Quelle
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Die ersten schweren Erschütterungen stellten sich mit den Rückschlägen der beiden letzten Kriegswinter in Russland ein. Damals tauchten zum ersten Mal Zweifel auf, ob die Führung die gewaltigen Probleme dieses Krieges noch ganz und gar zu übersehen vermöge und ob sie noch in der Lage sei, sie völlig zu meistern. Im Verlauf der Entwicklung dieses Jahres wurde noch häufiger die Frage aufgeworfen, ob die Führung wirklich „alles richtig gemacht“ habe, sowohl im Hinblick auf die militärischen Operationen wie auf die Maßnahmen in der Heimat.
Bei solchen Betrachtungen macht die Bevölkerung einen sehr deutlichen Unterschied zwischen dem Führer und den übrigen führenden Persönlichkeiten. Während verhältnismäßig häufiger ein Vertrauensschwund zu einzelnen führenden Persönlichkeiten oder Führungsstellen festgestellt werden kann, ist das Vertrauen zum Führer nahezu unerschüttert. Es ist zwar verschiedenen starken Belastungsproben ausgesetzt gewesen, vor allem nach dem Fall Stalingrads, doch zeigte sich im Verlauf der letzten Monate trotz der Rückschläge an allen Fronten eine zunehmende Festigung des Vertrauens zum Führer. Es erreichte in jüngster Zeit Höhepunkte bei der Befreiung Mussolinis und der Führerrede am Vorabend des 9. November. „Hier glaubte das deutsche Volk den Führer in seiner ganzen Größe wiederzuerkennen.“ Das Vertrauen zu ihm habe durch die schmerzlichen Krisen des 4. Kriegsjahres eine derartige Läuterung erfahren, daß es selbst durch ungünstige politische oder militärische Entwicklungen kaum noch zu erschüttern sei. Ausschließlich in der Person des Führers erblicke man vielfach die Garantie eines erfolgreichen Kriegsabschlusses. Die Vorstellung, daß dem Führer einmal etwas zustoßen könne, sei für die Volksgenossen unausdenkbar.
Während so der Führer als der einzige angesehen werde, der die schwierige Lage der Gegenwart und die Probleme der Zukunft meistern könne, werde der übrigen Führung des Reiches kein unbedingtes Vertrauen mehr entgegengebracht. Besonders das Nichteintreffen von Prophezeiungen und Versprechungen habe bei vielen Volksgenossen das Vertrauen zu dem Wort einzelner führender Männer stark beeinträchtigt:
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Ein stärkeres Absinken des Vertrauens sei vor allem gegenüber den öffentlichen Führungsmitteln festzustellen. Hier hätten die zeitweiligen Bemühungen, das wahre Bild ernster Lagen zu verschleiern oder bedrohliche militärische Entwicklungen zu bagatellisieren, z. B. „aus Rückzügen Erfolge zu machen“, oder „gestern als wertvoll bezeichnete Gebiete heute als nicht so bedeutungsvoll hinzustellen“, oder „Zeiten des Abwartens und Schweigen durch Verlegenheitsmeldungen über Vorgänge in Indien, über plutokratische Auswüchse in England oder Amerika auszufüllen“, das noch in den letzten Kriegsjahren vorhanden gewesene Vertrauen zur Presse und zum Rundfunk weitgehend untergraben.
In ihrer Neigung zu sachlicher Offenheit und ihrer Abneigung gegen Beschönigungsversuche habe die Bevölkerung deshalb allmählich begonnen, zwischen den Zeilen zu lesen und in der Beurteilung der Lage häufig eigene Wege zu gehen, insbesondere in steigendem Maße sich der Nachrichtengebung des neutralen oder feindlichen Auslandes zuzuwenden.
Ein weiterer Anlaß zu Mißtrauensäußerungen gegen die Führung wird aus dem Verhalten einzelner örtlich führender Persönlichkeiten von Staat und Partei der Unter- und Mittelstufe genommen. Obwohl die Maßnahmen der Reichsregierung im Grundsätzlichen gebilligt werden, stimmen doch viele tägliche Wahrnehmungen die Volksgenossen gegenüber den durchführenden Organen von Staat und Partei bedenklich. So stelle die Bevölkerung z. B. fest, daß der Tausch- und Schleichhandel immer weiter um sich greife, oder daß der von der Führung propagierte totale Krieg nicht gerecht durchgeführt werde (so z. B. beim Frauenarbeitseinsatz, der Hausgehilfinnenfrage, der Wohnraumlenkung und vor allem bei den Uk-Stellungen) und daß ein Teil der führenden Persönlichkeiten aus Staat und Partei von den allen auferlegten Beschränkungen nicht voll getroffen werde. Der Beobachtung, daß führende Persönlichkeiten im Kriege landwirtschaftliche Grundstücke aufkaufen, oder trotz Mangels an Baumaterialien ihre Villen und Landsitze ausbauen könnten, sowie private Luftschutzbunker anlegten, schließlich auch die in einzelnen Fällen angeblich beobachtete Schonung straffällig gewordener Angehöriger der mittleren und höheren Führung durch Niederschlagung schwebender Gerichtsverfahren oder deren vielmonatige Verschleppung haben vielfach zu der Ansicht geführt, daß die Führungsschicht die Entbehrungen des Volkes nicht immer teile. Es werde „mit zweierlei Maß gemessen“ und wohl „Wasser gepredigt, aber Wein getrunken.“
Haltungsmängel einzelner maßgeblicher Personen des öffentlichen Lebens würden örtlich häufig auch das Vertrauen zur oberen Führung schädigen.
Das Vertrauensverhältnis der Arbeiterschaft zur Führung der Betriebe, zur DAF und anderen Organisationen und Behörden sei ebenfalls häufig besonders starken Spannungen ausgesetzt. Der Arbeiter beginne vielfach wieder in Klassen zu denken und spreche von Schichten und Ständen, die ihn „ausnutzen“ würden.
Hinsichtlich der Wehrmacht sei die Bevölkerung von den sachlichen und persönlichen Qualitäten der deutschen militärischen Führung überzeugt. […] Die Auswüchse des Etappenlebens und teilweise auch in den Heimatgarnisonen würden jedoch einer wachsenden Kritik unterzogen. Diese gipfele häufig in der Feststellung, daß die Zustände des ersten Weltkrieges durch die heutigen Verhältnisse noch übertroffen würden. Insbesondere werde auf die angebliche wachsende Kluft zwischen Offizieren und Mannschaften in den Heimat- und Etappentruppenteilen hingewiesen (Sonderverpflegung in den Kasinos, Verwendung von Spirituosen, Einkaufsfahrten in die besetzten Gebiete, unzweckmäßiger Einsatz von frontverwendungsfähigen Soldaten in Kasinos, Schreibstuben usw.).
Zusammenfassend ergibt sich aus den Meldungen folgendes:
1.) Die Bevölkerung mache in der Beurteilung der sachlichen Leistungen wie der persönlichen Haltung einen Unterschied zwischen dem Führer und der übrigen Führung.
2.) Die Kritik an einzelnen führenden Persönlichkeiten sowie an den von Führungsstellen angeordneten Maßnahmen, die in einzelnen Fällen nicht nur von Gegnern oder gewohnheitsmäßigen Schwätzern, sondern von weiten Bevölkerungskreisen ausgehe, läßt eine gewisse Rückläufigkeit des Vertrauens zur Führung erkennen.
3.) Gerechtigkeit und gleichmäßige Verteilung der Kriegslasten würden das Maß des Vertrauens zur Führung bestimmen. Das Vertrauen werde vor allem dann erschüttert, wenn Anordnungen nicht gleichmäßig oder total durchgeführt würden, wenn es Ausnahmen und „Hintertüren“ gebe und nicht ohne Rücksicht auf die Person konsequent durchgegriffen werde.
Quelle: Bericht an die Parteikanzlei vom 29. November 1943; abgedruckt in Heinz Boberach, Hg., Meldungen aus dem Reich. Die geheimen Lageberichte des Sicherheitsdienstes der SS 1938-1945. Bd. 15, Herrsching: Pawlak, 1984, S. 6064-66.