Kurzbeschreibung

Die strategisch günstige Position der Tschechoslowakei machte sie zum vielversprechenden Trittbrett für Hitlers angestrebte östliche Expansion. Schon im Juni 1937 hatte der damalige Kriegsminister Blomberg auf Hitlers Befehl einen Invasionsplan gegen die Tschechoslowakei erarbeitet. Die Leichtigkeit, mit der er am 12. März 1938 den „Anschluss“ Österreichs ohne Eingreifen der Westmächte vollzog, überzeugte ihn, dass nun der richtige Zeitpunkt für die Zerschlagung der Tschechoslowakei gekommen war.

Um seinem Vorgehen einen legitimen Anschein zu geben, propagierte Hitler das Selbstbestimmungsrecht der ungefähr 3 Millionen in der Tschechoslowakei lebenden Sudetendeutschen. Auf Veranlassung Hitlers agitierte nun die Sudetendeutsche Partei innerhalb des Landes für Autonomie und Wiedergutmachung. Unter der Führerschaft Konrad Henleins (1898–1945) veröffentlichte die Partei das sogenannte Karlsbader Programm, eine Liste von Forderungen, die völlige Autonomie für das Sudetenland, wesentliche Änderungen in der tschechoslowakischen Außenpolitik sowie Wiedergutmachung für die von den Sudetendeutschen seit ihrer Eingliederung in die neugegründete Tschechoslowakei 1918 erlittenen Schäden einschloss. Die tschechoslowakische Regierung machte sich keine Illusionen über Hitlers aggressive Absichten, wies alle Forderungen zurück und hoffte auf Schutz durch die Westmächte, insbesondere durch das verbündete Frankreich. Frankreich jedoch war nicht bereit, sich auf einen militärischen Konflikt ohne Beteiligung Englands einzulassen und die britische Regierung unter Premierminister Neville Chamberlain wollte ihrerseits einen europäischen Krieg unter allen Umständen vermeiden. Im Rahmen der britischen Appeasement-Politik (Beschwichtigungspolitik) traf sich Chamberlain dreimal im September mit Hitler, um einen akzeptablen Kompromiss in der sudetendeutschen Angelegenheit zu finden. Gleichzeitig versuchte er, die tschechoslowakische Regierung zur Annahme der deutschen Forderungen zu bewegen.

Hitler sabotierte alle Vermittlungsversuche Chamberlains, und ein Krieg schien unvermeidlich, nachdem das britische Kabinett Hitlers sogenanntes Godesberger Memorandum ablehnte, in dem er einen deutschen Einmarsch in das Sudetenland für den 1. Oktober verlangte. Benito Mussolini überzeugte Hitler jedoch, den internationalen Vermittlungen zuzustimmen. Während der Münchener Konferenz zwischen Hitler, Chamberlain und dem französischen Premierminister Édouard Daladier und unter Vermittlung Mussolinis unterzeichneten diese das folgende Abkommen, das ohne Beteiligung der tschechoslowakischen Regierung die Abtretung der sudetendeutschen Gebiete an das Deutsche Reich besiegelte. Im Gegenzug verzichtete Hitler auf jegliche territorialen Ansprüche auf den Rest des Landes. Chamberlain betrachtete das Münchener Abkommen als großen diplomatischen Erfolg und hielt nach seiner Rückkehr nach England eine Rede, in der er es als eine Garantie für „Frieden für unsere Zeit“ beschrieb. Hitler fühlte sich jedoch trotz dieses Triumphes um seinen Krieg betrogen, er setzte sich über die Bestimmungen des Abkommens hinweg und verfolgte schließlich im März 1939 die vollkommene Liquidierung der Tschechoslowakei.

Münchener Abkommen zwischen Deutschland, Großbritannien, Frankreich und Italien (getroffen am 29. September 1938)

Quelle

Deutschland, das Vereinigte Königreich, Frankreich und Italien sind unter Berücksichtigung des Abkommens, das hinsichtlich der Abtretung des sudetendeutschen Gebiets bereits grundsätzlich erzielt wurde, über folgende Bedingungen und Modalitäten dieser Abtretung und über die danach zu ergreifenden Maßnahmen übereingekommen und erklären sich durch dieses Abkommen einzeln verantwortlich für die zur Sicherung seiner Erfüllung notwendigen Schritte.

(1) Die Räumung beginnt am 1. Oktober.

(2) Das Vereinigte Königreich, Frankreich und Italien vereinbaren, daß die Räumung des Gebiets bis zum 10. Oktober vollzogen wird, und zwar ohne Zerstörung irgendwelcher bestehender Einrichtungen, und daß die Tschechoslowakische Regierung die Verantwortung dafür trägt, daß die Räumung ohne Beschädigung der bezeichneten Einrichtungen durchgeführt wird.

(3) Die Modalitäten der Räumung werden im Einzelnen durch einen internationalen Ausschuß, der sich aus Vertretern Deutschlands, des Vereinigten Königreichs, Frankreichs, Italiens und der Tschechoslowakei zusammensetzt.

(4) Die etappenweise Besetzung des vorwiegend deutschen Gebietes durch deutsche Truppen beginnt am 1. Oktober. Die vier auf der anliegenden Karte bezeichneten Gebietsabschnitte werden in folgender Reihenfolge durch deutsche Truppen besetzt: Der mit I bezeichnete Gebietsabschnitt am 1. und 2. Oktober, der mit II bezeichnete Gebietsabschnitt am 2. und 3. Oktober, der mit III bezeichnete Gebietsabschnitt am 3., 4. und 5. Oktober, der mit IV bezeichnete Gebietsabschnitt am 6. und 7. Oktober.

Das restliche Gebiet vorwiegend deutschen Charakters wird unverzüglich von dem oben erwähnten internationalen Ausschuß festgestellt und bis zum 10. Oktober durch deutsche Truppen besetzt werden.

(5) Der in Paragraph 3 erwähnte internationale Ausschuß wird die Gebiete bestimmen, in denen eine Volksabstimmung stattfinden soll. Diese Gebiete werden bis zum Abschluß der Volksabstimmung durch internationale Formationen bestimmt werden. Der gleiche Ausschuß wird die Modalitäten festlegen, unter denen die Volksabstimmung durchgeführt werden soll, wobei die Modalitäten der Saarabstimmung als Grundlage zu betrachten sind. Der Ausschuß wird ebenfalls den Tag festsetzen, an dem die Volksabstimmung stattfindet; dieser Tag darf jedoch nicht später als Ende November liegen.

(6) Die endgültige Festlegung der Grenzen wird durch den internationalen Ausschuß vorgenommen werden. Dieser Ausschuß ist berechtigt, den vier Mächten Deutschland, dem Vereinigten Königreich, Frankreich und Italien in bestimmten Ausnahmefällen geringfügige Abweichungen von der streng ethnographischen Bestimmung der ohne Volksabstimmung zu übertragenden Zonen zu empfehlen.

(7) Es wird ein Optionsrecht für den Übertritt in die abgetretenen Gebiete und für den Austritt aus ihnen vorgesehen. Die Option muß innerhalb von sechs Monaten vom Zeitpunkt des Abschlusses dieses Abkommens an ausgeübt werden. Ein deutsch-tschechoslowakischer Ausschuß wird die Einzelheiten der Option bestimmen, Verfahren zur Erleichterung des Austausches der Bevölkerung erwägen und grundsätzliche Fragen klären, die sich aus diesem Austausch ergeben.

(8) Die Tschechoslowakische Regierung wird innerhalb einer Frist von vier Wochen vom Tage des Abschlusses dieses Abkommens an alle Sudetendeutschen aus ihren militärischen und polizeilichen Verbänden entlassen, die diese Entlassung wünschen. Innerhalb derselben Frist wird die Tschechoslowakische Regierung sudetendeutsche Gefangene entlassen, die wegen politischer Delikte Freiheitsstrafen verbüßen.

Adolf Hitler
Ed. Daladier
Mussolini
Neville Chamberlain

Quelle: „Abkommen zwischen Deutschland, dem Vereinigten Königreich, Frankreich und Italien, getroffen in München, am 29. September 1938“. In Akten zur Deutschen Auswärtigen Politik 19181945. Baden-Baden: Imprimerie Nationale, MCMLVI. Serie D: 1937–1945. Band II: Deutschland und die Tschechoslowakei (1937–1938). Dokumentnummer 675, S. 812–14.