Kurzbeschreibung

Ludwig Quidde (1858–1941), ein ausgebildeter Historiker, war einer der aktivsten Kritiker der wilhelminischen Gesellschaft. Quidde, weithin bekannt durch die satirische Darstellung des Kaisers in seinem Pamphlet Caligula, engagierte sich in den Jahren vor dem Ersten Weltkrieg in der deutschen Friedensbewegung. Er war an einer Annäherung Deutschlands und Frankreichs interessiert und beaufsichtigte die Organisation des Weltfriedenskongresses 1907 in München. Er wurde Präsident der deutschen Friedensgesellschaft 1914, ein Amt, das er 15 Jahre lang innehatte. Er erhielt 1927 den Friedensnobelpreis. Als der Erste Weltkrieg ausbrach, versuchte Quidde die Verbindungen zu den englischen und französischen Friedensgruppen aufrechtzuerhalten. Die Bemühungen scheiterten, und als Quidde nach Deutschland zurückkehrte, wurde er wegen Hochverrats angeklagt, obwohl man die Anklage später fallen ließ. Dieser Aufsatz von 1916 aus seiner Feder unterstreicht die Bedeutung des internationalen Rechts bei der Lösung von Konflikten wie dem Ersten Weltkrieg.

Ludwig Quidde: Die Zentralstelle Völkerrecht (1916)

  • Ludwig Quiddes

Quelle

„Nachdem der ‚Deutsche Nationalausschuß‘ und der ‚Unabhängige Ausschuß für einen deutschen Frieden‘ den gegenwärtigen Zeitpunkt für geeignet gehalten haben, sich mit Kundgebungen zu Kriegszielen an die Öffentlichkeit zu wenden, haben sich deutsche Männer und Frauen, die einen dauernden Frieden auf der Grundlage des Selbstbestimmungsrechtes der Völker und einer neu einzuleitenden Verständigungspolitik erstreben, zu einer deutschen Zentrale für dauernden Frieden unter dem Namen Zentralstelle, ‚Völkerrecht‘ zusammengeschlossen.

Der Friede, der diesen Krieg beendigt, soll selbstverständlich nach der Auffassung der Zentralstelle die Freiheit des deutschen Volkes, die Unabhängigkeit des Deutschen Reiches, die Unversehrtheit des deutschen Bodens, die Wahrung der deutschen Interessen im Auslande und die Erhaltung der wirtschaftlichen Entwicklungsmöglichkeiten des deutschen Volkes sicherstellen; aber er soll auch jede Gewähr der Dauer in sich tragen. Dazu ist erforderlich, daß er von allen Beteiligten als eine befriedigende Ordnung ihrer internationalen Beziehungen anerkannt werden kann, daß er also nicht die Unterlegenen durch gewaltsame Annexionen, durch Beeinträchtigung ihrer Selbstbestimmung oder durch andere unerträgliche Bedingungen zur Vorbereitung eines Vergeltungskrieges nötigt, daß er zugleich wirksame Einrichtungen schafft für friedliche Erledigung künftiger internationaler Streitigkeiten auf dem Wege geordneter Vermittelung oder rechtlicher Entscheidung, und daß er damit der alten friedensgefährdenden Politik des Wettrüstens ein Ende setzt. Um einem solchen Frieden volle Wirksamkeit zu geben, muß ein neuer Geist das nationale und internationale politische Leben erfüllen. Die deutsche Zentralstelle ‚Völkerrecht‘ ist der Überzeugung, daß im deutschen Volke, wie bei allen anderen Kulturvölkern, die Vorbedingungen für diese neue Politik gegeben sind, und daß nur ein solcher Friede der ‚Deutsche Friede‘ im besten Sinne des Wortes sein würde.

Zweigstellen der deutschen Zentrale ‚Völkerrecht‘ sind in allen Teilen Deutschlands gebildet oder in Bildung begriffen. Die Zentrale wird, sobald Freiheit für die Erörterung von Kriegs- und Friedenszielen gewährt ist, mit Kundgebungen an die Öffentlichkeit treten. Zustimmungserklärungen werden einstweilen erbeten an die Geschäftsstelle Charlottenburg, Kantstraße 159, Gartenhaus III.“

Die neu gegründete Organisation wandte sich sogleich mit einer Eingabe an den zum 28. September einberufenen Reichstag. In dieser Eingabe richtete die Zentralstelle Völkerrecht die Bitte an den Reichstag, „er möge als seinen und des deutschen Volkes Willen bekunden, daß der Friede, der diesen Krieg beendet, nicht nur selbstverständlich die Lebensinteressen des deutschen Volkes, die Unabhängigkeit seines politischen Daseins, die Unversehrtheit seines vaterländischen Bodens, die Freiheit seiner wirtschaftlichen Entwicklung sicherstellen, sondern auch jede erreichbare Gewähr der Dauer in sich tragen soll. Deshalb möge der Reichstag insbesondere erklären: 1. Der kommende Frieden soll, um nicht den Keim künftiger Kriege in sich zu tragen, keinem Volke unerträgliche Bedingungen aufzwingen, insbesondere nicht Annexionen enthalten, die den freien Willen einer Bevölkerung vergewaltigen, oder Eingriffe in die Selbständigkeit bisher unabhängiger Staaten vornehmen. 2. Der kommende Friede soll aber auch, um ein dauernder Friede zu sein, die Grundlagen für ein neues Völkerrecht legen, durch Schaffung einer überstaatlichen Organisation, die Gewähr bietet für friedliche Erledigung künftiger internationaler Streitigkeiten auf dem Wege geordneter gütlicher Vermittlung oder rechtlicher Entscheidung.“ Diesen Forderungen war eine eingehende Begründung beigegeben, in der es von der neuen politischen Organisation der Kulturwelt u. a. heißt, „sie würde dem Treiben der geheimen Diplomatie ein Ende setzen und würde das gefährliche System geheimer Verträge und Bündnisse beseitigen“, auch die Vorbedingung sein für „eine vertragsmäßige Beschränkung der Rüstungen“; „sie würde auch die Erfüllung zweier auf dem Gebiete internationalen Rechtes liegender Forderungen sichern, die vielfach als deutsche Kriegsziele bezeichnet worden sind [] Offene Tür in allen Kolonien und Schutzgebieten und dazu eine völkerrechtlich gesicherte Freiheit der Meere.“ Es heißt dann weiter, daß die Neuorganisation der Welt „von einer Erneuerung des ganzen öffentlichen Lebens begleitet“ sein müsse. Unverantwortlich unbescheidene Kundgebungen haben den Anschein erweckt, „als widerstrebe das deutsche Volk, allein unter allen Völkern, einer Sicherung des Friedens durch Herrschaft des Rechts und erstrebe vielmehr eine Friedenssicherung durch deutsche Gewaltherrschaft.“ Damit „wird die Notwendigkeit, den Krieg bis zur Niederringung Deutschlands fortzuführen, begründet [].“ Deshalb (heißt es am Schluß) „ist es notwendig, Klarheit zu schaffen und vor aller Welt festzustellen, daß das deutsche Volk in seiner gewaltigen Mehrheit nichts Besseres will als einen seine Lebensinteressen sichernden, auf Recht und Billigkeit begründeten und durch Herrschaft des Rechtes gesicherten Frieden.“

Die Eingabe trug nicht weniger als 170 Unterschriften.

Quelle: Ludwig Quidde, Der deutsche Pazifismus während des Weltkrieges 1914–1918. Karl Holl, Hrsg., Boppard am Rhein, 1979, S. 114–15.