Kurzbeschreibung

Das NS-Regime propagierte und praktizierte offen Eugenik. In den Jahren 1933 und 1935 verabschiedete das Regime Sterilisationsgesetze, die deutsche Staatsbürger zwangen, sich der Sterilisation zu unterwerfen, wenn in ihrer Familie Muster erblicher Geisteskrankheiten oder bestimmter genetischer Anomalien auftraten. Die erzwungene Sterilisation von Männern und Frauen, die unter diese Kategorien fielen, wurde durch die vermeintliche Notwendigkeit gerechtfertigt, das Land von übermäßigen finanziellen Belastungen durch die Pflege und Behandlung dieser „minderwertigen“ Individuen zu entlasten und zukünftige Generationen zu schützen.

Der erste Text ist ein Artikel aus Das Schwarze Korps, der offiziellen SS-Zeitung. Die Darstellung einer Familie, die von einem geistig behinderten Kind belastet wird, ist charakteristisch sowohl für die nationalsozialistische Begründung der Sterilisation als auch für ihr Euthanasieprogramm von 1939, bekannt als Aktion T4. Der zweite Text ist ein Brief, den ein epileptisches Kind namens Helene aus einem Liebenauer Heim an ihren Vater schickte. Der Brief zeigt, dass sie offenbar wusste, welches Schicksal auf sie wartete. Helene greift auf christliche Opferideen zurück, um ihren Tod zu rechtfertigen und hofft, das Leiden ihrer Familie zu lindern. Helenes Schicksal war tragisch – nur wenige Tage vor ihrem Tod hatte ein Überprüfungsausschuss beschlossen, ihr Leben zu verschonen. Die Entscheidung erreichte das Heim jedoch nicht rechtzeitig.

Zwei Sichtweisen auf die NS-„Euthanasie“: SS-Artikel aus Das Schwarze Korps (1937) und Brief von Helene (1940)

Quelle

I. Artikel aus „Das Schwarze Korps“ (18. März 1937)

Auf unsere Veröffentlichung in der letzten Ausgabe schreibt uns ein Leser:

„Ich habe eine Verwandte, Mutter von fünf Kindern. Vier davon sind kerngesund, ebenso die Eltern, in deren Familien keinerlei Erbkrankheiten Vorkommen. Das fünfte, jetzt zweijährige Kind, ist ein Idiot. Nach ärztlicher Meinung hat die Mutter das Kind zu lange getragen. Als die Eltern bald nach der Geburt merkten, daß das Kind auf nichts reagierte, haben sie es in die Behandlung des besten Kinderarztes im Orte gegeben. Dieser überwies es einem Krankenhaus. Dort erklärten die Professoren das Kind für unheilbar. Es ist jetzt in einer Anstalt, die ausschließlich idiotische Kinder oder Krüppel mit großem Aufwand aufzieht.

Die Eltern bezahlen monatlich 100 RM Kostgeld, Tausende hat das Kind schon gekostet. Dieses Geld geht nicht nur den vier gesunden Geschwistern verloren, die schwere Belastung muß die Eltern auch davon abhalten, weiteren Kindersegen zu erwarten. Familie und Volksgemeinschaft haben nicht nur einen Idioten großzuziehen, sie müssen auch einen Geburtenausfall in Kauf nehmen, weil es angeblich „Menschenpflicht“ ist, den Idioten mit künstlichen Mitteln am Leben zu erhalten und ihn möglichst ein biblisches Alter erreichen zu lassen. Ich meine, hier müßte ein Gesetz geschaffen werden, wonach solche Kinder mit Einverständnis ihrer Eltern getötet werden könnten.“

Wir haben zu dem Fall jenes Erbhofbauern Stellung genommen, der kürzlich in Weimar zu drei Jahren Gefängnis verurteilt wurde, weil er seinen erwachsenen, unheilbar geisteskrank gewordenen Sohn und Erben getötet hat. Der Mann verstieß gegen das Gesetz und mußte bestraft werden, weil er eine Handlung beging, die die Volksgemeinschaft heute noch nicht für ihn begehen will, und weil er eine Verantwortung auf sich nahm, die von Rechts wegen der Staat auf sich nehmen sollte. Der Fall, den unser Leser schildert, liegt noch einfacher.

Wenn ein Erwachsener geisteskrank wird, hat er bis dahin immerhin einen Persönlichkeitswert gehabt und im Bewußtsein seines Daseins gelebt. Ihn auszulöschen ist ein schwerer Entschluß, obwohl er für ihn und alle Beteiligten zur Erlösung führt. Ein idiotisch geborenes Kind hat keinen Persönlichkeitswert. Es würde kaum ein Jahr vegetieren, wenn man es nicht künstlich am Leben erhielte. Das Bewußtsein seines Daseins geht ihm weniger auf als einem Tier. Man nimmt ihm nichts, wenn man sein Lebenslicht verlöschen läßt.

Wenn einer sagt, der Mensch habe kein Recht, zu töten, so sei ihm erwidert, daß der Mensch noch hundertmal weniger Recht hat, der Natur ins Handwerk zu pfuschen und etwas am Leben zu erhalten, was nicht zum Leben geboren wurde. Das hat mit christlicher Nächstenliebe nicht das geringste zu tun. Denn unterm „Nächsten“ können wir nur den Mitmenschen verstehen, der imstande ist oder imstande sein könnte, die Liebe zu empfinden, die man ihm entgegenbringt. Wer den Mut hat, diese Überlegungen logisch zu Ende zu führen, wird zu der gleichen Forderung gelangen, die unser Leser vertritt.

Man müßte ein Gesetz schaffen, das der Natur zu ihrem Recht verhilft. Die Natur würde dieses lebensunfähige Geschöpf verhungern lassen. Wir dürfen humaner sein und ihm einen schmerzlosen Gnadentod bereiten. Das ist die einzige Humanität, die in solchen Fällen angebracht ist, und sie ist hundertmal edler, anständiger und menschlicher als jene Feigheit, die sich hinter der Humanitätsduselei verkriecht und dem armen Geschöpf die Last seines Daseins, der Familie und der Volksgemeinschaft die Last des Unterhalts aufbürdet.

Diejenigen, die sich als Wahrer der Humanität in die Brust werfen, sind gewöhnlich Menschen, die selbst nichts zur Erhaltung der Volkskraft tun und denen unter Umständen ein getaufter Idiot lieber ist als ein urgesunder Heide.

Aus dem Bibelspruch Matth. 5,3: „Selig sind die am Geiste Armen“, wird kein vernünftiger Mensch irdische Rechte der Idioten ableiten. Die anderen hat niemand bestritten. Ihrer mag das Himmelreich sein.

Quelle: Das Schwarze Korps, 18. März 1937; abgedruckt in J. Tuchel, Hrsg., „Kein Recht auf Leben.“ Beiträge und Dokumente zur Entrechtung und Vernichtung „lebensunwerten Lebens“ im Nationalsozialismus. Berlin, 1984, S. 48–49.

II. Brief vom 1. Oktober 1940

Innigst geliebter Vater!

Leider ging es nicht anders. Meine Abschiedsworte aus diesem irdischen Leben in die ewige Heimat muß ich also heute an Dich richten. Es wird Dir und den Meinen viel, viel Herzweh bereiten. Aber denke daran, daß ich als Märtyrin sterben darf, was nicht ohne den Willen meines göttlichen Erlösers geschieht, nach welchem ich mich Jahre lang sehnte. Vater, guter Vater, ich möchte aber nicht von hinnen scheiden, ohne Dich und alle meine lieben Geschwister nochmals um Verzeihung zu bitten für das, was ich mein ganzes Leben hindurch an Euch gefehlt habe. Möge der liebe Gott meine Krankheit und dieses Opfer als Sühne dafür annehmen. Bester Vater, bitte, trage Deinem Kind, welches Dich so innig geliebt hat, nichts nach und denke immer und immer wieder, es geht in den Himmel, wo wir uns alle wiederfinden bei Gott und unseren lieben Verstorbenen allen. Vaterle, ich gehe mit festem Mut und Gottvertrauen und zweifele niemals an seiner guten Tat, welche er an uns ausübt, welche wir leider jetzt hienieden nicht verstehen. Uns wird der Lohn zuteil am jüngsten Tage. Gott befohlen! Bitte teile es meinen lieben Geschwistern mit. Ich will nicht jammern, sondern mich vielmehr freuen. Dieses Bildchen gebe ich Dir als Andenken, so geht Dein Kind dem Heiland entgegen. Es umarmt Dich in treuer Liebe und mit dem festen Versprechen, welches ich Dir gab bei unserem letzten Abschied, daß ich standhaft ausharren werde.

Dein Kind Helene.

…. Bitte bete viel für meine Seelenruhe. Auf Wiedersehen guter Vater, im Himmel

Quelle: Brief vom 1. Oktober 1940, Ks2/70 Generalstaatsanwaltschaft Frankfurt am Main; abgedruckt in Ernst Klee, „Euthanasie“ im NS-Staat: die Vernichtung „lebensunwerten Lebens.“ Frankfurt am Main: Fischer Taschenbuch-Verlag, 1986, S. 332.