Kurzbeschreibung

Bevor der NS-Staat 1938 ein Gesetz einführte, das jegliche jüdische Beteiligung an der Wirtschaft beendete, hielten viele Juden ihr tägliches Leben aufrecht und betrieben ihre Geschäfte trotz des zunehmenden Drucks und der Zwänge weiter. Viele von ihnen waren durch ihre Geschäfte sowohl mit lokalen als auch mit weiter entfernten Netzwerken von Kollegen und Kunden verbunden, durch die sie substantielle, langfristige Beziehungen aufgebaut hatten. Als der staatliche und öffentliche Druck zunahm, wurde es für diese Geschäftsinhaber immer schwieriger, ihre Partnerschaften aufrechtzuerhalten. Im Laufe der Zeit stellten viele Juden fest, dass die meisten „arischen“ Geschäftsinhaber trotz enger persönlicher und geschäftlicher Beziehungen nicht bereit waren, sich gegen die rassistische Politik zu stellen, und stattdessen beschlossen, die Beziehungen zu jüdischen Unternehmen zu beenden. In diesem Auszug beschreibt der Weinhändler Friedrich Weil seine eigenen Erfahrungen mit diesem Prozess, einschließlich seiner Erinnerungen an Unternehmen, welche die Beziehungen zu seinem Unternehmen abbrachen, wobei sie oft ihr Bedauern über die Situation zum Ausdruck brachten. Doch in Weils Schilderung steckt auch ein Hauch von Menschlichkeit, die Klage darüber, dass sich hinter dem Rassenstaat ein anderes Deutschland verbarg, dem einfach der Mut fehlte, Weil beizustehen, als er ihn brauchte.

Friedrich Weil, „Das Ende eines Weinhandels“ (Rückblick)

Quelle

Von August 1935 bis Mai 1938 habe ich als Weinkommissionär. hauptsächlich im Rhein- und Weingebiet Süddeutschland gearbeitet. Meine Tätigkeit bestand darin, das von meinem Vater gegründete und von meinen beiden älteren, inzwischen verstorbenen Brüdern geführte Weinkommissionsgeschäft fortzuführen. Nachdem mein eigenes Weingeschäft durch die Nazihetze zerstört wurde, habe ich mich dann wieder dem Familiengeschäft gewidmet. Dabei hatte ich Gelegenheit, in engster Fühlung sowohl mit den Produzenten des Weines wie auch den Großverbrauchern, besonders den deutschen Sektfabrikanten zu stehen. Für den Produzenten war ich der Käufer und für den Sektfabrikanten der Verkäufer, der dafür einzustehen hatte, daß die richtigen Weine für die jeweiligen Zwecke zugeteilt wurden. Für beide Seiten war ich die Vertrauensperson, und auf Grund meiner mehr als 40jährigen fachlichen Erfahrung hatte ich auch das unbeschränkte Vertrauen beider. Ich übertreibe sicher nicht, wenn ich behaupte, daß dieses Vertrauen, besonders zwischen den Weinbauern und mir, beinahe patriarchalisch genannt werden durfte. Dieses Vertrauen zeigte sich auch in den letzten Jahren noch, 1935 bis 1938, als mit nicht zu überbietender Rücksichtslosigkeit jede wirtschaftliche Betätigung eines Juden unterbunden werden mußte.

Zur Ausübung meines Berufs war die sogenannte Reiselegitimationskarte notwendig, die ich bis 1935 jedes Jahr von der zuständigen Verwaltungsbehörde erhielt. Im Jahre 1936 verweigerte mir die inzwischen restlos politisierte Polizei die Legitimationskarte ohne jede Begründung. Auf meine mündliche Beschwerde erhielt ich die barsche Antwort: „Sie sind Jude und als Jude sind Sie zur Ausübung Ihres Berufs nicht vertrauenswürdig.“ Ich wandte mich an die Industrie- und Handelskammer, und nach Verlauf von 5 Tagen brachte mir ein Polizist die neue Reiselegitimationskarte in mein Büro.

Im Jahre 1937 hatte ich die gleiche Schwierigkeit. Dieses Mal hatte meine Beschwerde den Erfolg, daß eine plötzliche Durchsuchung meines Büros, meiner Privaträume, Aufschneiden der Bettmatratze während meiner Abwesenheit vorgenommen wurde. Meine bereits seit sechs Monaten nicht mehr bei mir beschäftigte Bürohilfe - Arierin - wurde in stundenlangen Vernehmungen ausgequetscht mit Fragen nach der Geschäftsmoral, den persönlichen Beziehungen, den Auslandsverbindungen und wo die versteckten Devisen sich befänden und so weiter. Nach Verlauf von acht Tagen erhielt ich wieder meine Reiselegitimationskarte.

So blieb ich also selber in der deutschen Wirtschaft tätig, bis ich am 13. Juni 1938 mit circa 2 000 anderen deutschen Juden schlagartig ins Konzentrationslager verschleppt wurde. Bis zu diesem Zeitpunkt arbeitete ich in der seit mehr als 40 Jahren geübten Weise. Ich hatte wohl in den letzten Jahren mit immer größer werdenden Schwierigkeiten zu kämpfen. Ich nahm den Kampf im Bewußtsein meines Rechts auch auf, aber - die Gewalt siegte und das Recht mußte verstummen. Führende Sektfirmen, mit denen ich seit mehr als 40 Jahren in den freundschaftlichsten Beziehungen stand, baten mich zu privaten Besprechungen, in denen in der offensten Weise dargelegt wurde, daß man gezwungen sei, diese jahrzehntealte, angenehme und erprobte Geschäftsverbindung lösen zu müssen. Die Firma Henkell Trocken in Wiesbaden zum Beispiel sagte mir durch ihren ersten Direktor Ickrath, daß sie es sich im Jahre 1937 nicht mehr erlauben könne, noch weiter mit ihren bisherigen jüdischen Lieferanten in Verbindung zu stehen. Die persönliche Bindung durch die Verheiratung der Tochter eines ihrer Mitinhaber mit dem Minister des Auswärtigen, Herrn Joachim von Ribbentrop, verpflichtete die Firma weitgehendst. Man drückte mir nicht nur das lebhafteste Bedauern über die notwendig gewordene Aufhebung dieser geschäftlichen Verbindung aus, sondern bestätigte mir, daß die Firma Henkell Trocken durch die Aufhebung ihrer Verbindung mit mir einen wesentlich höheren pekuniären Schaden hätte als ich selber, denn zu mir hätte man das größte Vertrauen gehabt und gewußt, daß die Firma auch immer die richtigen und für sie besonders geeigneten Weine erhielt; jetzt aber müsse die Firma für diesen Zweck einen Stab von sechs bis acht ihrer eigenen Leute ins Produktionsgebiet schicken, die die Weine an Ort und Stelle ausprobieren müßten, und ich könnte mir dabei selber vorstellen, daß dies nicht „ohne Sachschaden“ für die Firma abginge. Andere gleichgroße Firmen machten mir den Vorschlag, ich möchte einen „Arier“ als Deckmantel in das Unternehmen aufnehmen, um die Rechnungen, Frachtbriefe und so weiter als arische Firma zeichnen zu können. Ich lehnte das rundweg ab.

Nachdem ich in der Zeit zwischen dem 1. Dezember 1937 und dem 1. März 1938 von meiner arischen Kundschaft auch nicht einen einzigen Auftrag mehr erhalten konnte, war mein Entschluß gefaßt, nach Amerika auszuwandern, wo bereits drei erwachsene Söhne seit mehreren Jahren arbeiteten. Bereits am 16. April 1938 habe ich mein Wohnhaus in Frankfurt am Main verkauft. Am 8. Mai 1938 war ich beim amerikanischen Konsul in Stuttgart, um mich über die Formalitäten zu informieren. Ich verfehlte dabei nicht zu erwähnen, daß ich durch die Nazis bereits vorbestraft war, und brachte das Strafurteil mit. Die Herren Vizekonsuln zeigten ein großes Interesse für diesen Fall und versprachen mir, natürlich unverbindlich, einen Antrag meinerseits wohlwollend zu prüfen, ich möchte nur für ein recht gutes Affidavit sorgen, dann würde der Fall keinerlei Schwierigkeiten haben.

Bei meiner Rückkehr nach Frankfurt a.M. erhielt ich von der Parteileitung ein gedrucktes Formular mit der Anfrage, ob und wann ich mein Geschäft an Arier verkaufen, liquidieren oder anderweitig zur Auflösung bringen wolle. Eine Antwort hierauf innerhalb acht Tagen wurde von mir verlangt. Anstatt eine Antwort zu geben, habe ich am nächsten Tag beim zuständigen Amtsgericht meine Firma löschen lassen. Gleichzeitig meldete ich diese Tatsache der zuständigen Industrie- und Handelskammer.

Der Gerichtssekretär, der die Beurkundung vornahm, forderte mich auf, am Schluß der Verhandlung in das anstoßende Nebenzimmer einzutreten, angeblich um dort den Amtsstempel auf die Urkunde aufzudrücken, in Wirklichkeit aber, um mich einige Minuten allein und ohne Zeuge zu sprechen. Nachdem die Tür hinter uns zu war, sagte er mir, wie leid es ihm tue, diese hochangesehene Firma löschen zu müssen; ich möchte doch überzeugt sein, daß nicht alle Deutschen im Herzen so dächten, wie sie leider zu handeln gezwungen seien. Er sprach mir guten Mut zu und wünschte mir von Herzen recht viel Glück und - daß ich „bald die Rache des deutschen Volkes erleben möge!“

Bei einigen meiner Abnehmer machte ich private Abschiedsbesuche, die teilweise recht dramatisch wurden. Man bedauerte außerordentlich meinen Entschluß, daß ich die einzig mögliche Konsequenz aus den vorliegenden Umständen zu ziehen gezwungen war, und man bat mich quasi um Entschuldigung. Dreimal mußte ich in Privatbüros der Chefs von großen Firmen hören: „Sind Sie doch froh, daß Sie soweit sind und fortgehen können; ich wäre ja heilfroh, wenn ich mit Ihnen tauschen könnte, dann würde ich lieber heute als morgen diesen Saustall verlassen und ins Ausland fahren, aber wir Arier im militärischen Alter bekommen keine Erlaubnis mehr, ins Ausland zu reisen.“

Andererseits hatte ich auch entsprechende Beweise von überschäumendem Haß seitens der arischen Bevölkerung gegen das jetzige braune Regime. Eine alte Bäuerin konnte es sich nicht versagen, einen kerndeutschen Fluch gegen die braune Pest so laut zu schreien, daß ich sie bitten mußte, in Zukunft mehr Vorsicht zu üben.

Während ich mit dieser Frau vor ihrem Haus mich unterhielt, kamen immer mehr Bauern mit ihren Frauen dazu; Als sie erfuhren, daß ich nach Amerika auswandere, waren sie zuerst ganz still, dann aber sprach der größte unter ihnen: „Wer wird jetzt noch dafür sorgen, daß wir jedes Jahr unseren Wein verkaufen können?“

Jeder bat, daß ich einmal zu ihm in sein Haus kommen müsse, um gemeinsam mit ihm ein Glas Wein zu trinken. Ich mußte der Kürze der verfügbaren Zeit wegen ablehnen, aber innerhalb einer Viertelstunde kamen acht Frauen, und eine jede hatte ein Abschiedsgeschenk unter der Schürze: Butter, Eier, Brot, Kirschwasser und ein frisch geschlachtetes Huhn. Ich war ganz gerührt über diese Aufmerksamkeit, und im Moment, als ich mich bereits verabschiedet und bedankt hatte und ins Auto einsteigen wollte, brachte die Tochter des Bürgermeisters einen großen Strauß frischer Maiblumen für meine Frau.

Ich denke noch immer gerne an diese Stunde, in der das alte Deutschland sich noch einmal mir zeigen wollte, wie es wirklich war.

Quelle: Friedrich Weil, „Das Ende eines Weinhandels“, in Margarete Limberg und Hubert Rübsaat, Sie durften nicht mehr Deutsche sein: jüdischer Alltag in Selbstzeugnissen 1933–1938. Frankfurt am Main: Campus Verlag, 1990, S. 114–17.