Quelle
Der Berliner Evangel.-Kirchl. Anzeiger ist das Organ der preußischen Hof- und Unionstheologie, und daher ist es zu verstehen, wenn es ihm sehr schwer fällt, die Schäden des Protestantismus anzuerkennen. Um so beachtenswerter ist es, wenn er in einem langen Klageliede (Nr. 23 und 26, 1898) über die Partei, welche sich liberal nennt, schreibt:
Wer kennt sie nicht, diese jüngern oder ältern Herren, die sich verpflichtet halten, nicht das Bekenntnis der Kirche, sondern das Kollegien-Heft ihres Professors den Christen zur Erbauung vorzutragen? Die der Gemeinde, in der sie das Amt begehren, dadurch sich empfehlen, daß sie eine neue Theorie des Wunders vortragen oder sonst die Glaubens-Ueberzeugung der am ernstesten Gesinnten verletzen? Daß in der christlichen Gemeinde an den Stätten ihrer Andacht auch noch andere Bedürfnisse lebendig sind als das Verstandesbedürfnis, daß an der hohen Aufklärung des Predigers aus Glaubens- und Bekenntnisgründen ein Aergernis genommen wird, das sehen diese Herren als ein Unrecht an, das ihnen persönlich, oder das dem Fortschritt der Wissenschaft geschieht, und als eine Schuld des Kirchenregiments gilt es, daß es nicht jedem beliebigen Prediger gestattet sein soll, der Gemeinde das vorzutragen, was ihm in diesem augenblicklichen Studium seiner inneren Entwickelung oder was einer bestimmten theologischen Schule in diesem bestimmten Zeitpunkte gerade am meisten einleuchtet. Die Universitäts-Theologen haben ja nun ein so unmittelbares Verhältnis zur christlichen Gemeinde nicht, wie die Geistlichen im Amte; aber daß sie ganz ohne Verpflichtung gegen die Kirche sich fühlen könnten, ist sachlich unmöglich. Zwar sie haben Wissenschaft zu lehren, und den Glauben lernt man nicht auf Universitäten. Aber sie haben durch die Wissenschaft Diener der Kirche vorzubilden, und wenn es nur wenigen gegeben ist, die studierende Jugend in der Entwickelung des keimenden Glaubenslebens zu fördern, so ist es doch allen auferlegt, solche Entwickelung mindestens nicht ausdrücklich zu hindern. Daß alle gelehrten Theologen auch überzeugungstreue, gläubige Bekenner seien, wird wohl ein frommer Wunsch bleiben; aber daß alle theologischen Jugendlehrer den heiligen Dingen gegenüber eine ernste, sittlich gebundene, ehrfurchtsvolle Haltung bewahren, das ist ein durchaus berechtigtes Verlangen. Die Wissenschaft hat ihre zeitlichen Strömungen; da dringt bisweilen das geradezu Widerkirchliche, Widerchristliche, Naturalismus, Rationalismus, Skeptizismus allem Uebersinnlichen gegenüber bis in die herrschenden theologischen Ansichten hinein, und die studierende Jugend wird der Ehrfurcht vor dem Heiligen entwöhnt. Da wird doch jeder besonnen und gerecht Urteilende zugeben: es führt zu direktem Widersinn, wenn der akademische Lehrer der Theologie, selbst mit dem Bekenntnis der Kirche zerfallen oder gegen dasselbe gleichgültig, auf Grund der akademischen Lehrfreiheit in den Gemütern der studierenden Jugend, der künftigen Diener der Kirche, die Ehrfurcht vor den Grundlagen, auf denen die Kirche ruht, untergräbt, und die Kirche dies unthätig muß über sich ergehen lassen.
Das ist so recht die moderne Hof- und Unionstheologie; nicht kalt und nicht warm — Laodicaea! Man sollte sagen, es sei das natürlichste Verlangen von der Welt, daß christliche Theologen „überzeugungstreue, gläubige Bekenner“ des Christentums seien, aber darauf leistet der Evangel. kirchl. Anzeiger von vorn herein Verzicht, das ist „ein frommer Wunsch“, sagt er. Er ist mit viel weniger zufrieden, er verlangt von ihnen nur eine „ernste Haltung“; ungläubig dürfen sie dabei sein. Wenn es sich um einen Diskutier-Klub handelte, in dem die verschiedensten Meinungen entwickelt werden dürfen, könnte man am Ende darüber reden, aber ohne fest umschriebenes Glaubensbekenntnis, das für alle Gesetz ist, kann man doch kaum beanspruchen, eine „Kirche“ zu sein. Die Kirche soll die Pilatusfrage: „Was ist Wahrheit?" beantworten, aber nicht sagen: das lassen wir alles dahingestellt sein; darüber giebt es bei uns sehr verschiedene Meinungen; wir forschen alle selbst und vergeblich danach, die Wahrheit zu ergründen. Wie will man die Menschen leiten und trösten, wenn man ihnen sagen muß: eure Zweifel sind auch die unserigen, auch wir denken mit Dubois-Reymond: „ignoramus ignorabimus“. Der einzelne Pastor und Professor mag eine Antwort bereit halten, aber er spricht nur seine subjektive Ueberzeugung aus, mit der er vielleicht unter seinen Glaubensgenossen ganz allein steht. Der protestantische Diener am Wort kann niemals mit der Bestimmtheit wie der katholische Geistliche sagen, dies und jenes sei die Lehre „der Kirche“, er kann sich nur berufen auf seine Anschauung und die Ansicht seiner theologischen Schule oder Richtung. „Bei ihm gerät man stets ins Ungewisse", wie Goethe sagt, er spricht pro domo, aber nicht pro ecclesia. Wer sich dann mit diesen Dingen eingehend beschäftigt, mag auch dem Faust vielleicht die Worte: „und leider auch Theologie“ nachsprechen.
Dem Evangel.-Kirchl. Anzeiger genügt es aber nicht, daß er den Theologen das Recht der freien Forschung wahrt, um darauf zu wehklagen, daß „die Kirche dies unthätig muß über sich ergehen lassen“. Er legt in die Festungsmauer, die er verteidigen will, selber noch weitere Breschen, damit der Gegner sie desto bequemer stürmen kann, indem er sagt: der Staat, der die Universitäten verwalte, um Gerechtigkeit gegen die Kirche zu üben, solle dafür sorgen, daß die verschiedenen in der theologischen Wissenschaft sich bekämpfenden Richtungen gleichmäßige Vertretung finden. Das „positive“ Blatt verlangt somit, daß auch die liberalen Theologen angemessen berücksichtigt werden; wozu denn aber der ganze Lärm?! Die ganze protestantische Inkonsequenz und Halbheit wird durch nichts besser gekennzeichnet, als durch diesen Widerstreit zwischen Theorie und Praxis. Die liberalen Professoren sollen gleiche Berücksichtigung finden, aber von ihren Anschauungen keinen Gebrauch machen; man jammert entsetzlich über Zustände, welche die Kirche unthätig über sich ergehen lassen müsse, und proklamiert zugleich das Recht einer Beeinflussung des Staates, welche dessen effektive Omnipotenz in Glaubenssachen bedeutet. Das ist eine Begriffsverwirrung, welche kaum noch überboten werden kann, aber den ganzen Protestantismus in höchst treffender Weise charakterisiert. Der Evangel. kirchl. Anzeiger schreibt einerseits:
Die Kirche ist keine Anstalt für Wissenschaft, sondern für ein göttliches Leben. Ihre erste Anforderung ist die eines lebendigen Glaubens an das, was man nicht sieht, an die himmlische, die jenseitige Welt, an ihre Heilsgüter und an die Verpflichtung, die sie auferlegt.
In demselben Atem heißt es aber auch wieder:
Es ist geradezu das unterscheidende Kennzeichen protestantischen Geistes, daß auch die heiligste Ueberlieferung der immer erneuten wissenschaftlichen Prüfung nicht bloß unterzogen werden darf, sondern von dem dazu Befähigten unterzogen werden soll.
Das ist ein vollkommener Widerspruch, der durch keine Dialektik ausgeräumt werden kann. Die Herren möchten es mit zwei grundverschiedenen Prinzipien, mit zwei sich diametral entgegenstehenden Anschauungen halten, ähnlich wie man von dem früheren Finanzminister v. Miquel gesagt hat, wenn große Gegensätze aufeinanderplatzten, halte er es am liebsten mit — beiden Parteien. So taumelt der moderne Protestantismus zwischen Autorität und Anarchie hin und her; den „Römischen“ gegenüber beruft er sich auf seine „freie Forschung“ und den Ungläubigen gegenüber auf das „Bekenntnis der Kirche“. Wie er aber mit sich selber in Zwiespalt ist, so muß er auch mit aller Welt in Zwiespalt kommen; er weiß den trostbedürftigen Herzen, die sich an ihn wenden, nichts Positives zu bieten und ist andererseits, um seine selbständige Existenz als „Kirche“ zu dokumentieren, gezwungen, mit der „voraussetzungslosen Wissenschaft“ im Kampfe zu leben. Daher wird sich an ihm das Schicksal aller Halbheiten bewähren: er wird zwischen den Mühlsteinen von links und rechts zermalmt werden. Er hat keinen Boden mehr in den breiten Massen des Volkes, die etwas Positives wollen und nach einer festen Autorität verlangen, und lebt zugleich in Konflikt mit der modernen Philosophie, die nichts als gegeben anerkennt, was nicht der menschliche Verstand selbst konstruiert hat.
Quelle: Phillip Huppert, „Die moderne Hof- und Unionstheologie“, Der deutsche Protestantismus zu Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts. Köln, 1902, S. 25–29.