Kurzbeschreibung

Jean Améry (geb. Hanns Chaim Mayer, 1912–1978) war ein österreichischer Schriftsteller und Sohn eines österreichischen jüdischen Vaters und einer katholischen Mutter. Nach dem „Anschluss“ im Jahr 1938 flohen Améry und seine jüdische Frau nach Frankreich und schließlich nach Belgien. In Belgien schloss sich Améry der Widerstandsbewegung an und wurde von den deutschen Behörden verhaftet, weil er regimekritische Flugblätter verteilt hatte. Nach seiner Verhaftung wurde Améry von den Behörden als „Jude“ kategorisiert und nach Auschwitz deportiert. Er überlebte mehrere Lager und wurde im April 1945 von der britischen Armee aus Bergen-Belsen befreit. Berühmt wurden Amérys Schriften aus der Nachkriegszeit über die Bedeutung des Holocaust-Überlebens, in denen er unter anderem über die Folter, die Gefangenschaft und den Tod während seiner Jahre in Auschwitz berichtete.

Der folgende Auszug stammt aus seinem zuerst 1966 erschienenen Buch Jenseits von Schuld und Sühne, in dem er die Folter als Kernstück des Dritten Reichs und seiner Tyrannei bezeichnet. Sein Werk versucht, das Unbeschreibliche zu beschreiben; für ihn ist die Sprache nicht in der Lage, die Erfahrung der Folter angemessen darzustellen. Während seiner gesamten Nachkriegskarriere setzte sich Améry unermüdlich dafür ein, dass die Erfahrung des Holocaust und dessen Aufarbeitung relevant bleiben. Er weigerte sich, den Holocaust zu einem weiteren Ereignis der Vergangenheit werden zu lassen. Jean Améry nahm sich 1978 das Leben, zwei Jahre nach der Veröffentlichung seines Buches Hand an sich legen.

Die Gewalterfahrung der Folter: Auszug aus Jean Améry, Jenseits von Schuld und Sühne (Rückblick, 1966)

Quelle

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Ich wurde im Juli 1943 von der Gestapo verhaftet. Flugzettel-Affäre. Die Gruppe, der ich angehörte, eine kleine deutschsprachige Organisation innerhalb der belgischen Widerstandsbewegung, bemühte sich um antinazistische Propaganda unter den Angehörigen der deutschen Besatzungsmacht. Wir stellten ziemlich primitives Agitationsmaterial her, von dem wir uns einbildeten, es könne die deutschen Soldaten vom grausamen Wahnwitz Hitlers und seines Krieges überzeugen. Heute weiß ich oder glaube zumindest, ich wisse, daß wir unser dürftiges Wort an taube Ohren richteten: Ich habe manchen Grund zur Annahme, daß die feldgrauen Soldaten, die unsere vervielfältigten Schriften vor ihren Kasernen fanden, sie stracks und hackenklappend ihren Vorgesetzten Weitergaben, die ihrerseits dann mit der gleichen dienstlichen Fixigkeit die Sicherheitsbehörden verständigten. So kamen diese letztgenannten uns denn auch ziemlich schnell auf die Spur und hoben uns aus. Auf einem der Flugblätter, die ich im Augenblick meiner Festnahme bei mir trug, stand ebenso bündig wie propagandistisch ungeschickt: „Tod den SS-Banditen und Gestapohenkern!“

Wer mit Schriftzeug solcher Art von den Männern in Ledermänteln mit vorgehaltenen Pistolen angehalten wurde, der konnte sich keinerlei Illusionen machen. Ich bereitete sie mir auch keinen Augenblick lang, denn ich fühlte mich – zu Unrecht, wie mir heute klar ist – weiß Gott als alter, abgebrühter Kenner des Systems, seiner Männer, seiner Methoden. []

Es ist nur wenig ausgesagt, wenn irgendein Ungeprügelter die ethisch-pathetische Feststellung trifft, daß mit dem ersten Schlag der Inhaftierte seine Menschenwürde verliere. Ich muß gestehen, daß ich nicht genau weiß, was das ist: die Menschenwürde. Der eine glaubt, sie zu verlieren, wenn er in Verhältnisse gerät, unter denen es ihm unmöglich wird, täglich ein Bad zu nehmen. Ein anderer meint, er gehe ihrer verlustig, wenn er vor einer Behörde eine andere als seine Muttersprache sprechen muß. Hier ist die Menschenwürde an einen bestimmten physischen Komfort gebunden, dort an freie Meinungsäußerung, in einem noch weiteren Fall vielleicht an die Zugänglichkeit gleichgeschlechtlicher erotischer Partner. Ich weiß also nicht, ob die Menschenwürde verliert, wer von Polizeileuten geprügelt wird. Doch bin ich sicher, daß er schon mit dem ersten Schlag, der auf ihn niedergeht, etwas einbüßt, was wir vielleicht vorläufig das Weltvertrauen nennen wollen. Weltvertrauen. Dazu gehört vielerlei: der irrationale und logisch nicht zu rechtfertigende Glaube an unverbrüchliche Kausalität etwa oder die gleichfalls blinde Überzeugung von der Gültigkeit des Induktionsschlusses. Wichtiger aber – und in unserem Zusammenhang allein relevant – ist als Element des Weltvertrauens die Gewißheit, daß der andere auf Grund von geschriebenen oder ungeschriebenen Sozialkontrakten mich schont, genauer gesagt, daß er meinen physischen und damit auch metaphysischen Bestand respektiert. Die Grenzen meines Körpers sind die Grenzen meines Ichs. Die Hautoberfläche schließt mich ab gegen die fremde Welt: auf ihr darf ich, wenn ich Vertrauen haben soll, nur zu spüren bekommen, was ich spüren will.

Mit dem ersten Schlag aber bricht dieses Weltvertrauen zusammen. Der andere, gegen den ich physisch in der Welt bin und mit dem ich nur solange sein kann, wie er meine Hautoberfläche als Grenze nicht tangiert, zwingt mir mit dem Schlag seine eigene Körperlichkeit auf. Er ist an mir und vernichtet mich damit. Es ist wie eine Vergewaltigung, ein Sexualakt ohne das Einverständnis des einen der beiden Partner. Freilich, sofern eine auch nur minimale Aussicht auf erfolgreiche Gegenwehr besteht, kommt ein Mechanismus in Bewegung, in dessen Verlauf ich die Grenzverletzung durch den anderen begradigen kann. Ich expandiere mich in der Notwehr meinerseits, objektiviere meine eigene Körperlichkeit, stelle das Vertrauen in meinen Weiterbestand wieder her. Der Sozialkontrakt hat dann einen anderen Text und andere Klauseln: Aug um Auge, Zahn um Zahn. Man kann auch danach sein Leben einrichten. Man kann es nicht, wo der andere den Zahn ausschlägt, das Auge in der Schwellung versenkt und man selbst den Gegenmenschen, zu dem der Mitmensch wurde, wehrlos an sich erleidet. Es wird schließlich die körperliche Überwältigung durch den anderen dann vollends ein existentieller Vernichtungsvollzug, wenn keine Hilfe zu erwarten ist.

Die Hilfserwartung, Hilfsgewißheit gehört ja in der Tat zu den Fundamentalerfahrungen des Menschen und wohl auch des Tieres, das haben der alte Krapotkin, der von der „gegenseitigen Hilfe in der Natur“ sprach, und der moderne Tierverhaltensforscher Lorenz recht überzeugend vorgetragen. Die Hilfserwartung ist ebenso ein psychisches Konstitutionselement wie der Kampf ums Dasein. Nur einen Augenblick, sagt die Mutter zu dem von Schmerzen stöhnenden Kind, es kommt gleich eine heiße Flasche, eine Schale Tee, man wird dich nicht so leiden lassen! Ich verschreibe Ihnen ein Medikament, versichert der Arzt, es wird Ihnen helfen. Selbst auf dem Schlachtfeld finden die Rotkreuzambulanzen ihren Weg zum Verletzten. In nahezu allen Lebenslagen wird die körperliche Versehrung zusammen mit der Hilfserwartung empfunden: jene erfährt Ausgleich durch diese. Mit dem ersten Schlag der Polizeifaust aber, gegen den es keine Wehr geben kann und den keine helfende Hand parieren wird, endigt ein Teil unseres Lebens und ist niemals wieder zu erwecken.

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Quelle: Jean Améry, Jenseits von Schuld und Sühne. Bewältigungsversuche eines Überwältigten. Neuausg. Stuttgart: Klett, 1977, S. 50–51; 55–57.

Die Gewalterfahrung der Folter: Auszug aus Jean Améry, Jenseits von Schuld und Sühne (Rückblick, 1966), veröffentlicht in: German History in Documents and Images, <https://germanhistorydocs.org/de/deutschland-nationalsozialismus-1933-1945/ghdi:document-5201> [01.10.2024].