Kurzbeschreibung

Die intensivste Phase der industriellen Judenvernichtung erstreckte sich von März 1942 bis Februar 1943. Die Ermordung von etwa zwei Drittel der Opfer in diesem Zeitraum bedeutete einen massiven logistischen Aufwand für das NS-Regime, wie der folgende sogenannte Korherr-Bericht veranschaulicht. Er wurde auf Veranlassung Himmlers im Frühjahr 1943 von Dr. Richard Korherr, dem Inspekteur für Statistik beim Reichsführer SS, erstellt. Adolf Eichmann, der als Leiter des Referats IVB4 beim Reichssicherheitshauptamt (RSHA) für die sogenannten „Evakuierungen“ der Juden Europas zuständig war, erklärte später vor Gericht, dass der Korherr-Bericht seine Arbeit ungemein erleichtert habe.

Korherr fand nach dem Krieg zunächst eine Anstellung im westdeutschen Finanzministerium, wurde jedoch 1961 entlassen, nachdem durch die Veröffentlichung des Buches „Die Endlösung“ von Gerald Reitlinger bekannt wurde, welche Bedeutung der Korherr-Bericht für die Konzipierung der „Endlösung“ spielte.

Der Inspekteur für Statistik beim Reichsführer SS

[Stempel:] Geheime Reichssache

Korherr-Bericht über die Vernichtungsstatistiken der Endlösung der Judenfrage (23. März 1943)

  • Richard Korherr

Quelle

DIE ENDLÖSUNG DER EUROPÄISCHEN JUDENFRAGE

Statistischer Bericht

Inhalt:

I. Vorbemerkung

II. Die Judenbilanz in Deutschland

III. Jüdische Volksschwäche

IV. Die Auswanderung der Juden aus Deutschland

V. Die Evakuierung der Juden

VI. Die Juden in den Ghettos

VII. Die Juden in den Konzentrationslagern

VIII. Juden in Justizvollzugsanstalten

IX. Der Arbeitseinsatz der Juden

X. Europäische Judenbilanz

[]

I. VORBEMERKUNG

Zur Aufstellung einer Bilanz über die Ergebnisse auf dem Wege zur Lösung der Judenfrage bedarf es der zahlenmäßigen Erfassung des Judentums und seiner Entwicklung. Die Widersprüche in den Zahlenangaben über das Judentum machen jedoch eine Vorbemerkung dahingehend nötig, daß Zahlen über das Judentum stets mit besonderem Vorbehalt aufzunehmen sind und ohne Kenntnis ihrer Quelle und Entstehung oft zu Fehlschlüssen führen. Die Fehlerquellen liegen vor allem im Wesen des Judentums und seiner historischen Entwicklung, in seiner tausendjährigen ruhelosen Wanderschaft, den zahllosen Aufnahmen und Austritten, den Angleichungsbestrebungen, der Vermischung mit den Wirtsvölkern, in dem Bemühen des Juden, sich unbemerkt der Erfassung zu entziehen, und schließlich in falschen oder falsch ausgelegten Statistiken über das Judentum.

Darüber hinaus hat die Statistik – teils als statistischen Notbehelf, teils wegen der weitgehenden Übereinstimmung zwischen jüdischem Glauben und jüdischer Rasse, teils in Unkenntnis des Rassegedankens, teils im religiösen Denken der jeweiligen Zeit befangen – bis zuletzt die Juden fast nie nach ihrer Rasse, sondern nach ihrem religiösen Bekenntnis erfaßt. Die Erfassung der Rasse setzt eine vieljährige Schulung und auch Ahnenforschung voraus. Auch gestaltete sie sich schwierig, vor allem in südlichen und östlichen Ländern, weil trotz aller Übereinstimmung eine einheitliche jüdische Rasse sich statistisch schwer abgrenzen ließ. Das Bekenntnis zum mosaischen oder israelitischen Glauben ist wieder kein vollgültiges Beweismittel, weil es infolge der einstigen jüdischen Missionsbewegung mit ihrer Aufnahme von Massen von Heiden und Christen, auch durch die Übertritte zum Judentum in neuer Zeit durch Mischehen und „Bekehrung“ nicht wenige Glaubensjuden nichtjüdischer Rasse gibt, während umgekehrt das Zwangschristentum und die im letzten Jahrhundert wieder stark angestiegene Zahl der getauften Juden und daneben der Gemeinschaftslosen mit jüdischer Rasse die Judenzahl drückten. So schätzte Leroy-Beaulieu 1893 den Verlust des Judentums durch das Christentum auf das Vier- bis Zehnfache seiner heutigen Anhänger, nach Maurice Fishberg und Mathias Mieses ist das Dreifache der heutigen Judenzahl im arischen Europa aufgegangen. Sogar Hans Günther schätzt die Zahl der Juden in Deutschland auf das Doppelte der Zahl der Juden mosaischen Glaubens, die deutsche Staatsangehörige sind. Schließlich geht der litauische Jude Brutzkus so weit, die Berliner Juden nach ihrer Blutzusammensetzung als reinere Europäer zu bezeichnen als die Deutschen in Berlin.

Entsprechend diesen Meinungen hat man die Anteile der Rassejuden samt Mischlingen in Europa vielfach dreimal so hoch als die der Glaubensjuden angenommen (in Osteuropa zweimal, in Mitteleuropa viermal, im übrigen Europa gar achtmal so hoch) und mit etwa 6 vH mehr oder weniger jüdischem Blut in der europäischen Bevölkerung gerechnet. Demgegenüber führte Burgdörfer die Judenzahlen für das Deutschland von 1933 auf 850 000 Voll-, Halb- und Vierteljuden (bei 502 799 Glaubensjuden) in seinen Schätzungen zurück, für Österreich von 1934 auf 300-400 00 (bei 191 481 Glaubensjuden). Die Erhebung der Rassejuden bei der deutschen Volkszählung von 1939 hat bei 307 614 Glaubensjuden nur die etwas höhere Zahl von 330 892 Volljuden, 72 738 Halbjuden und 42 811 Vierteljuden ergeben, die vor allem bezüglich der Halb- und Vierteljuden keinesfalls als zuverlässig angesehen werden kann. Die gewonnenen Zahlen lassen sich nur als Mindestzahlen werten. Sie kamen durch die in einer „Ergänzungskarte“ zur Haushaltungsliste der Volkszählung 1939 enthaltene Frage „War oder ist einer der 4 Großelternteile Volljude?“ zustande, die für jeden Großelternteil mit „ja“ oder mit „nein“ zu beantworten war. Da diese Ergänzungskarte in verschlossenem Umschlag abzugeben und darum der Kontrolle am Ort entzogen war, wurde sie schlecht ausgefüllt. Vielfach wurden statt einer Antwort nur Striche in die entsprechenden Fächer gemacht.

Der erste amtliche Versuch, die Juden nach ihrer Rasse zu erfassen, wurde von den Juden sofort sabotiert. Er geschah bei der österreichischen Volkszählung vom 7. März 1923. Vizekanzler Dr. Frank (Großdeutsche Volkspartei) unterzeichnete kurz vor der Zählung eine Verordnung, wonach zur Frage 7 des Zählblattes (Sprache) „auch die Volkszugehörigkeit und Rasse anzugeben“ waren. Da die Zählblätter bereits gedruckt waren, wurde darauf nur in einem roten Merkzettel ohne Erläuterung, Anleitung und Musterbeispiele hingewiesen. Die österreichischen Juden sabotierten diese Frage dadurch, dass die jüdisch-marxistische Presse unmittelbar vor dem Zählungstag ihre Leser aufforderte, die Frage nach der Rasse mit „weiß“ zu beantworten. Das Ergebnis war, daß daraufhin die „weiße Rasse in Österreich etwa so weit verbreitet war, wie die Einflußspähre der jüdisch-marxistischen Presse und Parteien reichte“. Nur in Kärnten und im Burgenland wurde die Aufbereitung des Materials mit recht zweifelhaftem Erfolg durchgeführt, in den anderen Bundesländern und vor allem in Wien aber als zwecklos eingestellt.

II. DIE JUDENBILANZ IN DEUTSCHLAND

Die folgenden Angaben über die Zahl und Entwicklung der Juden in Deutschland fußen auf den amtlichen Zahlen der Volkszählungen und sonstigen Erhebungen des Reiches und auf den Berechnungen und Schätzungen der Wissenschaft, sind aber in der Hauptsache von der Reichsvereinigung der Juden in Deutschland und von den Kultusgemeinden in Wien und Prag erstellt, die mit Zählungen, Zählkarten für die Bevölkerungsbewegung, Fortschreibung und daneben mit Berechnungen und Schätzungen arbeiten. Diese jüdischen Dienststellen arbeiten unter der Kontrolle des Reichssicherheitshauptamtes und für dessen Zwecke. Vom fraglichen Anfangsbestand der Juden abgesehen scheint die Reichsvereinigung der Juden in Deutschland zuverlässig zu arbeiten. Aufgrund der an dieser Stelle gefertigten und vom Reichssicherheitshauptamt bislang überprüften Statistiken kann folgende Bilanz über die Entwicklung des Judentums in Deutschland von der Machtergreifung (30.1.1933) im Altreich, März 1938 in Österreich, März 1939 im Protektorat Böhmen Mähren) bis zum 1.1.1943 gezogen werden:

1. Judenbilanz des Altreichs mit Sudetengau und Danzig

Zahl der Juden im Altreich (ohne Sudetengau und Danzig) am 30.1.1933 rund 561 000

Abgang vom 30.1.33 bis 1.1.43 durch

Sterbeüberschuß (im Altreich)

- 61 193

Auswanderungsüberschuß

- 352 534

Abwanderung (Evakuierung)

- 100 516

- 514 243

Zugang vom 30.1.33 bis 1.1.43 durch Eingliederung des Sudetenlandes

+ 2 649[1]

sonstige Veränderungen (Danzig, Zuzug, Wegzug, genehmigte Austritte, Anerkennung als Mischling I. Grades, Neuerfassung,

Karteibereinigung)

+ 1 921

+ 4 570

Zahl der Juden im Altreich (mit Sudetengau und Danzig) am 1.1.1943

51 327

2. Judenbilanz der Ostmark

Zahl der Juden in der Ostmark am 1.3.1938 rund 220 000

Abgang vom 1.3.38 bis 1.1.43 durch

Sterbeüberschuß

- 14 509

Auswanderungsüberschuß

- 149 124

Abwanderung (Evakuierung)

- 47 555

sonst. Veränderungen

- 710

- 211 898

Zahl der Juden in der Ostmark am 1.1.1943

8 102

3. Judenbilanz des Protektorats Böhmen-Mähren

Zahl der Juden im Protektorat am 15.3.1939

118 310

Abgang vom 15.3.39 bis 1.1.43 durch

Sterbeüberschuß

- 7 074

Auswanderungsüberschuß

- 26 009

Abwanderung (Evakuierung)

- 69 677

- 102 760

Zahl der Juden im Protektorat am 1.1.1943

15 550

In der Bilanz sind die neuerworbenen Ostgebiete (mit Ausnahme von Danzig) nicht enthalten. Ihre Bilanz kann noch nicht erstellt werden. Doch gibt es über die Juden in diesen Gebieten zur Zeit der Übernahme ins Reich verschiedene Schätzungen, die auf eine Zahl von etwa 630 000 hinführen dürften. Dazu kommen etwa 160 000 Juden im Bezirk Białystok und rund 1,3 Millionen Juden im Generalgouvernement zur Zeit seiner Errichtung[2]. Das würde zusammen im gesamtdeutschen Raum (ohne die besetzten Ostgebiete) Ende 1939 eine Gesamtzahl der Juden von etwa 2,5 Millionen ergeben[3], deren weitaus größter Teil auf den neuen Osten entfällt.

Am 1.1.1943 zählt das Reich ohne die neuen Ostgebiete, ohne das Altersghetto Theresienstadt und ohne den Arbeitseinsatz im Rahmen der Organisation Schmelt nur mehr 74 979 Juden, davon 51 327 im Altreich, 8 102 in der Ostmark und 15 550 im Protektorat. Im Altreich mit Sudetenland sind nur mehr 9,2 vH der Zahl der Juden vom Tag der Machtübernahme vorhanden. Am 30.1.1943 beträgt ihre Zahl nur mehr 48 242 oder 8,6 vH, am 28.2.1943 gar nur mehr 44 589 oder 7,9 vH. Berlin, wo schon 1880 ein Achtel, 1910 über ein Viertel, 1933 fast ein Drittel der Juden Deutschlands wohnten, zählt am 1.1.1943 nicht weniger als 32 999 oder 64,3 vH der gesamten Juden des Altreichs, am 30.1.1943 noch 30 121, am 28.2.1943 noch 27 281. In der Ostmark weist nur mehr Wien überhaupt noch Juden auf.

Von den 51 327 Juden des Altreichs sind 23 197 Männer und 28 130 Frauen. 40 351 sind Glaubensjuden, 10 976 sind Nichtglaubensjuden. 16 760 leben in Mischehe, in der Ostmark

4 803 (von 8 102), im Protektorat 6 211 (von 15 550).

III. JÜDISCHE VOLKSSCHWÄCHE

Die Judenbilanz in Deutschland weist einen außerordentlichen Sterbeüberschuß auf, der nicht allein durch die sehr hohe Sterblichkeit der Juden bedingt ist, sondern mehr noch durch die ausgesprochene Geburtenarmut. So hat sich die natürliche Bevölkerungsbewegung im Altreich mit Sudetenland von 1933 bis 1942 folgendermaßen entwickelt (nach den Schätzungen und Unterlagen der Reichsvereinigung der Juden in Deutschland, da die Auszählungen nach Glaubensjuden viel komplizierter und unzuverlässiger sind):

Geburten und Sterbefälle der Juden im Altreich

(bis 1939 berechnet und geschätzt)

Jahre

Geburten

Sterbefälle

Sterbeüberschuß(-)

1933

3 425

8 925

- 5 500

1934

2 300

8 200

- 5 900

1935

2 500

8 100

- 5 600

1936

2 300

8 000

- 5 700

1937

2 100

8 000

- 5 900

1938

1 000

7 448

- 6 448

1939

610

8 136

- 7 526

1940

396

6 199

- 5 803

1941

351

6 249

- 5 898

1942

239

7 657

- 7 418

1933-1942

15 221

76 914

- 61 693

Vom Tag der Machtergreifung (30.1.1933) bis 1.1.1943 beträgt der Sterbeüberschuß der Juden im Altreich mit Sudetenland 61 693; er stellt das Ergebnis aus 14 921 [sic: eigentlich 15 221] Geburten und 76 114 [sic: 76 914] Sterbefällen dar. Die Wanderungen einesteils, die in den ersten Jahren fehlende und seitdem mangelhafte Erfassung vor allem der Sterbefälle in den Konzentrationslagern durch die Reichsvereinigung der Juden andernteils geben hier zwar für viele Fehlerquellen Raum, doch läßt auch der ungefähre Überblick die trotz des Rückgangs der Judenzahl etwa gleichbleibende Höhe der Sterbefälle erkennen. Die jüdische Sterblichkeit würde demnach 80-85 (gegen 10 bis 15 im europäischen Durchschnitt) auf 1 000 betragen (im Jahre 1942).

Darüber hinaus fällt der Rückgang der Geburten auf, der dem Rückgang der Judenzahl weit vorauseilt. Die Geburtenziffer der Juden im Altreich würde danach im Jahre 1942 nur mehr rund 2 1/2 auf 1 000 betragen. Ähnlich treffen in der Ostmark vom 1.3.1938 bis 1.1.1943 auf 15 188 jüdische Sterbefälle nur 679 jüdische Geburten. Im Altreich wurden schließlich im Dezember 1942 nur mehr 14, im Januar und Februar 1943 nur mehr 7 bzw. 8 jüdische Kinder geboren. Es ist dabei zu berücksichtigen, daß das Judentum schon seit Jahrzehnten in den zivilisierten abendländischen Staaten in der Kinderarmut voranging, wie sich an Hand der konfessionellen Geburtenstatistik ergab. Der Jude Felix Theilhaber hat schon 1911 auf den daraus folgenden „Untergang der deutschen Juden“ hingewiesen, der nur durch den dauernden Zustrom ostjüdischen Blutes verdeckt wurde. Nur zum Teil hing diese Erscheinung mit der Überalterung des europäischen Großstadt-Judentums zusammen: In der Hauptsache handelte es sich um wirkliche Lebensschwäche.

Bei der heutigen außerordentlichen Sterblichkeit der Juden und ihrem Geburtentiefstand muß jedoch der äußerst ungünstige Altersaufbau der Juden mitberücksichtigt werden. Die Juden in Deutschland setzen sich nach der Abwanderung ihrer besten Jahrgänge größtenteils aus alten Leuten zusammen, sodaß ihr Altersaufbau bei graphischer Darstellung in Gestalt der Alterspyramide nach dem Stichwort der Reichsvereinigung der Juden der Form einer „Keule“ gleicht, was objektiv zutrifft. Es mangeln die Kinder und die zeugungsfähigen Jahrgänge, während die Jahrgänge der alten Leute nicht nur verhältnismäßig zu stark sind, sondern auch rein zahlenmäßig viel stärker sind als die jüngeren Jahrgänge. Daraus entspringt auch z.T. die stark überhöhte Selbstmordziffer der Juden, da der Selbstmord überwiegend eine Todesart der alten Leute ist.

IV. DIE AUSWANDERUNG DER JUDEN AUS DEUTSCHLAND

Die Wanderung der Juden aus Ost- nach Mittel- und Westeuropa und aus ganz Europa nach Übersee und hier wieder in erster Linie nach den Vereinigten Staaten von Nordamerika ist eine seit Jahrzehnten allgemein beobachtete Erscheinung. Aus Deutschland wanderten vor allem von 1840-1870 sehr viele Juden aus, doch nach 1870 hörte ihre Auswanderung fast völlig auf. Dafür wanderten nun die Deutschen aus. Die jüdische Auswanderung aus Deutschland seit 1933, gewissermaßen ein Nachholen der 1870 unterbliebenen Bewegung, erregte die besondere Aufmerksamkeit der gesamten zivilisierten Welt, besonders der jüdisch regierten demokratischen Länder. Die Zahl und Struktur der Auswanderer wurde von verschiedensten Seiten und mit verschiedensten Methoden zu erfassen versucht. Doch gelangte man zu keinen einheitlichen Ergebnissen. Die Zahlen der deutschen Auswanderungsstatistik, jene der Reichsvereinigung der Juden in Deutschland und der israelitischen Kultusgemeinden in Wien und Prag, die zahlreichen ausländischen Erfassungen, Berechnungen und Schätzungen, die Statistiken des internationalen Judentums und die Zahlen wissenschaftlicher Untersuchungen weichen sehr stark voneinander ab. So rechnete Prof. Zielenziger-Amsterdam mit einer Zahl von 135 000 Auswanderern von der Machtergreifung bis Ende 1937, die Reichsvereinigung der Juden mit 203 000 Auswanderern. Seit 1938 ist die Auswanderung noch beträchtlich angestiegen, endete aber fast restlos (bis auf einige wenige Ausnahmefälle je Monat) durch das Verbot der jüdischen Auswanderung im Herbst 1941. Die Reichsvereinigung der Juden und die israelitischen Kultusgemeinden in Wien und Prag kamen bis 1.1.1943 zu folgenden hohen Auswanderungszahlen (einschl. Doppelzählungen):

Auswanderer aus

Zahl

Zeitraum

Altreich mit Sudetenland

352 534

(30.1.33 – 1.1.43)

Ostmark

149 124

(1.3.38 – 1.1.43)

Protektorat

26 009

(15.2.39 – 1.1.43)

Die anfangs überstürzte Auswanderung machte genaue Angaben überhaupt unmöglich. Ebenso dürfte das angegebene Auswanderungsziel, soweit es sich um europäische Länder handelt, vielfach nur als Zwischenstation zu betrachten sein. Von den Auswanderern aus dem Altreich gingen rund 144 000 nach anderen europäischen Ländern, rund 57 000 nach USA,

54 000 nach Südamerika, 10 000 nach Mittelamerika, 53 000 nach Palästina, 15 000 nach Afrika (vor allem Südafrika), 16 000 nach Asien (China), 4 000 nach Australien. Von den

144 000 nach europäischen Ländern ausgewanderten Juden gingen allein über 32 000 nach England, 39 000 nach Polen bzw. ins Generalgouvernement, 18 000 nach Frankreich, 8 000 nach Italien, 7 500 nach den Niederlanden, 6 000 nach Belgien. Es ist anzunehmen, daß der größte Teil dieser Auswanderer von diesen Ländern nach Übersee weitergezogen ist. Für die jüdischen Auswanderer aus der Ostmark werden folgende Ziele angegeben: 65 500 nach europäischen Ländern, 50 000 nach Amerika, 20 000 nach Asien, 9 000 nach Palästina, 2 600 nach Afrika, 2 000 nach Australien.

V. DIE EVAKUIERUNG DER JUDEN

Die Evakuierung der Juden löste, wenigstens im Reichsgebiet, die Auswanderung der Juden ab. Sie wurde seit dem Verbot der jüdischen Auswanderung ab Herbst 1941 in großem Stile vorbereitet und im Jahre 1942 im gesamten Reichsgebiet weitgehend durchgeführt. In der Bilanz des Judentums erscheint sie als "Abwanderung".

Bis 1.1.1943 wanderten nach den Zusammenstellungen des Reichssicherheitshauptamtes ab:

aus dem Altreich mit Sudetenland

100 516 Juden

aus der Ostmark

47 555 "

aus dem Protektorat

69 677 "

Zusammen

217 748 Juden

In diesen Zahlen sind auch die ins Altersghetto Theresienstadt evakuierten Juden enthalten.

Die gesamten Evakuierungen ergaben im Reichsgebiet einschl. Ostgebieten und darüber hinaus im deutschen Macht- und Einflußbereich in Europa von Oktober 1939 oder später bis zum 31.12.1942 folgende Zahlen:

1. Evakuierung von Juden aus Baden und der Pfalz nach Frankreich

6 504 Juden

2. Evakuierung von Juden aus dem Reichsgebiet einschl. Protektorat und Bezirk Bialystok nach Osten . . . . . . . . . .

170 642 Juden

3. Evakuierung von Juden aus dem Reichsgebiet und dem Protektorat nach Theresienstadt . . . . . . . . . .

87 193 Juden

4. Transportierung von Juden aus den Ostprovinzen nach dem russischen Osten . . . . . . . . . .

1 449 692 Juden

Es wurden durchgeschleust durch die Lager im

Generalgouvernement . . . . . . . . . .

1 274 166 Juden

durch die Lager im Warthegau . . . . . . . . . .

145 301 Juden

5. Evakuierung aus anderen Ländern, nämlich:

10.11.1942 (besetzt) . . . . . . . . . .

41 911 Juden

Niederlande . . . . . . . . .

38 571 Juden

Belgien . . . . . . . . . .

16 886 Juden

Norwegen . . . . . . . . . .

532 Juden

Slowakei . . . . . . . . . .

56 691 Juden

Kroatien . . . . . . . . . .

4 927 Juden

Evakuierungen insgesamt (einschl. Theresienstadt und einschl. Sonderbehandlung) . . . . . . . . . .

1 873 549 Juden

ohne Theresienstadt. . . . . . . . . . .

1 786 356 Juden

6. Dazu kommt noch nach den Angaben des

Reichssicherheitshauptamtes die Evakuierung von . . . . . . 633 300 Juden

in den russischen Gebieten einschl. der früheren baltischen

Länder seit Beginn des Ostfeldzuges.

In den obigen Zahlen sind nicht enthalten die Insassen der Ghettos und der Konzentrationslager. Die Evakuierungen aus der Slowakei und aus Kroatien wurden von diesen Staaten selbst in Angriff genommen.

VI. DIE JUDEN IN DEN GHETTOS

Es sind hier zu nennen:

1. Das Altersghetto Theresienstadt, dem insgesamt zugeführt wurden:

87 193 Juden,

davon aus dem Reichsgebiet

47 471 (Ostmark 14 222)

" " " Protektorat

39 722.

Es zählt zu Beginn des Jahres 1943 insgesamt an jüdischen Insassen:

49 392

davon mit deutsch. Staatsangehörigk.

24 313

Protektoratsangehörigkeit

25 079.

Die Verminderung trat vor allem durch Sterbefälle ein. Außer Theresienstadt gibt es im Reichsgebiet eine Anzahl von jüdischen Alters- und Siechenheimen mit kleinerem Fassungsvermögen, die aber weder als Ghettos noch als Evakuierungsorte angesehen werden.

2. Das Ghetto Litzmannstadt zählt Anfang 1943, 87 180 Juden, davon 83 133 mit ehem. polnischer Staatsangehörigkeit.

3. Die überwiegend in Rest-Ghettos untergebrachten Juden des Generalgouvernements werden für 31.12.1942 folgendermaßen angegeben bzw. geschätzt:

im Distrikt

Zahl der Juden

Krakau

37 000

Radom

29 400

Lublin

20 000 (geschätzt)

Warschau

50 000

Lemberg

Generalgouv. rus

161 514

297 914

VII. DIE JUDEN IN DEN KONZENTRATIONSLAGERN

In den Konzentrationslagern erfolgten von der Machtergreifung bis zum 31.12.1942

73 417 Einlieferungen von Juden

davon

wurden entlassen

36 943

sind durch Tod abgegangen

27 347

Restbestand vom 31.12.42:

9 127 Juden

Es ist hier zu beachten, daß die Zahl der Einlieferungen von Juden größer sein wird als die Zahl der in die Konzentrationslager eingelieferten Juden, da wiederholte Einlieferungen eines Juden wiederholt zählen.

Nicht enthalten sind die im Zuge der Evakuierungsaktion in den Konzentrationslagern Auschwitz und Lublin untergebrachten Juden.

Nach Konzentrationslagern ergeben sich, untergeteilt nach Einlieferungen, Entlassungen, Todesfällen und dem Bestand vom 31.12.1942, folgende Zahlen:

Juden in den Konzentrationslagern

Konzentrationslager

Einlieferungen

Entlassungen

Todesfälle

Bestand vom 31.12.1942

Lublin/Männer

23 409

4 509

14 217

4 683

Lublin/Frauen

2 849

59

131

2 659

Auschwitz/Männer

4 917

1

3 716

1 200

Auschwitz/Frauen

932

-

720

212

Buchenwald

16 827

13 805

2 795

227

Mauthausen/Gusen

2 064

-

1 985

79

Sachsenhausen

7 960

6 570

1 344

46

Stutthof/Männer

28

-

13

15

Stutthof/Frauen

3

-

-

3

Ravensbrück/Frauen

1 321

531

787

3

Ravensbrück/Männer

273

44

229

-

Dachau

12 026

11 140

886

-

Groß-Rosen

231

-

231

-

Lichtenburg

195

195

-

-

Neuengamme

192

2

190

-

Floßenbürg

80

2

78

-

Sachsenburg

52

52

-

-

Esterwegen

36

33

3

-

Niederhagen

12

-

12

-

Natzweiler

10

-

10

-

K L zusammen

73 417

36 943

27 347

9 127


VIII. JUDEN IN JUSTIZVOLLZUGSANSTALTEN

Zu Beginn des Jahres 1943 saßen in Justizvollzugsanstalten des Reichsgebietes 458 Juden ein, die sich auf Männer und Frauen und auf Arten des Strafvollzugs folgendermaßen verteilen:

Männer

Frauen

Zusammen

Strafhaft

350

78

428

Sicherungsverwahrung

29

-

29

Arbeitshaus

-

1

1

Justizvollzugsanstalten

insgesamt

379

79

458

IX. DER ARBEITSEINSATZ DER JUDEN

In kriegswichtigem Arbeitseinsatz waren zu Beginn des Jahres 1943 im Reichsgebiet tätig

185 776 Juden.

Davon waren eingesetzt:

1) innerhalb der Inspekteur-Bereiche der Sicherheitspolizei und des SD (ohne Posen und ohne sowjetrussische Juden) 21 659, davon 18 546 mit deutscher Staatsangehörigkeit, 107 mit Protektoratsangehörigkeit, 2 519 Staatenlose und 487 Ausländer. Sie verteilten sich nach Inspekteur-Bereichen (ohne Posen) folgendermaßen:

Berlin

15 100

Königsberg 1)

96

Braunschweig

110

München

313

Breslau 2)

2 451

Nürnberg

89

Danzig

-

Salzburg

7

Dresden

485

Stettin

18

Düsseldorf

673

Stuttgart

178

Hamburg

497

Wien

1 226

Kassel

259

Wiesbaden

139

1) ohne sowjetruss. Juden 2) ohne Organisation Schmelt

2) im Inspekteurbereich Königsberg außerdem 18 435 ausländische, d.h. fast ausschließlich sowjetrussische Juden.

3) im Inspekteur-Bereich Posten im Ghetto- und Lagereinsatz 95 112 hauptsächlich polnische Juden.

4) im Rahmen der Organisation Schmelt (Breslau) 50 570 Juden, davon 42 382 Staatenlose und 8 188 Ausländer.

X. EUROPÄISCHE JUDENBILANZ

Der Zusammenbruch des europäischen Judentums wurde schon vor Jahrzehnten durch den völkischen Verfall des europäischen Großstadt Judentums einesteils, durch die jüdische Auswanderung andernteils eingeleitet. Der jüdische Statistiker Lestschinsky hat den Rückgang des Judentums in Europa im Jahre 1927 folgendermaßen verdeutlicht: „Zu Anfang des 19. Jahrhunderts lebten in Europa 85% und allein in Rußland, Österreich-Ungarn und Deutschland 80% aller Juden; in Amerika gab es zu jener Zeit nur 2–3 000 Juden. Im Jahre 1925 waren 63% aller Juden in Europa ansässig, innerhalb der Grenzen Deutschlands, Österreich-Ungarns und Rußlands lebten nur noch 57% des Gesamtjudentums, in Amerika dagegen lebten 30%, in den übrigen Weltteilen 7%.“ Nach Berechnungen des Statistischen Reichsamts betrug der Judenanteil Europas im Jahre 1880 sogar 88,4 vH, im Jahre 1937 nur mehr 60,4 vH. 1943 dürfte der europäische Anteil noch 1/3 des Weltjudentums betragen.

Um 1930 und in den letzten Jahren betrug die Zahl der Juden in einigen wichtigeren Staaten Europas:

Neuere Zählung od. Schätzung

Stadt

Volks-zählungsjahr

Zahl der Juden

Jahr

Zahl der Juden in 1000

vH der Bevölkerung des Wirtsvolkes

Altreich

1933/35

502 799

1943

51

0,07

Österreich

1934

191 481

1943

8

0,1

Tschechoslow.

1930

356 830

-

-

-

- Protektorat

-

-

1943

16

0,2

Danzig

1929

10 448

-

-

-

Memelgebiet

1925

2 402

1937

3

2,0

Belgien

-

-

1937

80

1,0

Bulgarien

1934

48 398

1937

50

0,8

Finnland

-

-

1937

2

0,04

Frankreich

-

-

1937

280

0,7

Griechenland

1928

72 791

1937

90

1,1

Großbritann.

1931/33

234 000

1937

345

0,7

Italien

1930

47 825

1937

52

0,1

Irland

-

-

1936

4

0,1

Jugoslawien

1930

68 405

1937

75

0,3

Lettland

1935

93 479

1937

96

4,9

Litauen

1923

155 125

1937

175

7,4

Niederlande

1930

111 917

1937

135

1,6

Polen

1930

3 113 933

1937

3 300

9,6

Rumänien

1930

984,213

1941

302 (1)

2,2

Slowakei

-

-

1940

89

3,4

Sowjetrußl.

1926

2 570 330

1939

4 600 (2)

2,4

Ungarn

1930

444 567

1940

750 (3)

5,8

__________

(1) Neuer Gebietsstand.

(2) Neuer Gebietsstand, mit Ostpolen; die Zahl ist geschätzt.

(3) Neuer Gebietsstand; die Zahl ist berechnet.

Die Gesamtzahl der Juden auf der Erde schätzt man um das Jahr 1937 im allgemeinen auf rund 17 Millionen, wovon über 10 Millionen auf Europa entfallen. Sie häufen bzw. häuften sich in Europa vor allem in den von Deutschland besetzten früheren polnisch-russischen Gebieten zwischen Ostsee und Finnischem Meerbusen und dem Schwarzen und Asowschen Meer, daneben in den Handelsmittelpunkten und im Rheingebiet Mittel- und Westeuropas und an den Küsten des Mittelmeers.

Von 1937 bis Anfang 1943 dürfte die Zahl der Juden in Europa teils durch Auswanderung, teils durch den Sterbeüberschuß der Juden in Mittel- und Westeuropa, teils durch die Evakuierungen vor allem in den völkisch stärkeren Ostgebieten, die hier als Abgang gerechnet werden, um schätzungsweise 4 Millionen zurückgegangen sein. Dabei darf nicht übersehen werden, daß von den Todesfällen der sowjetrussischen Juden in den besetzten Ostgebieten nur ein Teil erfaßt wurde, während diejenigen im übrigen europäischen Rußland und an der Front überhaupt nicht enthalten sind. Dazu kommen uns unbekannte Wanderungsströme der Juden innerhalb Rußlands in den asiatischen Bereich hinüber. Auch der Wanderungsstrom der Juden aus den europäischen Ländern außerhalb des deutschen Einflusses ist eine weitgehend unbekannte Größe. Insgesamt dürfte das europäische Judentum seit 1933, also im ersten Jahrzehnt der nationalsozialistischen deutschen Machtentfaltung, bald die Hälfte seines Bestandes verloren haben.

Anmerkungen

[1] Diese Zahl von 2 649 Juden im Sudetenland wurde bei der Volkszählung 1939 festgestellt. Vor Eingliederung des Sudetenlands ins Reich betrug die Judenzahl rund 3 ... die aber sehr rasch ohne Überschreitung einer Staatsgrenze und ohne Vermögensverluste ins Protektorat ausströmten.
[2] Ohne Distrikt Lemberg mit rund 700 000 Juden.
[3] Ohne Distrikt Lemberg mit rund 700 000 Juden.

Quelle: U.S. National Archives and Records Administration, College Park, MD, Record Group 238, Entry 174, Box 90, NO-5194; abgedruckt in John Mendelsohn, Hrsg., The Holocaust: Selected Documents in Eighteen Volumes. Bd. 12, New York: Garland, 1982, S. 224–40.