Kurzbeschreibung

Im April 1959 findet im Kulturpalast des Elektrochemischen Kombinats Bitterfeld in der DDR eine Literaturkonferenz statt, die mit dem Beschluß endet, einerseits die literarische Betätigung von Arbeitern zu fördern und andererseits Schriftsteller verstärkt zur Beschäftigung mit der sozialistischen Wirklichkeit anzuhalten und so den Gegensatz zwischen Arbeitern und intellektueller Elite zu überwinden. Erwin Strittmatter, einer der bekanntesten ostdeutschen Schriftsteller, unterstreicht die zweite Forderung wenige Tage später im Neuen Deutschland. Er ruft dazu auf, neue Stoffe mit Aktualitätsbezug in industriellen und landwirtschaftlichen Betrieben im unmittelbaren Kontakt mit der Welt der Arbeiter zu entdecken und im Sinne des sozialistischen Realismus literarisch zu gestalten.

„An die Basis – gegen die Selbstzufriedenheit”: Diskussionsbeitrag Erwin Strittmatters auf der Bitterfelder Konferenz [Auszug] (24. April 1959)

  • Erwin Strittmatter

Quelle


Hans Marchwitza sagt oft von sich: »Ich sollte mehr am Schreibtisch sitzen, aber ich bin zu neugierig auf alles, was in der Republik geschieht.« Eine solche Liebe zum Heutigen und Künftigen möchte ich manchem unserer jungen Schriftsteller wünschen. Wir sind nicht neugierig genug. Ich meine nicht die altweiberliche Neugier, daran fehlt es manchmal bei uns nicht. Ich meine jetzt Neugier, die dem Forscher und Erkunder eigen ist. In unserer Republik wandeln sich die Menschen unaufhörlich, und sie wiederum verwandeln ihre Umgebung, und zwar nach vorwärts. Täglich werden im Gedröhne der Fabriken, im Staub der Bauplätze und auf den Felderweiten der landwirtschaftlichen Produktionsgenossenschaften Heldentaten vollbracht. Und die Helden sind, wie es bei Eduard Claudius heißt, Menschen an unserer Seite. Sehen wir sie? Haben wir den poetischen Begriff »Held der Arbeit« geprägt? Nein, den haben unsere Genossen Politiker geprägt, und sie waren vielfach poetischer als wir.

Weshalb sind Sitzungen langweilig?

Wir klagen, unsere Sitzungen im Schriftstellerverband seien nicht interessant genug, sie langweilen. Weshalb langweilen sie? Weil wir nicht voll von Erlebnissen sind, die wir auf Fahrten und Erkundigungen hatten. Es ist besonders im Berliner Verband schon viel experimentiert worden. Man ließ sich sozusagen Stoffe kommen. Man lud Leute ein, die draußen in der Praxis gut Bescheid wußten und ließ sich von ihnen erzählen, wie es draußen in der Welt zuging. Da erfuhren wir zuweilen unerhörte Begebenheiten, die nach künstlerischer Gestaltung verlangten. Wir hörten uns diese Begebenheiten an, schnalzten mit der Zunge und sagten: Riesig interessant, aber man hat leider seine Arbeit und weiß nicht, was zuerst machen. Wir benahmen uns also wie die Bürokraten und ließen uns von der Arbeit gefangennehmen, die gerade auf unserem Schreibtisch lag, ohne zu erkennen, was zu gestalten wichtig sei. Wir übersahen die großen Zusammenhänge. Das kann niemals der richtige Weg sein, auf dem wir zu einer verbesserten und volksnahen Literatur kommen können.

Vor einigen Wochen probierten wir etwas Neues. Es kamen 7 oder 8 Schriftsteller zusammen, die Brigaden der sozialistischen Arbeit betreuen und dort mitarbeiten. Auf einmal zeigte sich, daß eine Sitzung durchaus nicht langweilig zu sein braucht. Noch am Schlusse der Versammlung blieben einige beieinander und tauschten ihre Entdeckungen und Erfahrungen aus. Ich habe es schon oft gesagt und sage es hier nochmals: Wer Kontakt mit unserer Wirklichkeit, mit unseren Menschen, kurzum mit unseren heutigen und künftigen Lesern hat, der brauchte nicht krampfhaft nach Themen und Entwürfen für ein neues Werk zu suchen.


Die »harte Schreibweise«

Aber es gibt noch andere Gründe, die die wirklich schöpferische und vorwärtsweisende Diskussion im Verband hemmen. Wir sind soeben dabei, eine Diskussion über die sogenannte »harte Schreibweise« vorzubereiten. Einige unserer jungen und einige unserer nicht mehr ganz jungen Autoren haben sich diese Schreibweise von nicht sehr fortschrittlichen amerikanischen oder westdeutschen Schriftstellern abgeguckt. Sie sagen etwa so: Was faselt ihr davon, daß die Helden unseres Werktages poetische und liebenswerte Menschen sind? Die Realität ist hart. Das Kombinat »Schwarze Pumpe« wird nicht von weißen Lämmern aufgebaut. Na, das gewiß nicht! Es wird aber nicht nur von Radaubrüdern, Säufern, Glücksrittern und von solchen Arbeitern aufgebaut, die ihre Kräfte um der dicken Lohntüte willen verdoppeln und verdreifachen. Vorige Woche sagte ein Kollege in der Mitgliederversammlung des Berliner Verbandes etwa folgendes: Man kann von zwei Enden in einen Betrieb gehen; das eine Mal mit der Absicht, die Menschen in den Produktionsstätten zu verstehen, sie lieben lernen, das andere Mal, als ob man in den Zoologischen Garten geht und naturwissenschaftliche Feststellungen macht. Er sagte das noch etwas krasser. Sogleich aber erhob sich unter den Mitgliedern ein Proteststurm: Ja, wer geht denn so zu den Arbeitern! Man wollte die zweite Art nicht für wahr haben. Und doch gibt es bei uns ein solch literarisches liebloses Herangehen an die Arbeit unserer Werktätigen: Alles Poetisieren der Arbeiter und der Arbeit ist streng verpönt; nackt und kalt wird über Vorgänge und Menschen geschrieben, als seien die Arbeiter Maschinenteile, die zufällig auch denken können. So etwas Ähnliches drückt sich meines Erachtens auch in der sogenannten »harten« Schreibweise aus.

Kurz und gut: Wir bereiten eine Diskussion über jene Schreibart des »harten Schreibens« vor. Aber schon bei den Vorbereitungen zu dieser Diskussion stellen wir fest, daß darüber bei unseren Kollegen im Vorstand, die von unseren Kollegen als Vorbilder betrachtet werden, keine Klarheit herrscht. Das ist nicht so schlimm, heißt es, wozu über diese Art zu schreiben extra eine Diskussion? Das ist ganz einfach ein künstlerisches Mittel unter anderen. Ich glaube, das Problem ist ernster.

Seitdem ich im Verband sitze und mir langsam einen Überblick verschaffen kann, sehe ich, daß sich unsere jungen Autoren dieser Schreibweise zuwenden und befleißigen. Das Problem ist deshalb ernst, weil unsere Werktätigen instinktiv, aber zuweilen auch schon sehr bewußt merken, daß man auf diese Weise schlecht von ihnen spricht, schlecht von ihnen schreibt. All ihr Denken und Fühlen wird unterschlagen. Man manipuliert ihr Herz in die Lohntüte hinein. Sie fühlen sich unverstanden und sagen: So sind wir nicht. Selbst dann, wenn man ihnen einzureden versucht, es sei echte Kunst, mit der sie es da zu tun hätten, sie müßten das kennen und sich darauf einstellen und sich daran gewöhnen. Was für eine Blasiertheit!

Wie wollen wir jetzt eine solche Diskussion mit den jüngeren Schriftstellern, die es betrifft, machen, wenn die älteren und erfahreneren sich nicht über das Antihumanistische dieser Schreibweise einig sind, wenn sie das Problem für gar nicht so ernst halten. Da stiften wir doch Verwirrung. Das darf es nicht geben. Die ungeklärten Probleme schwelen weiter. Die alten Genossen werden auf diese, die jungen Genossen auf jene Art von Resignation ergriffen, und das ganze Verbandsleben wird lahmgelegt.

Was wurde zum Beispiel gemacht, als das neue Sekretariat den Plan für die künftige Verbandsarbeit vorlegte? Zunächst diskutierte man über formale Unzulänglichkeiten dieses Planes. Die Sprache sei nicht schön genug, sie hätte zuviel Funktionärjargon usw. usw. Dabei war dieser Arbeitsplan gar nicht zur Veröffentlichung vorgesehen. Waren es aber wirklich nur formale Gründe, die die Diskussion endlos ausdehnten? Es zeigten sich sogar Bestrebungen, die Verabschiedung des Arbeitsplanes erst ein Vierteljahr später auf der nächsten Vorstandssitzung vorzunehmen. Weshalb das? Man kommt der Sache näher, wenn man den Blick auf den folgenden Punkt richtet.


Gegen die Unentschlossenheit

Es wurde unter anderem gesagt, der Begriff »Revisionismus« gehöre nicht in den Arbeitsplan einer Massenorganisation, wie der Schriftstellerverband eine sei. Oder: Man müsse den Begriff genau klären und analysieren, denn man könnte nicht verlangen, daß auch parteilose Schriftsteller wüßten, was Revisionismus ist.

Sind die Schriftsteller bei uns so hinterwäldlerisch? Lesen sie die Auseinandersetzungen in unserer Tagespresse nicht? Leben sie nicht in unserer Welt? Dann können sie auch nicht für unsere Welt schreiben.

Vielleicht gefallen einigen unserer älteren Genossen Schriftsteller solche Passagen in unserem Arbeitsplan nicht, in denen eindringlich darauf hingewiesen wird, daß die Schriftsteller unbedingt Beziehungen zu den Werktätigen und ihren Betrieben aufzunehmen haben, ja dort von Zeit zu Zeit auch mitarbeiten sollen. Ein solches Unbehagen wäre verständlich. Sie haben viel erlebt und verfügen sicher noch über große Erfahrungen, etwa von den Stoffen aus der Geschichte der Arbeiterbewegung, die die Jugend dringend braucht. Man sollte also nichts Unbilliges von ihnen verlangen. Man sollte sie in Ruhe schreiben lassen. Aber eines darf man von ihnen, glaube ich, doch verlangen: Gerade sie sollten uns dabei helfen, die jüngeren Schriftsteller zu beflügeln; sie sollten den jungen Schriftstellern sagen, daß sie ihre Stoffe für eine volksverbundene Literatur nur finden können, wenn sie eine gute Beziehung zum Werktag unserer Republik haben.

Ich habe mir eine Übersicht darüber verschafft, welche Werke die Schriftsteller in Angriff genommen haben, und diese Übersicht zeigt folgendes: Von 109 von diesen belletristischen Arbeiten der Schriftsteller in der Republik behandeln 69 gegenwärtige Themen, 16 historische Stoffe, zehn den zweiten Weltkrieg, sieben die Geschicke der Arbeiterbewegung und sieben das Problem Westdeutschland.

Bei den Berliner Schriftstellern sehen die Arbeitsvorhaben so aus: von 70 Arbeitsvorhaben sind 39 gegenwärtige Themen, sechs historische Stoffe, sieben Themen über den zweiten Weltkrieg, 13 aus der Geschichte der Arbeiterbewegung und sechs sind den Westdeutschlandproblemen gewidmet. Ich höre schon dazu: »Er erzählt uns vom Administrieren, und jetzt ist er auf einem ähnlichen Wege.« Damit ihr recht behaltet, sage ich noch die Prozentzahlen dazu:

In der Republik beträgt die Behandlung von Gegenwartsproblemen 62,7 Prozent, in Berlin 55,5; 1958 hingegen betrug der Anteil der Gegenwartsliteratur 42 Prozent. Beruhigt euch, bitte! Ich weiß genau, daß man mit Prozentzahlen der Arbeitsvorhaben und Arbeitsplanung unserer Schriftsteller nicht viel anfangen kann. Diese Pläne müssen erst einmal erfüllt werden. Aber auch dann ist fraglich, ob jede Arbeit den Anforderungen, insbesondere den Anforderungen an Qualität, genügt. Deshalb sind die genannten Zahlen nur unvollkommene Anhaltspunkte.

Unter den Schriftstellern der Republik, die sich mit Gegenwartsproblemen befassen, sind folgende Namen zu finden: Max Zimmering, Armin Müller, Hasso Grabner, Benno Voelkner, Herbert Jobst, Herbert A. W. Kasten, Regina Hastedt, Martha Nawrath, Martin Viertel usw.

In Berlin: Willi Bredel, Elfriede Brüning, Walter Gorrish, Egel-Wiens, Heinz Kahlau, Jo Schulz, Ludwig Turek, Otto Gotsche, Gustav von Wangenheim, Alex Wedding, Hedda Zinner, Erwin Strittmatter usw. usw.


Zum 10. Jahrestag unserer Republik

Viele Schriftsteller fertigen Sonderarbeiten an, in denen sie ihre Verbundenheit mit der Republik zum Ausdruck bringen. Der Schriftstellerverband wird außerdem zum gleichen Anlaß zwei Anthologien herausbringen. Eine trägt den Arbeitstitel: »Wir wuchsen mit ihr«. Darin wird besonders davon die Rede sein, wie sich Schriftsteller in unserer Republik entwickeln. Bisher sind zwanzig Schriftsteller an Bauplätze der Republik übergesiedelt, davon sind allerdings nur sechs Berliner Schriftsteller.

Beim Schriftstellerverband selbst aber darf man in den letzten Wochen etwas optimistischer sagen: »Es tut sich etwas!« Vor allem in der letzten Mitgliederversammlung wurde besonders über die Mitarbeit bei den Brigaden der sozialistischen Arbeit gesprochen. Es kam schon so etwas wie ein Erfahrungsaustausch zustande. Inzwischen aber sind weitere Schriftsteller zu diesen Brigaden gegangen oder haben sich verpflichtet, die Arbeit dort aufzunehmen, wie Alex Wedding, Klein, Jakobs, Rackwitz, Pijet, Victor und andere. Das ist aber unter der Vielzahl der Schriftsteller, die in Berlin wohnen noch wenig. Im ganzen haben bisher 30 Schriftsteller Beziehungen zu den Brigaden der sozialistischen Arbeit aufgenommen. Ich wünsche mir sehr, es käme dahin, daß man das als eine Bildungslücke empfindet und der Auffassung ist, daß man nicht mitdiskutieren kann, wenn man nicht irgendwo in einem Werk oder auf einem volkseigenen Gut oder in einer LPG seine zweite Heimat hat. Ein bescheidener Anfang ist ja damit gemacht, er darf aber kein Anlaß zur Selbstzufriedenheit sein.

Quelle: Neues Deutschland, Nr. 116, 28. April 1959; abgedruckt in E. Schubbe, Hg., Dokumente zur Kunst-, Literatur- und Kulturpolitik der SED. Stuttgart: Seewald Verlag, 1972, S. 562-64.