Kurzbeschreibung

Als Konsequenz der verschlechterten Lage an der Ostfront nach der Niederlage der deutschen Armee bei Stalingrad beschloss Goebbels Anfang 1943 eine Kurskorrektur seiner Propaganda, die künftig das gemeinsame Interesse aller europäischen Staaten am Kampf gegen den Bolschewismus betonen sollte. Er hoffte, damit nicht nur die bisher neutralen Staaten, sondern auch die Westalliierten im Sinne der Nationalsozialisten zu beeinflussen und die Loyalität aller ausländischen Arbeiter im Reich zu gewinnen. In einem Erlass vom 15. Februar 1943 legte Goebbels daher neue Richtlinien für die Haltung gegenüber den europäischen Völkern vor, deren praktische Umsetzung hinsichtlich ausländischer Arbeitskräfte einen Monat später auf einer Konferenz zwischen Mitarbeitern des Propagandaministeriums und des Reichssicherheitshauptamtes (RSHA) besprochen wurde. Besonders die von Goebbels geforderte Gleichbehandlung von Arbeitern aus Ost- und Westeuropa stieß beim RSHA auf Widerstand, da dieses bisher durch die sogenannten „Ostarbeitererlasse“ eine Politik der Diskriminierung vor allem polnischer und russischer Zwangsarbeiter verfolgt hatte und sich nun in seiner Autorität angegriffen sah. Schließlich einigten sich die Ministerien auf die im folgenden „Merkblatt“ enthaltenen Richtlinien, die zwar eine grundsätzliche Gleichbehandlung von ost- und westeuropäischen Arbeitern forderten, allerdings auch keine Änderung der sicherheitspolitischen Vorschriften des RSHA notwendig machten. Selbst wenn nun also in der Theorie kriegswirtschaftliche Interessen der Ideologie übergeordnet wurden, änderte sich in der Praxis wenig an der rassistischen Hierarchie innerhalb der Arbeitslager, die zunehmend von den lokalen Regimevertretern kontrolliert wurde.

Rundschreiben von Martin Bormann (5. Mai 1943) mit einem Memorandum über die Behandlung ausländischer Arbeitskräfte (15. April 1943)

  • Ernst Kaltenbrunner

Quelle

Nationalsozialistische Deutsche Arbeiterpartei

Partei-Kanzlei

Der Leiter der Partei-Kanzlei

Führerhauptquartier, den 5. Mai 1943

Rundschreiben Nr. 70/43

Betrifft: Merkblatt über die allgemeinen Grundsätze für de Behandlung der im Reich tätigen ausländischen Arbeitskräfte.

Das Reichspropagandaministerium und das Reichssicherheitshauptamt haben gemeinsam ein Merkblatt über die Behandlung der im Reich tätigen ausländischen Arbeitskräfte herausgegeben.

Ich bitte, an Hand des beiliegenden Abdrucks die Partei- und Volksgenossen in geeigneter Weise über die Notwendigkeit einer strengen, aber gerechten Behandlung der ausländischen Arbeitskräfte aufzuklären.

Eine Veröffentlichung des Merkblattes darf nicht vorgenommen werden.

Gez. M. Bormann

Verteiler: Reichsleiter,

Gauleiter,

Verbändeführer,

Kreisleiter,

Ortsgruppenleiter.

Merkblatt.

Über die allgemeinen Grundsätze für die Behandlung der im Reich tätigen ausländischen Arbeitskräfte. [15. April 1943]

Der Kampf des Reiches gegen die vernichtenden Kräfte des Bolschewismus wird mehr und mehr eine europäische Angelegenheit. Erstmalig in der Geschichte dieses Kontinents beginnen sich, wenn auch in manchen Ländern noch als kleine Ansätze, die Umrisse einer europäischen Solidarität abzuzeichnen. Eine sichtbare praktische Auswirkung ist die Beschäftigung von Millionen ausländischer Arbeiter fast aller europäischen Staaten des Festlandes im Reich, darunter eine große Zahl von Angehörigen der besiegten Feindmächte. Aus dieser Tatsache erwachsen dem deutschen Volke aber besondere Verpflichtungen, die sich vor allem aus den nachstehenden Grundsätzen ergeben:

1. An erster Stelle steht die Sicherheit des Reiches. Der Reichsführer SS und seine Dienststellen legen die sicherheitspolizeilichen Maßnahmen zum Schutze des Reiches und des deutschen Volkes fest.

2. Die humane, aber arbeitssteigernde Behandlung der ausländischen Arbeiter und die ihnen gewährten Erleichterungen können selbstverständlich leicht dazu führen, die klare Trennungslinie zwischen den fremdvölkischen Arbeitern und den deutschen Volksgenossen zu verwischen. Die deutschen Volksgenossen sind anzuhalten, den erforderlichen Abstand zwischen sich und den Fremdvölkern als eine nationale Pflicht zu betrachten. Bei Außerachtlassen der Grundsätze nationalsozialistischer Blutsauffassung muß der deutsche Volksgenosse sich schwerster Strafen bewußt sein. Die Erkenntnis, daß es um Sieg oder bolschewistisches Chaos geht, muß jeden Deutschen veranlassen, die notwendigen Folgerungen im Verkehr mit fremdvölkischen Arbeitskräften zu ziehen.

Dem Ziel, den Krieg siegreich zu beenden, hat sich alles unterzuordnen. Die im Reich tätigen ausländischen Arbeitskräfte sind daher so zu behandeln, daß ihre Zuverlässigkeit erhalten und gefördert wird, daß Auswirkungen zu Ungunsten des Reiches in ihren Heimatländern auf ein Mindestmaß beschränkt werden und daß ihre volle Arbeitskraft auf lange Sicht der deutschen Kriegswirtschaft erhalten bleibt, ja, daß sogar eine weitere Leistungssteigerung eintritt. Hierbei ist folgendes als entscheidend anzusehen:

1. Jeder, auch der primitive Mensch hat ein feines Empfinden für Gerechtigkeit. Daher muss sich jede ungerechte Behandlung verheerend auswirken. Ungerechtigkeiten, Kränkungen, Schikanen, Mißhandlungen, usw. müssen also unterbleiben. Die Anwendung der Prügelstrafe ist verboten. Über die scharfen Maßnahmen bei widersetzlichen und aufrührerischen Elementen sind die fremdvölkischen Arbeiter entsprechend aufzuklären.

2. Es ist unmöglich, jemand zur aktiven Mitarbeit für eine neue Idee zu gewinnen, wenn man ihn zugleich in seinem inneren Wertbewußtsein kränkt. Von Menschen, die als Bestien, Barbaren und Untermenschen bezeichnet werden, kann man keine Höchstleistung verlangen. Dagegen sind bei allen sich bietenden Gelegenheiten die positiven Eigenschaften, wie Kampfwille gegen den Bolschewismus, Sicherung der eigenen Existenz und ihrer Heimat, Einsatzbereitschaft und Arbeitswilligkeit anzuspornen und zu fördern.

3. Darüber hinaus muß alles getan werden, um die notwendige Mitarbeit der europäischen Völker im Kampf gegen den Bolschewismus zu fördern. Mit Worten allein ist der ausländische Arbeiter nicht zu überzeugen, daß ein deutscher Sieg auch ihm und seinem Volke zugute kommt. Voraussetzung ist eine entsprechende Behandlung.

Ausgehend von diesen Gesichtspunkten haben der für den Einsatz und die Arbeitsbedingungen der ausländischen Arbeitskräfte verantwortliche Generalbevollmächtigte für den Arbeitseinsatz sowie die sonstigen beteiligten Dienststellen die für den Einsatz der ausländischen Arbeitskräfte im Deutschen Reich erforderlichen Weisungen erlassen. Aus diesen Vorschriften sind die nachstehenden besonders hervorzuheben:

a) Jeder ausländische Arbeiter wird nach Möglichkeit an dem Arbeitsplatz eingesetzt, an dem er gemäß seiner Vorbildung und bisherigen Tätigkeit die höchsten Leistungen vollbringen kann.

b) Die Unterbringung der ausländischen Arbeitskräfte erfolgt in der Regel lagermäßig. Die Unterkünfte müssen hinsichtlich Ordnung, Sauberkeit und Hygiene vorbildlich mit allem Notwendigen ausgestattet sein. Gefängnismäßige Absperrung und Stacheldraht sind verboten. Entscheidender Wert wird darauf gelegt, daß in der Unterbringung den nationalen Gewohnheiten der ausländischen Arbeiter und Arbeiterinnen weitestgehend entsprechend den kriegsbedingten Möglichkeiten Rechnung getragen wird. Die Ausländer sind, soweit irgend möglich, nach Volksgruppen getrennt und in sich geschlossen untergebracht. Die Mitwirkung der ausländischen Arbeitskräfte bei der Verwaltung der Lager und der Aufrechterhaltung der Lagerordnung ist sichergestellt. Für alle Lager bestehen Lagerordnungen, in denen insbesondere auch die Pflichten und Rechte der Lager- und Betriebsführer umrissen sind.

c) Die ausländischen Arbeitskräfte werden bei der Anwerbung angehalten, Kleidung und Schuhwerk mit nach Deutschland zu nehmen. Soweit dies nicht möglich ist und soweit Ersatz für unbrauchbar gewordene Kleidungsstücke notwendig geworden ist, werden sie unter Berücksichtigung der kriegsbedingten Einschränkungen mit Kleidung und Schuhwerk so ausgestattet, daß der zur Gesunderhaltung notwendige Schutz vor Witterungseinflüssen gewährleistet ist.

d) Die ausländischen Arbeiter erhalten die vom Reichsminister für Ernährung und Landwirtschaft in Anlehnung an die Verpflegung vergleichbarer deutscher Arbeiter festgelegten Verpflegungssätze. Auf landesübliche Kost wird hierbei nach Möglichkeit Rücksicht genommen. Es wird dafür Sorge getragen, daß den ausländischen Arbeitskräften die Verpflegung auch entsprechend den für sie zur Verfügung gestellten Mengen verabreicht wird. Unterschlagungen, Wucherpreise, usw. durch Aufsichtsstellen oder Ausführungsorgane werden so geahndet, als wäre die Tat Deutschen gegenüber begangen.

e) Jeder ausländische Arbeiter hat Anrecht auf eine wirksame gesundheitliche Betreuung. Die Vorschriften zur Verhütung von Seuchen und übertragbaren Krankheiten finden uneingeschränkte Anwendung. Die ärztliche Versorgung ist je nach den örtlichen Gegebenheiten durch Lager-, Revier- oder Kassenärzte sichergestellt. Für die stationäre Revier- oder Krankenhausbehandlung ist die erforderliche Bettenzahl in geeigneter Weise bereitzuhalten. Für die Pflege und Versorgung sind nach Möglichkeit volkseigene Pflegekräfte, u.U. volkseigene Ärzte und Feldschere heranzuziehen. Für schwangere Arbeiterinnen sind die notwendigen Entbindungsmöglichkeiten vorzusehen, auch sind Stilleinrichtungen und Kleinkinderstätten im erforderlichen Umfang zu schaffen. Zur Betreuung ist auf weibliche Angehörige des betr. Volkstums zurückzugreifen. Rückbeförderungen von schwangeren Arbeiterinnen finden nur in besonderen Ausnahmefällen auf deren Wunsch statt.

f) Die seelische Betreuung der ausländischen Arbeitskräfte ist zur Erhaltung der Arbeitskraft und –freude von größter Bedeutung. Unterhaltende Veranstaltungen, Freizeitgestaltung, Sport, usw. sind in erster Linie im Lager selbst durch lagereigene Kräfte durchzuführen. Darüber hinaus werden besondere Künstler- und Volkstumsgruppen der verschiedenen Nationalitäten zur weiteren Ausgestaltung der seelischen Betreuung herangezogen. Ferner kommen, soweit möglich, Heimatfilme zur Vorführung. Außerdem sollen jedem Lager in die einzelnen Fremdsprachen übersetzte Bücher, Zeitschriften und Zeitungen zugänglich sein. Sprachkurse sollen die Verständigung am Arbeitsplatz fördern. Für die einzelnen Nationen werden Spezialwörterbücher bearbeitet und herausgebracht.

Im übrigen haben auch die Ostarbeiter grundsätzlich mindestens am arbeitsfreien Tag die Möglichkeit auszugehen.

g) Sämtlichen ausländischen Arbeitern ist eine seelsorgerische Betreuung ermöglicht, soweit diese gewünscht wird. Für Angehörige der besetzten Ostgebiete kommt zunächst nur eine Betreuung durch Laienpriester in Betracht. Die Betreuung durch russische und ukrainische Emigranten ist verboten.

Im Todesfall werden Ausländer auf den öffentlichen Friedhöfen beigesetzt.

h) Die politische Beeinflussung soll in erster Linie die Kräfte gegen den Bolschewismus wecken und ist entsprechend zu gestalten.

Die vorstehend wiedergegebenen Grundsätze sind, da sie von den jeweils zuständigen Dienststellen als Weisungen herausgegeben sind, als Richtschnur für alle Organisationen, Dienststellen und Einzelpersonen bindend. Alle Stellen, die sich mit dem Einsatz und der Betreuung der ausländischen Arbeiter zu befassen haben, insbesondere auch die Betriebs- und Lagerführer, sind dafür verantwortlich, daß diese Grundsätze in die Praxis umgesetzt und eingehalten werden. Sie müssen sich darüber klar sein, daß Verstöße gegen die vorstehenden Grundsätze die deutsche Kriegswirtschaft und damit indirekt die Front schädigen und deshalb nicht nur unter dem Gesichtspunkt der unpolitischen Straftat (z.B. Körperverletzung, Unterschlagung, Wucher) zu ahnden, sondern unter Umständen sogar als Feindbegünstigung anzusehen sind. Zur Verantwortung können nicht nur die Täter selbst gezogen werden, sondern auch die verantwortlichen Dienststellenleiter. Auch mangelhafte Unterrichtung oder Überwachung der nachgeordneten Stellen kann zu einer dienststrafrechtlichen Ahndung führen.

Sämtliche bestehenden Anordnungen und Vorschriften für die Behandlung ausländischer Arbeitskräfte werden von den zuständigen Dienststellen darauf überprüft, ob sie mit den vorgenannten Grundsätzen vereinbar sind. Wo dies nicht der Fall ist, werden sie sofort entsprechend umgearbeitet.

Berlin, den 15. April 1943.

Quelle: Rundschreiben Bormanns vom 5. Mai 1943 mit Merkblatt über die allgemeinen Grundsätze für die Behandlung der im Reich tätigen ausländischen Arbeitskräfte (Beweisstück GB-538), in Der Prozess gegen die Hauptkriegsverbrecher vor dem Internationalen Militärgerichtshof. Nürnberg 14. November 19451. Oktober 1946. Band XXV, Amtlicher Text – Deutsche Ausgabe, Urkunden und anderes Beweismaterial. Nürnberg 1947. Fotomechanischer Nachdruck: München, Delphin Verlag, 1989, Dokument 205-PS, S. 298–301.

Rundschreiben von Martin Bormann (5. Mai 1943) mit einem Memorandum über die Behandlung ausländischer Arbeitskräfte (15. April 1943), veröffentlicht in: German History in Documents and Images, <https://germanhistorydocs.org/de/deutschland-nationalsozialismus-1933-1945/ghdi:document-1556> [08.05.2024].