Quelle
Sophus Lange, stud. phil., Kiel,
geb. 21. September 1893 in
Flensburg,
gef. 6. September 1916 bei Estrées.
18. August 1914.
Wie hat man bis jetzt gelebt? Selbst ein Buch von unmittelbarer, eindringlicher Wirkung bereitete erst dann den rechten Genuß, wenn man wußte, daß nicht nur im Zimmer, sondern in der ganzen Wohnung Harmonie herrschte; beim Kaffee blätterte man in Hebbels Tagebüchern, und in an und für sich belanglosen Stunden, wie etwa Privatunterricht, bereicherte man sich durch einen Strauß Rosen, den man vor sich auf den Tisch stellte und stets anschauen konnte.
Das jetzt hereingebrochene „neue Leben“ bezeichnet von all dem das Gegenteil. Und doch fühle ich mich hier nicht unglücklich, nein, sogar riesig glücklich. Das „Zu-den-Fahnen-Strömen“ gerade der Gebildeten beruht sicherlich nicht nur auf der Liebe zum Deutschtum — in all dieser Robustheit und in all diesem Strohsack-Leben ist gründliche Reaktion auf jede Verfeinerung. Man sehnt sich nach dem Bewußtsein, neben tüchtigem Geist und empfänglicher Seele auch Muskeln, Sehnen und Nerven zu besitzen. Man springt hinein in den bunten Rock wie in ein erfrischendes Bad.
So kommt es, daß ich mich ärgere, wenn ich im Schatten und nicht in der heißen Sonne exerzieren muß, wenn man uns den Dienst leicht macht; so kommt es, daß ich mich nach 20 Kilometern sehne, wenn wir 10 Kilometer marschieren. Ich fühle mich ungeheuer wohl in meinem Soldatenkittel. Viel zu meinem Wohlbefinden trägt der Umstand bei, daß von den 600 Mitgliedern unseres Bataillons mindestens 450 Einjährige und davon gegen 300 Studenten sind. Danach richtet sich die Behandlung, die tatsächlich höflich und väterlich zu nennen ist; man verschont uns mit jedem Drill, jeder Pedanterie und jedem Schnauzen.
Schützengraben bei Moulin, 6. Januar 1915.
Jetzt bin ich ganz Soldat. Nur die Geistigkeit laß ich in meinem augenblicklichen Dasein zu, die unmmitelbar mein Muskelleben vertieft und erklärt. Ich kann nicht anders, ich will momentan nur „Soldat“ sein, dies Wort durch meine geistige Tätigkeit von allen Seiten beleuchten und erleuchten und ausleben bis zum letzten Farbton. Danach soll sich auch meine Lektüre richten. Obgleich ich weiß, daß Kant und Goethe und Dürer und Luther, daß all dies viel schöner ist als mein jetziges Leben, obgleich ich mit ungeheuer Freude später dahin zurückkehren werde — sollte es mir vergönnt sein, überhaupt zurückzukehren —, will ich doch von all dem und für sich nichts davon wissen. sondern nur, wenn es in irgendeinem Verhältnis zum „Soldaten“ steht. Schick mir deshalb aus der Reclam-Sammlung „Penthesilea“; denn darin steht die große Glut und der große Brand, der für diese meine Tage nötig ist; darin rennen so viele edle, mutige, schnaubende Pferde über das Gefilde. Schicke mir den „Prinzen von Homburg“; darin ist auch ein Teil meines Lebens verherrlicht: der preußische Drill, die geniale Maschinenmäßigkeit des preußischen „Soldaten“; schick mir den „Wallenstein“; darin ist Grey, Hindenburg, darin sind Marketender und sorglose Soldatengelage, darin sind große Haupt- und Staats-Aktionen; schick überhaupt viel Schiller, Goethe und Shakespeare, aber nicht den Faust und nicht den Hamlet; die kann ich ganz und gar nicht gebrauchen. Ich bin Soldat! Ich suche augenblicklich meinen größten Ruhm nicht darin, geistig originell und tief zu sein, sondern darin, buddeln zu können so lange und so viel wie einer, der sein Leben lang den Spaten in der Hand hatte, und darin, trotz aller Strapazen noch nicht einmal einen Schnupfen zu haben. Augenblicklich freue ich mich am meisten, wenn ich an einem besonders heißen und gefahrvollen Tag nicht bedrückt, sondern von erhöhtem Lebensgefühl und innerem Jubel durchpulst werde. Frisch und sorglos und — kurz, wie Detlev von Liliencron, ziehe ich durch Frankreich, oder vielmehr hocke ich in Frankreich. Das allein ist nämlich mein Schmerz. Ich möchte Reiter sein, nachts hoch zu Roß durch die Gegend patrouillieren, tags in Hast und Eile Meldungen tauschen von Ort zu Ort. Oder es müßte bald vorwärtsgehen: Sturm auf der ganzen Linie, vor an Paris!
Schützengraben bei Moulin, 24. April 1915.
Wir leiden beide gleich tief unter der gleichen Armut und Entbehrung: man gönnt uns nicht die Nuancen des Krieges, die wir uns wünschen; von der gewaltigen Maschinerie des Krieges hält man uns fern, Dich ganz, mich halb. Wir möchten große Hebel gezogen, schwere Kolben stampfen sehen, möchten Maschinisten erster Klasse sein, und ich bin nur einer zweiter Klasse, Du gar dritter oder vierter. Du könntest mir den Vorwurf unberechtigter Unzufriedenheit machen und könntest sagen, hier bei mir wäre die gewaltige Maschine gewaltig im Gange. Gewiß, die Maschine läuft hier wild und großartig, aber sie ist nur ein Teil des großen, ganzen Betriebs, und diesem Teil schaue ich nun über sechs Monate täglich und stündlich zu. Ich kenne ihn in seinen Einzelheiten so genau, daß ich fast alles, was ich an ihm sehe und höre, nicht mehr erlebe, sondern nur zur Kenntnis nehme. Mir ist hier das Feldsoldatentum allmählich ebenso alltäglich und grau geworden wie Dir das Garnisonsoldatentum.
Aber man wäre doch ein jämmerlicher Kerl, wenn man sich nicht endlich aus dem Mißmut und dem Gähnen herausreißen könnte, wenn man den äußerlichsten Objekten, der äußerlichsten Staffage erlaubte, einem die Lebensfreudigkeit zu zerstören in einer Zeit, wo allein schon der Gedanke, in dieser leben zu dürfen, jeden jauchzen lassen muß. Es gibt noch so unendlich viel zu verarbeiten, zu lernen und zu fühlen, um des großen Krieges würdig zu sein: Läßt man uns nicht genug Einblick eignen Auges in den Krieg, so kann uns doch keiner verwehren, eignen Auges hineinzuschauen in das Licht des Grals, um den der Krieg geführt wird. Verkehren wir mit Menschen, mehr noch, weil es leichter ist, mit Bücher und Bildern, allein unter dem Gesichtspunkt, das Deutschtum kennen und unbeschreiblich lieben zu lernen! Vergleichen wir die einzelnen Kulturen der miteinander ringenden Völker und forschen wir nach, ob „Deutsch“ tatsächlich das Wertvollste und vor allem von der Gottheit Gewollte auf der Welt ist — ach, bisher haben wir das doch mehr geglaubt als gewußt und gefühlt! Wir wollen kräftig lesen! — Das Milieu läßt es nicht zu? Das Milien soll es zulassen, zum Donnerwetter! Du mußt doch sicherlich der Herr bleiben können über die tückische Unwelt. Du kannst doch oft am Abend und am Sonntag eine kleine deutsche Stube aufsuchen. bei Deinen Großeltern oder gar zu Hause in einem Studiergiebel mit den Frühlingsbäumen davor. Und Du kannst Dir dann da so reiche und schöne Stunden auferbauen, daß die ganze graue Woche davon Zehrung hat. Du hast Bibliotheken da und Kunstläden und einen Tisch, wo Du Deine Bücher und Bilder dann ausbreiten kannst. Du kannst Dir Dürer und die Italiener holen und ihre Madonnen geruhsam vergleichen. Du kannst das „Snobsbuch“ von Thackeray, Daudets „Tartarin von Tarascon“ und Wilhelm Raabes Erzählungen nebeneinanderlegen und hast vor Dir Englisch, Französisch und Deutsch. Du kannst in vollen Zügen aus immer wieder gefüllten Pokalen das Deutsche schlürfen und so eine ungeheure Sehnsucht in Dir danach entfachen, nach dem Kriege Deinen Beruf allein darin zu finden, ein Verkündiger des Deutschtums zu sein.
Und bei Dir hat diese Tätigkeit auch den realen Zweck: Du weißt ziemlich bestimmt, daß Du nicht abgeknipst wirst. Du kannst doch nur Trost darin finden, all die Kräfte, die jetzt in Dir brachliegen müssen, weil man Dich in die Heimat verbannt, zehnmal kräftiger für das Deutschtum nachher im Frieden einzusetzen als ein Feldgrauer, um ihn in seinen Leistungen einzuholen. Ach, hätte ich auch Gelegenheit, so viel zu arbeiten und so gut, daß ich im Gewissen und Fühlen ein wahrhast begeisterter Deutscher werde. Denn nur das Wissen bringt das Gefühl. Aber was soll ich hier anfangen in meinem engen, niedrigen Unterstand, wo ich mit Maurerlehrlingen und anderen wenig verwandten, gutmütigen, aber herzlich wenig kultivierten Menschen so eng zusammenliege, daß wir uns gegenseitig den Schützengrabenstaub von den Kleidern scheuern. Ich kann hier nur dann und wann einen kleinen, hastigen Schluck aus den deutschen Quellen nehmen. Aber trotzdem will ich das Leben meistern, daß es leuchtend werde.
Bald ist der erste Mai! Denke an mich am ersten Mai. Nie ist der Mai so gefeiert worden wie dann von mir. Mit ihm soll der Mai meines Lebens beginnen, eines Lebens der Ganzheit, der Schönheit und Kraft! Nimm am ersten Mai, morgens, wenn der Tag erwacht, ein Glas Wein und trinke auf meine und Deine, auf unsere maienmächtige Zukunft. Ich werde es auch tun!
Quelle: Sophus Lange, in Philipp Witkop, Hrsg., Kriegsbriefe gefallener Studenten. München, 1928, S. 201–04.