht zu unserem Vorteil, da wir alle Ausgaben, die wir für Kiautschou machten, im großen und ganzen den Japanern und Chinesen zu gute kommen lassen.

(Hört! hört! in der Mitte.)

[] Was aber ist nun angesichts der großen Ausgaben für das Reich, die also 30 Millionen Mark im Jahr betragen, der ganze Handel nach China? — Im Jahre 1900 betrug die Ausfuhr 43,7 Millionen Mark, im Jahre 1902 37,9 Millionen Mark, 1904 52,9 Millionen Mark, 1906 [] 67,8 Millionen Mark.

Wir stehen also vor folgendem Resultat: 50 Prozent der gesamten deutschen Ausfuhr von 1906 mit 67,8 Millionen, also rund 30 Millionen Mark, müssen wir à fonds perdu ausgeben, um diesen Ausfuhrhandel nach China schützen zu können. []

Man geht nicht zu weit, wenn man sagt: in diesem Etat zeigt sich ei­ne Geldverschwendung in einem geradezu unerhörten Maße.

Quelle: Stenographische Berichte über die Verhandlungen des Reichstages, Bd. 231, Berlin 1908, S. 4174 f., 4195 f., zitiert nach Horst Gründer, „… da und dort ein junges Deutschland gründen.“ Rassismus, Kolonien und kolonialer Gedanke vom 16. bis zum 20. Jahrhundert. München, 1999, S. 172-173.