Kurzbeschreibung

Die literarische Moderne versuchte, die moderne Gesellschaft in all ihren unzähligen Konflikten, Widersprüchen und Erscheinungsformen zu fassen. Während die deutsche Literatur üblicherweise Gestaltungsformen aus der Vergangenheit aufgegriffen hatte, vor allem aus der Antike, entwickelte die moderne Literatur – wie alle anderen modernen Künste auch – einen starken Gegenwartsbezug und fing die innovative Energie einer lebendigen und sich stetig wandelnden Gesellschaft ein. Dieser 1887 verfasste Text bestätigt die Beobachtung, dass die neuen künstlerischen Konzepte mit den etablierten Regeln des Kunstbetriebs im Wilhelminischen Deutschland in Konflikt gerieten. Dieser anonyme Vertreter des literarischen Modernismus wendet sich gegen einen „dilettantischen“ Traditionalismus und spricht sich für einen Realismus aus, der auf Beschönigungen verzichten solle, um die Mühen und Zwangslagen des täglichen Lebens abzubilden.

Thesen zur literarischen Moderne (1887)

Quelle

Die in Berlin bestehende freie literarische Vereinigung „Durch!“ bittet uns um Abdruck folgender Thesen:

Die unter dem Namen und Wahlspruch „Durch!“ zusammengetretene freie literarische Vereinigung junger Dichter, Schriftsteller und Literaturfreunde hat keinerlei bindende Satzung; doch lassen sich die in diesem Kreise lebenden literarischen Anschauungen durch folgende Sätze versinnbildlichen, welche zugleich den Charakter aller modernen Dichtung darstellen:

1. Die deutsche Literatur ist gegenwärtig allen Anzeichen nach an einem Wendepunkt ihrer Entwicklung angelangt, von welchem sich der Blick auf eine eigenartige bedeutsame Epoche eröffnet.

2. Wie alle Dichtung den Geist des zeitgenössischen Lebens künstlerisch verklären soll, so gehört es zu den Aufgaben des Dichters der Gegenwart, alle bedeutungsvollen und nach Bedeutung ringenden Gewalten des gegenwärtigen Lebens in ihren Licht- und Schattenseiten poetisch zu gestalten und der Zukunft prophetisch und bahnbrechend vorzukämpfen. Demnach sind soziale, nationale, religiös-philosophische und literarische Kämpfe spezifische Hauptelemente der gegenwärtigen Dichtung, ohne daß sich dieselbe tendenziös dem Dienste von Parteien und Tagesströmungen hingibt.

3. Unsere Literatur soll ihrem Wesen, ihrem Gehalte nach eine moderne sein; sie ist geboren aus einer trotz allen Widerstreits täglich mehr an Boden gewinnenden Weltanschauung, die ein Ergebnis der deutschen idealistischen Philosophie, der siegreich die Geheimnisse der Natur entschleiernden Naturwissenschaft und der alle Kräfte aufrüttelnden, die Materie umwandelnden, alle Klüfte überbrückenden technischen Kulturarbeit ist. Diese Weltanschauung ist eine humane im reinen Sinne des Wortes und sie macht sich geltend zunächst und vor allem in der Neugestaltung der menschlichen Gesellschaft, wie sie unsere Zeit von verschiedenen Seiten her anbahnt.

4. Bei sorgsamer Pflege des Zusammenhanges aller Glieder der Weltliteratur muß die deutsche Dichtung einen dem deutschen Volksgeist entsprechenden Charakter erstreben.

5. Die moderne Dichtung soll den Menschen mit Fleisch und Blut und mit seinen Leidenschaften in unerbittlicher Wahrheit zeichnen, ohne dabei die durch das Kunstwerk sich selbst gezogene Grenze zu überschreiten, vielmehr um durch die Größe der Naturwahrheit die ästhetische Wirkung zu erhöhen.

6. Unser höchstes Kunstideal ist nicht mehr die Antike, sondern die Moderne.

7. Bei solchen Grundsätzen erscheint ein Kampf geboten gegen die überlebte Epigonenklassizität, gegen das sich spreizende Raffinement und gegen den blaustrumpfartigen Dilettantismus.

8. In gleichem Maße als förderlich für die moderne Dichtung sind Bestrebungen zu betrachten, welche auf entschiedene, gesunde Reform der herrschenden Literaturzustände abzielen, wie der Drang, eine Revolution in der Literatur zu Gunsten des modernen Kunstprinzips herbeizuführen.

9. Als ein wichtiges und unentbehrliches Kampfmittel zur Vorarbeit für eine neue Literaturblüte erscheint die Kunstkritik. Die Säuberung derselben von unberufenen, verständnislosen und übelwollenden Elementen und die Heranbildung einer reifen Kritik gilt daher neben echt künstlerischer Produktion als Hauptaufgabe einer modernen Literaturströmung.

10. Zu einer Zeit, in welcher, wie gegenwärtig, jeder neuen, von eigenartigem Geiste erfüllten Poesie eine enggeschlossene Phalanx entgegensteht, ist es notwendig, daß alle gleichstrebenden Geister, fern aller Cliquen- oder auch nur Schulenbildung, zu gemeinsamem Kampfe zusammentreten.

Quelle: Anonym, „Thesen zur literarischen Moderne”, Allgemeine Deutsche Universitätszeitung (1887), zitiert in Gotthard Wunberg, Die literarische Moderne: Dokumente zum Selbstverständnis der Literatur um die Jahrhundertwende. Frankfurt am Main, 1971, S. 1; abgedruckt in Jürgen Schutte und Peter Sprengel, Die Berliner Moderne 1885–1914. Stuttgart, 1987, S. 186–88.