Quelle
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Eines aber mag auch dem Juristen verstattet sein: der
Hinweis auf die ethische Bedeutung, die dem Gedanken der realen Einheit
der Gemeinschaft zukommt. Nur aus diesem Gedanken entspringt die
Vorstellung, dass die Gemeinschaft etwas an sich Wertvolles ist. Und nur
aus dem höheren Wert des Ganzen gegenüber dem Teil lässt sich die
sittliche Pflicht des Menschen begründen, für das Ganze zu leben und,
wenn es sein muss, zu sterben. Ist das Volk in Wirklichkeit nur die
Summe der jeweiligen einzelnen Volksgenossen und der Staat nur eine
Einrichtung zum Wohle der geborenen und noch ungeborenen Individuen,
dann mag der Einzelne gezwungen werden, Kraft und Leben für sie
einzusetzen. Allein eine sittliche Verpflichtung hierzu kann ihm nicht
auferlegt werden. Dann verblasst das Schimmer einer hohen sittlichen
Idee, der zu allen Zeiten den Tod für das Vaterland verklärt hat. Denn
warum soll der Einzelne sein Selbst für das Wohlergehen vieler anderer
Einzelner aufopfern, die doch nicht Anderes sind als er selbst? Für das
sittliche Verhalten von Individuum zu Individuum gilt das Gebot: Liebe
deinen Nächsten wie dich selbst! Auf dieses Gebot allein wollen extreme
Individualisten idealer Gesinnung, wie Tolstoi, das Leben der
menschlichen Gesellschaft gründen – und siehe da! sie zertrümmern den
Staat und predigen den Anarchismus. Die religiöse Ergänzung des Gebotes
der Nächstenliebe liegt in dem Gebot, Gott über alles zu lieben. Sie
erst baut das Reich Gottes auf, das nicht von dieser Welt ist. Auch für
die irdische Gemeinschaft aber heißt es hier: Liebe das Ganze mehr als
dich selbst! Und dies hat nur dann einen Sinn, wenn das Ganze ein
Höheres und Wertvolleres als die Summe der Individuen ist, wenn das
Gemeinwesen mehr als ein Mittel für die Zwecke der Einzelnen bedeutet
und wenn nicht für leere Namen lebt und stirbt, wer für die Ehre und das
Wohl, für die Freiheit und das Recht seines Volkes und Staates wirkt und
kämpft.
Quelle: Otto Gierke, Das Wesen der menschlichen Verbände. Rede bei Antritt des Rektorats, gehalten in der Aula der Königlichen Friedrich-Wilhelms-Universität, 15. Oktober 1902. Stiftung Deutsches Rundfunkarchiv