Kurzbeschreibung

Otto Gierke (1841–1921) war einer der führenden deutschen Rechtswissenschaftler und Rechtshistoriker des Deutschen Reiches, der an den Universitäten Breslau, Heidelberg und Berlin lehrte. Der Auszug, den Gierke in dieser Aufnahme vorliest, stammt aus seiner Rede vom 15. Oktober 1902, als er sein Amt als Rektor der Berliner Universität antrat. Die Rede mit dem Titel „Das Wesen der menschlichen Verbände” wurde im selben Jahr als Buch veröffentlicht. In seinem Text untersuchte Gierke die Natur sozialer Organisation sowohl aus rechtlicher als auch aus historischer Perspektive, ein Thema, das ihn während eines Großteils seiner Karriere beschäftigte. Während frühere Sozialvertragstheoretiker Individualismus und rationalistisch-naturrechtliche Theorie (basierend auf römischem Recht) betonten, hob Gierke die Bedeutung der Gemeinschaft (einschließlich Gruppen wie Zünften und Vereinen) hervor, die auf einer älteren Tradition der Sozialtheorie beruhte. Gierke behauptete, dass die (nationale) Gemeinschaft, für die der Einzelne im Ernstfall kämpfen und sterben sollte, daher mehr als nur eine leere Phrase sein müsse; dabei konnte er auf seine eigenen Erfahrungen zurückgreifen, da er in den Kriegen gegen Österreich (1866) und Frankreich (1870/71) gekämpft hatte, die zur Gründung des Deutschen Reiches führten. Gierke blieb sowohl vor als auch während und nach dem Ersten Weltkrieg ein überzeugter Nationalist.

Otto Gierke über das Verhältnis des Einzelnen zur Gemeinschaft (1902)

Quelle

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 Eines aber mag auch dem Juristen verstattet sein: der Hinweis auf die ethische Bedeutung, die dem Gedanken der realen Einheit der Gemeinschaft zukommt. Nur aus diesem Gedanken entspringt die Vorstellung, dass die Gemeinschaft etwas an sich Wertvolles ist. Und nur aus dem höheren Wert des Ganzen gegenüber dem Teil lässt sich die sittliche Pflicht des Menschen begründen, für das Ganze zu leben und, wenn es sein muss, zu sterben. Ist das Volk in Wirklichkeit nur die Summe der jeweiligen einzelnen Volksgenossen und der Staat nur eine Einrichtung zum Wohle der geborenen und noch ungeborenen Individuen, dann mag der Einzelne gezwungen werden, Kraft und Leben für sie einzusetzen. Allein eine sittliche Verpflichtung hierzu kann ihm nicht auferlegt werden. Dann verblasst das Schimmer einer hohen sittlichen Idee, der zu allen Zeiten den Tod für das Vaterland verklärt hat. Denn warum soll der Einzelne sein Selbst für das Wohlergehen vieler anderer Einzelner aufopfern, die doch nicht Anderes sind als er selbst? Für das sittliche Verhalten von Individuum zu Individuum gilt das Gebot: Liebe deinen Nächsten wie dich selbst! Auf dieses Gebot allein wollen extreme Individualisten idealer Gesinnung, wie Tolstoi, das Leben der menschlichen Gesellschaft gründen – und siehe da! sie zertrümmern den Staat und predigen den Anarchismus. Die religiöse Ergänzung des Gebotes der Nächstenliebe liegt in dem Gebot, Gott über alles zu lieben. Sie erst baut das Reich Gottes auf, das nicht von dieser Welt ist. Auch für die irdische Gemeinschaft aber heißt es hier: Liebe das Ganze mehr als dich selbst! Und dies hat nur dann einen Sinn, wenn das Ganze ein Höheres und Wertvolleres als die Summe der Individuen ist, wenn das Gemeinwesen mehr als ein Mittel für die Zwecke der Einzelnen bedeutet und wenn nicht für leere Namen lebt und stirbt, wer für die Ehre und das Wohl, für die Freiheit und das Recht seines Volkes und Staates wirkt und kämpft.

Quelle: Otto Gierke, Das Wesen der menschlichen Verbände. Rede bei Antritt des Rektorats, gehalten in der Aula der Königlichen Friedrich-Wilhelms-Universität, 15. Oktober 1902. Stiftung Deutsches Rundfunkarchiv

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