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Unvermittelt wie eine verschollene Insel aus dem Meer ist Afrika, eben noch der „namenlose Kontinent“, mit den atemberaubenden Nachrichten der letzten Monate und Tage wieder deutlicher vor das Auge der Menschheit getreten. Dreimal so groß wie Europa, jedoch mit weniger als der Hälfte seiner Einwohner, schien seine stolze, von den Pharaonenreichen und Karthagern bis zu den Mauren das Weltgeschehen beeinflussende Geschichte unter der eisernen Ferse des Kolonialismus für immer zertreten und verlöscht. Skalpjäger, Busch und Wüste wurden in Europa zu seinen irreführenden Symbolen erhoben.
Die von den USA geschaffene groteske Verzerrung des schwarzen Menschenantlitzes, die ihm nur als „Watschenmann“, nur in Diener- und Schuhputzerlivree, nur als Affe der Weißen, nur als mißlungene Kreatur der ansonsten als vollkommen gepriesenen Schöpfung Gottes aufzutreten gestattete, hatte die differenzierte Geschichte Afrikas und seiner reichen Kulturen in die dunklen Kerker des Vergessens verbannt.
Scheinbar für immer. Noch als Algerien vor sechs Jahren für seine Freiheit zu den Waffen griff, wies die Karte des riesigen Kontinents nur mit vier kleinen Flecken afrikanische Staaten aus: Liberia, Libyen, Äthiopien und Ägypten. Das war alles. Diese vier Staaten bedeckten von 30 Millionen qkm Erde nur 4,2 Millionen; in ihnen lebten von 220 Millionen Afrikanern nur 46 Millionen.
Fast drei Jahrhunderte hat Afrika mit den Schätzen seiner Erde und dem Blut seiner Kinder das Zeitalter der bürgerlichen „Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit“ genährt. Es wurde ein „Geheg zur Handelsjagd auf Schwarzhäute“ — wie Marx sagte. Gefesselt, geschunden und bespien, wurden nicht weniger als 100 Millionen Sklaven in die Fremde gebracht, zumeist nach Amerika, wo sie das Feld planierten für den Wohlstand des weißen Bürgers. Von den französischen und britischen Imperialisten über die Schlachtfelder der Weltkriege getrieben, sank Afrikas Jugend in ihrem ersten Erwachen dahin.
Sagenhafte Reichtümer
Unglaublich ist der Raub, unglaublich die rasende Vernichtung, die Europas „westliche Zivilisation“ in Afrika vollbrachte. Allein in dem halben Jahrhundert des kaiserlichen Deutschen Reiches geht eine rapid beschleunigte Unterwerfung des Erdteils vor sich, an dem auch der deutsche Imperialismus maßgeblich beteiligt ist. Mit seinem „Panthersprung nach Agadir“ beschwört er 1911 zum ersten Male die Gewitterwolken eines Weltkrieges herauf.
Wie ein Polyp breitet sich die weiße Herrschaft der Maschinengewehre und Nilpferdpeitschen in dieser Zeit von 10 auf 90 Prozent des Kontinents aus. Gräßlicher als in irgendeinem anderen Kolonialgebiet sind die Verelendung und der Rückschlag, die Afrika in seiner Entwicklung erleiden muß.
Dabei sind die Schätze des Kontinents sagenhaft. Von dort bezieht die kapitalistische Welt 40 Prozent ihres Chroms, 81 Prozent ihres Kobalts, 99 Prozent ihrer Diamanten, 63 Prozent ihres Platins, 75 Prozent ihres Urans, fast die Hälfte ihres Kupfers, Bauxit, Golds, und noch sind – wie die Ölfunde in der Sahara zeigen – Afrikas Reichtümer nicht ganz erforscht.
Dies ist der Mutterboden für eine heldenmütige und opferreiche Aufstandsbewegung, die sich über Jahrhunderte fortpflanzt. Doch erst die allgemeine Krise des Kolonialsystems, die mit der Oktoberrevolution einsetzt, bewirkt das Entstehen moderner nationaler Organisationen, darunter der ersten Gewerkschaften, die an die Spitze von Afrikas Freiheitskampf treten.
Sozialismus — Beschleuniger historischer Prozesse
Nach dem zweiten Weltkrieg hat diese Krise sich vertieft. Unter der Decke letzter grausamer Auswüchse des Kolonialterrors bricht der Beweis für eine der kühnsten Marxschen Prognosen mit großer Plötzlichkeit hervor: Der Sozialismus wirkt als „Beschleuniger“ der historischen Prozesse. Die Existenz des sozialistischen Weltlagers stärkt den Freiheitskampf der Kolonialvölker und zwingt den Imperialismus, wie das Suez-Beispiel später politisch und militärisch zeigt, von den brutalsten Konsequenzen seiner Unterdrückungsmethoden zurückzustehen.
Noch scheint es einen Augenblick, als würde Afrikas Ruf nach Freiheit und Unabhängigkeit im Blute des madagassischen Aufstandes von 1947 erstickt werden können. Zu heftig jedoch schlägt die Welle der nationalen Befreiungskämpfe um den Globus, als daß sie sich an Afrikas Küsten brechen könnte. Von Madagaskar und dem algerischen Krieg, von den Aufständen, Zusammenstößen und Metzeleien in Kenia, Gabun, Njassaland, Kamerun, Leopoldville, von der ersten afrikanischen Staatenkonferenz im April 1958 bis heute trägt sie das Schiff der nationalen Unabhängigkeit siegreich von Hafen zu Hafen.
In dem hinter uns liegenden Jahrzehnt hat sich die farblose – nur von vier bzw. fünf bunten Flecken unterbrochene – Öde der afrikanischen Landkarte mit 20 neuen Tönen belebt. Von diesen neuen Staaten entstanden acht allein in dem einzigen Monat August 1960.
Die Rolle der Kolonialländer als einer Reserve des Imperialismus ist verspielt. Mit ihren Freiheitsbewegungen, deren Feuer ganze Kontinente erfaßt, verwandeln sie sich – wiewohl im wesentlichen Revolutionen bürgerlich-demokratischen Charakters – in einen Bundesgenossen der progressiven, antiimperialistischen, der Friedenskräfte. Ihre Explosivkraft zeigt sich in dem beschleunigten Tempo des Abfalls der Kolonien von den „Mutterländern“ – optisch in der radikalen Verschiebung des Stimmenverhältnisses in der UNO zuungunsten der imperialistischen Mächte – und im Anschluß der neuen Staaten an die „Zone des Friedens“, an die lebendigen Kräfte der Völker, die im Begriff stehen, den Krieg von dem Thron der „unausbleiblichen Notwendigkeit“ zu stoßen.
Das Tempo der afrikanischen Entwicklung und die Eindeutigkeit ihrer progressiven historischen Aussage haben die ganze Welt verblüfft. Jede genauere Betrachtung des hinter uns liegenden Prozesses fördert mit der Problematik Afrikas immer wieder die Wucht des Völkersturms gegen diese Festung des Imperialismus zu Tage.
Das Jahr Afrikas
Als die erste afrikanische Staatenkonferenz im April 1958 zusammentrat, hatte es neun afrikanische Staaten gegeben, von denen nur einer, Ghana, ein schwarzafrikanischer war. Die unmittelbare Wirkung des auf der Konferenz sichtbar gewordenen Massendrucks war, daß Guinea als erstes (und bis heute noch vereinzelt gebliebenes) ehemals französisches Kolonialgebiet in Schwarzafrika sich völlig unabhängig machte, indem es alle Bindungen mit der sogenannten „Französischen Gemeinschaft“ zerriß. Guineas anfeuerndes Beispiel vor Augen, gaben die Abgesandten Afrikas auf der darauffolgenden Völkerkonferenz im Dezember desselben Jahres die Parole aus: „Afrikaner, zerbrecht eure Ketten. Ganz Afrika muß frei sein!“
Einen Monat später hatte dieser Ruf seinen Widerhall in den Demonstrationen und Zusammenstößen von Leopoldville gefunden, Die im Januar 1960 in Tunis tagende zweite afrikanische Völkerkonferenz erhöhte den antiimperialistischen Druck derartig, daß in dem kurzen Zeitraum seither die Fahne der Unabhängigkeit nicht allein in der Hauptstadt Kongos, sondern in weiteren 13 afrikanischen Hauptstädten gehißt werden konnte.
Die oft verwirrenden und nicht selten dramatischen Nachrichten aus Afrika – die Ereignisse in der Mali-Föderation und in der Republik Kongo sind Beispiele hierfür – reflektieren die Schwierigkeiten und auch die Probleme des jungen Kontinents. Der nationale Sturm hat sich noch nicht voll entladen, da sieht er sich schon einem in gestaffelter Front vorgetragenen Gegenangriff der Kolonialausbeuter gegenüber:
In Algerien führt der Imperialismus Krieg, in Katanga bedient er sich schwarzer Lakaien, um die nationale Front zu schwächen, in anderen Staaten zeigt er sich – einen nicht mehr zu meisternden nationalrevolutionären Orkan fürchtend – „elastisch“. Überall ist das Ziel dasselbe: Er will seine politischen, vor allem aber die wirtschaftlichen Positionen wahren und sie, wo nötig, durch neue vertragliche Verflechtungen oder minderwertige, korrupte „Beteiligungen“ einheimischer Kompradoren tarnen und „modernisieren".
Die Gefahr des Neokolonialismus
Nur ein im kalten Krieg versteinertes Denken weist den Begriff „Neokolonialismus“ als „kommunistisches Schlagwort“ zurück. Der Völkerkongreß von Tunis, der für das Afrika aller Schattierungen sprach, wendete sich energisch gegen diesen „modernen“ Ersatz für koloniale Verknechtung. Er warnte dringend vor „kleinen Reformen“, „fiktiver Selbständigkeit“ und wirtschaftlichen und politischen Bindungen, die die Unabhängigkeit ihres „revolutionären Inhalts berauben“.
Tatsächlich ist der Grad der neugewonnenen Selbständigkeit in den einzelnen Staaten sehr verschieden. Allen gemeinsam jedoch ist, daß ihre Unabhängigkeit die unmittelbare Frucht der allgemeinen afrikanischen Unabhängigkeitsbewegung darstellt, die der Motor für die anhaltende politische Vorwärtsbewegung des Kontinents ist.
Afrikas Weg zur Freiheit ist von den Imperialisten zweifellos vielfach vermint worden. In dem Katalog der Schwierigkeiten und Gefahren figurieren Führer, die für die allerengste Zusammenarbeit mit den Regierungen der „Mutterländer“ eintreten und die sich für die eingestandene Politik der „Balkanisierung“ Afrikas mißbrauchen lassen, wofür die Vorgänge in der Republik Kongo ein Beispiel sind.
Aber auch die politische Unabhängigkeit bedeutet noch nicht die vollständige Befreiung vom Joch des Imperialismus. Die wirtschaftlichen Positionen, die er sogar noch in Ländern wie Ghana, Marokko und Tunesien besitzt, sind überragend.
Seit Kriegsende haben die westlichen Kapitalinvestitionen in Afrika bei stärkster Beteiligung des amerikanischen und bemerkenswerter Aktivität des westdeutschen Monopolkapitals rapide zugenommen – nicht ohne heftige Interessengegensätze sichtbar werden zu lassen.
Afrika, „dieser phantastische Erdteil von lebenswichtiger Bedeutung für die westliche Welt nicht nur wegen seiner strategischen Lage und des Überflusses an Rohstoffen“ – so charakterisiert ihn der amerikanische Schriftsteller John Gunther – soll für den Verlust Asiens und die Einengung des kapitalistischen Weltmarktes entschädigen. Freimütig wird er als „letzte Grenze“ des weißen Mannes bezeichnet, als entscheidendes Aggressionsarsenal der westlichen Mächte gegen die sozialistischen Staaten, und das erklärt auch den auffallend engen Zusammenhang der wirtschaftlichen mit den strategischen Plänen des Westens.
Wichtiger Abschnitt im Kampf für Frieden und Fortschritt
Aber die augenblickliche politische Lage in Afrika, das erwachte und siegende nationale Selbstbewußtsein des Afrikaners vertragen sich mit solchen „Weißmanns-Konzeptionen überhaupt nicht. Je mehr man ihm die „Gefahr des Weltkommunismus" aufschwatzen will desto mehr wehrt er sich gegen die Bevormundung.
Auf der Konferenz von Tunis erklärte ein nordrhodesischer Delegierter, man versichere des öfteren, daß das verhaßte Fremdenregime notwendig sei, um gegen Rußland zu kämpfen. „Aber wieso müssen wir uns ausbeuten lassen“, fragte er, „wenn zwei fremde Stämme miteinander streiten? Wir haben eigene Probleme: Armut, Freiheit, Gerechtigkeit...“.
Es ist ein schwieriges Unternehmen, die Sowjetunion und die sozialistischen Staaten in Afrika zu verleumden. Jedermann dort kennt ihre Rolle während der Suezkrise, beim Bau des Assuan-Staudamms sowie die vielen anderen und populären Beispiele wirtschaftlicher und politischer Hilfeleistung.
Afrikas Kampf um die Freiheit ist auch ein Kampf gegen die Stützpunktpolitik und für Neutralität – die gleichen Ziele, die wir uns für Deutschland stellen. Mit der Abrüstung als ihrer Konsequenz ist dies die erste und noch von keinem westlichen Gedanken übertroffene Antwort der Völker aller Kontinente auf ihre besorgte Frage nach Frieden und sozialem Gedeihen.
Quelle: „Der Riese Afrika reckt seine Glieder“, Neues Deutschland, Nr. 258, 18. September 1960, S. 5B.