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Kapitel 5. Auf dem Paukboden
An einem Tag erhielt mein Reisebegleiter im Interesse der Wissenschaft die Erlaubnis, mich auf den Paukboden der Studenten zu führen. Wir überquerten den Fluß und fuhren ein paar hundert Meter am Ufer entlang, bogen dann nach links in eine schmale Gasse ein, folgten ihr etwa hundert Meter und kamen vor einem zweistöckigen Wirtshaus an; das Äußere war uns vertraut, denn es war vom Hotel aus zu sehen. Wir gingen nach oben und gelangten in einen großen weißgetünchten Saal, der etwa fünfzehn Meter lang und zehn Meter breit und sechs oder auch sieben Meter hoch war. Der Saal hatte gutes Licht. Einen Teppich gab es nicht. An einem Ende und an den beiden Längsseiten waren Tische aufgereiht, und daran saßen etwa fünfzig bis fünfundsiebzig Studenten.
Einige von ihnen tranken Wein, andere spielten Karten, andere Schach, noch andere plauderten miteinander, und viele rauchten Zigaretten, während sie auf die kommenden Duelle warteten. Fast alle trugen bunte Mützen. Ich sah weiße Mützen, grüne Mützen, blaue Mützen, rote Mützen und leuchtend gelbe; alle Korps waren also mit starker Streitmacht vertreten. In den Fensternischen am freien Ende des Raumes standen sechs oder acht lange schmalklingige Säbel mit großem Handschutz, und draußen war ein Mann dabei, weitere auf einem Schleifstein zu schärfen. Er verstand sein Handwerk; wenn ein Säbel seine Hände verließ, konnte man sich damit rasieren.
Es war zu beobachten, daß die jungen Herren nicht mit Studenten sprachen, deren Mütze sich in der Farbe von ihrer eigenen unterschied, ja, sie nicht einmal durch eine Verbeugung begrüßten. Das war keine Feindseligkeit, sondern nur bewaffnete Neutralität. Man war der Ansicht, daß jemand im Duell härter und mit ernsterem Interesse schlug, wenn er zu seinem Gegner nie ein kameradschaftliches Verhältnis unterhalten hatte. Kameradschaft zwischen den Korps war daher nicht erlaubt. Von Zeit zu Zeit pflegen die Vorsitzenden der fünf Korps kühlen offiziellen Umgang miteinander, aber damit ist es auch getan. Wenn zum Beispiel der regelmäßige Duelltag eines Korps näherrückt, bittet der Vorsitzende um die Meldung von Freiwilligen, die sich schlagen werden; drei oder mehr melden sich – aber weniger als drei dürfen es nicht sein; der Vorsitzende legt ihre Namen den anderen Vorsitzenden mit dem Ansinnen vor, für diese Herausforderer Gegner aus dem eigenen Korps zu stellen. Dem wird unverzüglich nachgekommen. Es traf sich, daß das Ereignis, dem ich beiwohnte, der Kampftag des Rotmützenkorps war. Sie waren die Herausforderer, und bestimmte Mützen anderer Farben hatten sich freiwillig erboten, gegen sie anzutreten. Die Studenten fechten während siebeneinhalb bis acht Monaten im Jahr zweimal wöchentlich Duelle in dem Saal aus, den ich beschrieben habe. Der Brauch besteht in Deutschland seit zweihundertfünfzig Jahren.
Aber zurück zu meinem Bericht. Ein Student mit weißer Mütze nahm uns in Empfang und stellte uns sechs oder acht Freunden vor, die ebenfalls weiße Mützen trugen, und während wir noch da standen und uns unterhielten, wurden zwei seltsam aussehende Gestalten aus dem Raum nebenan hereingeführt: zwei voll zum Duell gerüstete Studenten. Sie waren barhäuptig; ihre Augen wurden von einer eisernen Brille geschützt, die einen Zoll oder noch mehr vorstand und deren Lederriemen die Ohren platt an den Kopf banden; ihr Hals war dick mit Binden umwickelt, die ein Säbel nicht zerschneiden konnte; vom Kinn bis an die Enkel waren die beiden gründlich gegen Verletzungen gepolstert; ihre Arme waren Lage über Lage dick bandagiert, so daß sie wie massive schwarze Klötze aussahen. Diese sonderbaren Erscheinungen waren vor einer Viertelstunde ansehnliche Jünglinge in eleganter Kleidung gewesen, nun jedoch glichen sie Wesen, denen man nur in Alpträumen begegnet. Mit steif abstehenden Armen kamen sie daher; sie hielten sich nicht selber aufrecht; andere Studenten gingen neben ihnen her und gewährten ihnen die nötige Stütze.
Alles eilte nun zum freien Ende des Saales, und wir schlossen uns an und bekamen gute Plätze. Die Kombattanten wurden mit dem Gesicht zueinander aufgestellt, jeder mit mehreren Angehörigen seines Korps zur Assistenz um sich herum; zwei Sekundanten faßten gutgepolstert und mit einem Säbel in der Hand nahebei Posten; ein Student, der keinem der gegeneinander antretenden Korps angehörte, begab sich an eine günstige Stelle, von der aus er den Kampf als Schiedsrichter beobachten konnte; ein weiterer Student stand mit einer Taschenuhr und einem Notizbuch bereit, um die Zeit und die Zahl und Art der Wunden festzuhalten; ein grauhaariger Arzt war zugegen mit seinem Zupflinnen, seinen Binden und seinen Instrumenten. Nach einer kurzen Pause grüßten die Duellanten den Schiedsrichter ehrerbietig, dann traten die verschiedenen Helfer einer nach dem anderen vor, nahmen mit Anstand ihre Mütze ab und grüßten ihn ebenfalls und gingen wieder an ihren Platz zurück. Alles war nun bereit; Studenten drängten sich dicht aneinander am Rand des freien Platzes, und andere standen auf Stühlen und Tischen hinten ihnen. Aller Augen waren dem Mittelpunkt des Interesses zugewandt.
Die Kombattanten beobachteten einander mit wachsamen Augen; es herrschten vollkommene Stille und atemlose Anteilnahme. Ich glaubte, daß ich nun allerlei kluge, bedachtsame Arbeit zu sehen bekommen würde. Nichts dergleichen. Als durch Zuruf das Zeichen zum Anfangen gegeben wurde, sprangen die beiden Erscheinungen vor und ließen mit solch rasender Geschwindigkeit Schläge aufeinander niederregnen, daß ich nicht unterscheiden konnte, ob ich die Säbel sah oder nur ihr Blitzen in der Luft. Der prasselnde Lärm dieser Hiebe, wenn sie auf Stahl oder Bandagen trafen, hatte etwas wundervoll Aufrüttelndes, und es wurde mit solch fürchterlicher Wucht geschlagen, daß ich nicht begriff, wieso der gegnerische Säbel von dem Anprall nicht niedergehauen wurde. Nach einer kleinen Weile sah ich inmitten des Säbelblitzens ein Büschel Haare durch die Luft segeln, so als habe es lose auf dem Kopf des Opfers gelegen und sei von einem plötzlichen Zugwind fortgepustet worden.
Die Sekundanten riefen „Halt!“ und schlugen gleichzeitig die Säbel der Kombattanten mit ihren eigenen hoch. Die Duellanten setzten sich; einer der offiziellen Helfer trat vor, untersuchte den verletzten Kopf und betupfte die Stelle ein paarmal mit einem Schwamm; der Arzt kam und strich das Haar zurück – und legte eine hochrot klaffende Wunde von etwa zwei bis drei Zoll bloß und machte sich daran, ein ovales Stück Leder und ein Büschel Zupflinnen darüber zu binden; der Rechnungsführer trat heran und vermerkte einen Punkt für die Gegenseite in seinem Buch.
Dann bezogen die Duellanten abermals Stellung; ein kleines Blutrinnsal lief dem Verletzten an der Seite des Kopfes herunter und von dort über die Schulter und am Körper abwärts bis auf den Fußboden, aber es schien ihn nicht zu bekümmern. Der Zuruf erklang, und die beiden fuhren ebenso heftig aufeinander los wie zuvor; abermals regneten und prasselten und blitzten die Hiebe; alle paar Augenblicke entdeckte einer der flinkäugigen Sekundanten, daß ein Säbel verbogen war – dann riefen sie „Halt!“, schlugen die miteinander kämpfenden Waffen hoch, und einer der Helfer bog die verbogene Klinge wieder gerade.
Weiter ging der wundervolle Tumult – auf einmal sprang ein heller Funke von einer der Klingen, und diese Klinge, die in mehrere Stücke zerbrochen war, schickte eins ihrer Bruchstücke in hohem Flug an die Decke. Ein neuer Säbel wurde angereicht und der Kampf fortgesetzt. Die körperliche Anstrengung war natürlich ungeheuer; und nach einer Weile ließen die Kämpfer beträchtliche Erschöpfungen erkennen. Sie durften sich in kurzen Abständen immer wieder einen Augenblick ausruhen; weitere Rastpausen verschafften sie sich durch gegenseitiges Verwunden, denn dann konnten sie sich setzen, während der Arzt Scharpie und Verband anlegte. Es ist Vorschrift, daß der Kampf fünfzehn Minuten andauern muß, falls die Männer durchstehen; und da die Pausen nicht mitzählen, zog sich dieses Duell meiner Schätzung nach über zwanzig bis dreißig Minuten hin. Schließlich wurde entschieden, daß die beiden Männer zu ermattet waren, um sich noch weiter zu schlagen. Sie wurden weggeführt, von Kopf bis Fuß hochrot durchtränkt. Es war dies ein guter Kampf, aber er zählte nicht, teils weil er nicht die vorgeschriebenen fünfzehn Minuten (tatsächlichen Schlagens) gedauert hatte, teils weil keiner der beiden Männer durch seine Wunden kampfunfähig geworden war. Es war ein unentschiedener Kampf, und das Korps-Gesetz fordert, daß unentschiedene Kämpfe aufs neue ausgefochten werden, sobald die Widersacher von ihren Wunden genesen sind.
Während des Duells hatte ich mich hin und wieder ein wenig mit einem jungen Herrn vom Weißmützen-Korps unterhalten, und er hatte erwähnt, daß er sich als nächster schlagen werde, und hatte mir auch seinen Herausforderer gezeigt, einen jungen Herrn, der an der Wand gegenüber lehnte, eine Zigarette rauchte und in aller Ruhe dem im Gang befindlichen Duell zusah.
Meine Bekanntschaft mit einem der Beteiligten an dem kommenden Zweikampf hatte zur Folge, daß ich ihm mit einer Art persönlicher Anteilnahme entgegensah; ich wünschte natürlich, er werde gewinnen, und es war alles andere als angenehm zu erfahren, daß er wahrscheinlich nicht gewinnen werde, denn er war zwar ein hervorragender Fechter, aber der Herausforderer galt als ihm überlegen.
Alsbald begann das Duell, und zwar mit demselben Ungestüm, das auch das vorhergehende ausgezeichnet hatte. Ich stand nahebei, konnte jedoch nicht unterscheiden, welche Hiebe zählten und welche nicht – sie fielen und verschwanden wie Lichtblitze so schnell. Anscheinend zählten sie alle. Die Säbel bogen sich immerzu über die Köpfe der Gegner hinweg und schienen von der Stirn bis zum Wirbel aufzutreffen; aber dem war nicht so – eine schützende Klinge fuhr, für mich unsichtbar, jedesmal dazwischen. Nach zwölf Sekunden hatte jeder der Männer zwölf- bis fünfzehnmal zugehauen und zwölf bis fünfzehn Schläge abgewehrt, und nichts war passiert; dann wurde ein Säbel außer Gefecht gesetzt, und es folgte eine kurze Ruhepause, während der ein neuer herbeigebracht wurde. Gleich zu Beginn der nächsten Runde erhielt der Student vom weißen Korps eine böse Wunde an der Seite des Kopfes und brachte seinem Gegner eine ebensolche bei. In der dritten Runde empfing dieser eine weitere schwere Kopfwunde, und jenem wurde die Unterlippe gespalten. Danach gelang dem Studenten vom weißen Korps eine ganze Reihe schwerer Wunden, ihn selber jedoch erwischte es nicht mehr ernstlich. Nach insgesamt fünf Minuten brach der Arzt das Duell ab; der Herausforderer hatte solch erhebliche Verletzungen erlitten, daß weitere Wunden gefährlich werden konnten. Diese Verletzungen boten einen gräßlichen Anblick, bleiben jedoch besser unbeschrieben. Wider Erwarten war mein Bekannter also der Sieger.
Quelle: Mark Twain, Bummel durch Europa [A Tramp through Europe, 1880], Übersetzung: Gustav Adolf Himmel. Frankfurt am Main und Leipzig: Insel Verlag, 1997, S. 36–42. Abdruck mit freundlicher Genehmigung des Insel Verlages.