Quelle
Das Gymnasium der Stadt 'humanistisch' zu nennen, mußte auf
einem Mißverständnis beruhen, sofern man darunter die Erziehung zum
freien, unabhängigen Denken und zu einer allgemeinen Bildung versteht.
Das 'Humanistische' war mehr oder weniger der Unterricht in lateinischer
und griechischer Grammatik. Von dem Geist dieser Sprachen, von der
Sprache als Ausdruck einer Geisteshaltung, von ihrer Logik und ihrer
poetischen Kraft und Schönheit verspürten wir keinen Hauch. So waren
Ovid, Vergil, Cicero, Homer nichts als lästige Schullektüre, für den
nächsten Tag mühselig mit dem Wörterbuch vorzubereitende
Satzkonstruktionen, die seelenlos an uns vorüberzogen. Ganz schlimm
stand es um die modernen Sprachen. Die Lehrer, die sie zu lehren hatten,
waren unfähig, sie zu sprechen. Kaum daß einer der alten, verknöcherten
Herren Frankreich oder England gesehen hatte, geschweige denn die
französische oder englische Literatur kannte oder imstande war, uns ein
Bild unserer Nachbarländer zu vermitteln. Offenbar waren für die
entlegene Provinz Oberschlesien diese Lehrer-Karikaturen, die sich mit
der Abwicklung des vorgeschriebenen Pensums begnügten und danach zu
ihrem patriotischen Stammtisch eilten, gerade gut genug. Hätten wir,
eine kleine Gruppe, uns nicht selbst in natürlichem jugendlichem Drang
nach Wissen um die Erweiterung unseres Gesichtskreises gekümmert, wir
wären wie die Barbaren aufgewachsen. Gewiß gab es bessere Schulen in
Deutschland. Was wir vom Französischen Gymnasium in Berlin hörten, von
Gymnasien in Frankfurt, Breslau und manchen anderen Städten, erregte
unseren Neid und unsere Bewunderung. Aber ich fürchte, die Mehrzahl der
Kleinstadtschulen, insbesondere in den Ostprovinzen, glich mehr oder
weniger der unseren.
Hier blühte der Nationalismus. Das Haus Hohenzollern, Kaiser Wilhelm, die preußischen Prinzen und Generale waren die angebeteten Idealgestalten. Ihr Mangel an Geistesbildung, ihre Verachtung kultureller Werte, war fast ein Programm. […]
Für mich war es eine in sich abgeschlossene Welt. Mein
Elternhaus, mein Vater, der für seine Patienten lebte und Tag und Nacht
für sie da war - wie oft gellte die Nachtglocke durchs Haus, um ihn zu
Hilfe zu rufen, wie oft waren es nur ein paar Betrunkene, die sich die
Köpfe blutig geschlagen hatten, häufig eine Geburtshilfe weit draußen
auf dem Land –, meine Mutter, die mit unermüdlicher Liebe und Kraft für
alles sorgte, und meine Geschwister. Daneben die Schar der Freunde, die
fast täglich auf meiner 'Bude' zusammentraf, in Zigaretten- und
Zigarrenrauch gehüllt gemeinsam in der fremden Syntax sich verlor oder
mathematische Aufgaben für den nächsten Schultag löste, nicht zu
vergessen die Mädchen der höheren Töchterschule, die wir bei dem
täglichen Bummel auf der Hauptstraße mit unseren Frechheiten anödeten
oder in hoffnungsloser Liebe mieden. So gingen die frühen Jugendjahre
dahin, nur selten in ihrem sorglosen Ablauf durch Ferien im
Riesengebirge unterbrochen, Reisen, nicht weiter als bis Hirschberg oder
Glatz. Das Einkommen eines Arztes in dieser Gegend war nicht groß. Man
mußte sparen, wenn man seine Söhne später auf die Universität schicken
wollte. Es war ein bescheidenes Leben, ohne große Ansprüche an Kleidung
oder Ernährung. Eine Apfelsine, eine Banane oder gar eine Ananasfrucht
waren bereits ein Luxus, den man sich nur zu besonderen Gelegenheiten
leistete.
Der Umkreis unserer Welt war eng begrenzt. Breslau war in dieser
Zeit, da es für den gewöhnlichen Bürger noch kein Auto gab, ein ferner
Großstadt-Klang; ich habe es nach dem Ende des Ersten Weltkrieges zum
erstenmal gesehen. Berlin, Hamburg, Frankfurt, München schienen fast
unerreichbar, so weit, wie für uns heute Moskau oder Peking sein mögen –
oder sogar weiter entfernt. Fast nichts drang aus dieser Welt zu uns,
und wir interessierten uns auch kaum für sie. Daß in Berlin eine soziale
Umwälzung ihren Anfang genommen hatte, daß eine sozialdemokratische
Partei für allgemeines Stimmrecht und soziale Gleichberechtigung
kämpfte, daß eine moderne Literatur und ein kämpferisches Theater gegen
die verstaubte Ideologie der herrschenden Kreise Sturm liefen, um mit
jugendlichem Elan eine neue Welt der Freiheit und Humanität zu schaffen,
alles das drang nicht zu uns.
Quelle: Gottfried Bermann Fischer, Bedroht – Bewahrt. Der Weg eines Verlegers. 2. Auflage. Frankfurt am Main, 1967, S. 12f und 15f.
Abgedruckt in Jens Flemming, Klaus Saul und Peter-Christian Witt, Hg., Quellen zur Alltagsgeschichte der Deutschen 1871-1914. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft, 1977, S. 191-92.