Kurzbeschreibung

Der heute wenig bekannte Dichter Richard Dehmel (1863–1920) galt in der Zeit vor dem Ersten Weltkrieg als einer der bedeutendsten deutschen Dichter. Der künstlerische Einfluss seiner Werke zeigte sich nicht nur in der Bewunderung der jüngeren Generation expressionistischer Schriftsteller und Künstler, sondern auch in den musikalischen Adaptionen seiner Gedichte durch namhafte Komponisten wie Arnold Schönberg, Richard Strauss und Jean Sibelius. Dehmels Sprache sowie seine offene Behandlung sexueller Themen waren jedoch für die damalige Zeit schockierend und wurden in der wilhelminischen Gesellschaft keineswegs allgemein akzeptiert. 1897 wurde Dehmel vor dem Preußischen Landgericht wegen Verletzung religiöser und moralischer Empfindungen angeklagt: In seinem Gedicht „Venus Consolatrix” verglich Dehmel die biblische Figur der Maria Magdalena mit Venus, der römischen Göttin der Liebe, Schönheit und Fruchtbarkeit. Das beanstandete Gedicht, das in seinem 1896 erschienenen Gedichtband „Weib und Welt“ veröffentlicht worden war, der ihm den literarischen Durchbruch bescherte, wurde zensiert und musste aus der zweiten Auflage des Bandes entfernt werden. Dieser literarische Skandal stärkte jedoch nur Dehmels Ruf als kompromissloser Künstler. Als 1914 der Krieg ausbrach, unterstützte Dehmel die Kriegsanstrengungen und diente bis zu seiner Verwundung im Jahr 1916 als Kriegsfreiwilliger. Er unterstützte die Kriegsanstrengungen auch weiterhin bis zum Waffenstillstand von 1918.

In seinen Vorkriegsgedichten beschäftigte sich Dehmel häufig mit sozialen Themen und schrieb mehrere Arbeitergedichte. Eines dieser Gedichte ist hier zu hören: Der Arbeitsmann war ebenfalls in seiner Sammlung Weib und Welt von 1896 enthalten. Das Satiremagazin Simplicissimus druckte es im selben Jahr mit einer Illustration von Hans Anetsberger nach. Die Klage des Arbeiters, dessen Familie zwar Arbeit und ein Dach über dem Kopf hat, aber neben Arbeit und Schlaf wenig Freizeit, fand bei der damaligen Arbeiterschaft großen Anklang. Die Verkürzung der Arbeitszeit, insbesondere in Industriebetrieben, war eine der Hauptforderungen der Arbeiterbewegung. In ihrem Erfurter Programm von 1891 forderte die SPD die Einführung des Achtstundentages, während der durchschnittliche Arbeitstag Ende des 19. Jahrhunderts 10 bis 12 Stunden betrug und in Fabriken sogar noch länger sein konnte. Einige Arbeitgeber kamen den Forderungen der Gewerkschaften nach kürzeren Arbeitstagen nach, doch der Achtstundentag wurde erst in der Weimarer Republik gesetzlich eingeführt. Dehmels Zeile „Wir wittern Gewitterwind, wir Volk“ spielt auf die Arbeiterbewegung an, die langfristig nicht nur eine Verkürzung der Arbeitszeit, sondern auch stärkere politische Mitbestimmung fordern würde. Diese Aufnahme, in der die Schauspielerin Lotte Lenya, die in der Weimarer Republik durch ihre Zusammenarbeit mit Bertolt Brecht und Kurt Weill berühmt wurde, das Gedicht vorträgt, stammt aus dem Jahr 1959.

Richard Dehmel, Der Arbeitsmann (1896 / Aufnahme: 1959)

Quelle

Der Arbeitsmann

Wir haben ein Bett, wir haben ein Kind,
mein Weib!
Wir haben auch Arbeit, und gar zu zweit,
und haben die Sonne und Regen und Wind,
und uns fehlt nur eine Kleinigkeit,
um so frei zu sein, wie die Vögel sind:
nur Zeit!
Wenn wir sonntags durch die Felder gehn,
mein Kind,
und über den Ähren weit und breit
das blaue Schwalbenvolk blitzen sehn,
oh, dann fehlt uns nicht das bißchen Kleid,
um so schön zu sein, wie die Vögel sind:
nur Zeit.
Nur Zeit! Wir wittern Gewitterwind,
wir Volk,
nur eine kleine Ewigkeit
uns fehlt ja nichts, mein Weib, mein Kind,
als all das, was durch uns gedeiht,
um so kühn zu sein, wie die Vögel sind —
nur Zeit!

Quelle: Richard Dehmel, Der Arbeitsmann, 1896. Aus: Invitation to German Poetry, hrsg. Gustave Mathieu und Guy Stern, rezitiert von Lotte Lenya. Dover, 1959. 

Internet Archive

Richard Dehmel, Der Arbeitsmann (1896 / Aufnahme: 1959), veröffentlicht in: German History in Documents and Images, <https://germanhistorydocs.org/de/das-wilhelminische-kaiserreich-und-der-erste-weltkrieg-1890-1918/ghdi:audio-5117> [26.09.2025].