Kurzbeschreibung

Der Autor plädiert dafür, die sich einbürgernde Bezeichnung „Gastarbeiter“ für die ausländischen Arbeitskräfte in der Bundesrepublik ernst zu nehmen und sie zuvorkommend zu behandeln. In den Herkunftsländern bestehen Bedenken hinsichtlich der neuen sozialen Prägungen der Gastarbeiter, die ihre Wiedereingliederung zu Hause erschweren könnten. Das deutsche Anwerbesystem funktioniert teilweise unzureichend, und die deutsche Bürokratie kollidiert mit der Mentalität der südeuropäischen Arbeitskräfte.

„Die Ausländischen Arbeitskräfte und wir”, Frankfurter Allgemeine Zeitung (3. Juni 1961)

  • L. Kroeber-Keneth

Quelle

Blenden wir kurz zurück. Im November 1955 schreibt ein angesehenes deutsches Blatt: „Ob tatsächlich in betracht kommende Italiener in größerer Zahl bereit sind, in Deutschland zu arbeiten, läßt sich zur Zeit noch keineswegs eindeutig beantworten.“ Wie berechtigt dieser Zweifel ist, zeigt das erste halbe Jahr der Laufzeit des deutsch-italienischen Arbeitskräfte-Abkommens; ganze 1800 Arbeitskräfte für die Industrie konnten auf den Weg gebracht werden. Und Anfang Juli 1956 spricht die Turiner La Stampa von einem völligen Fehlschlag der Werbeaktion. Und heute? Im Mai 1961 waren in der Bundesrepublik 440 000 ausländische Arbeitskräfte gemeldet, 200 000 aus Italien, 38 000 aus Spanien, 35 000 aus Griechenland. Insgesamt rechnet man für dieses Jahr mit rund 550 000 beschäftigten Ausländern gegenüber 350 000 im Vorjahr. Zahlenmäßig ist das Experiment der großen Süd-Nord-Wanderung über Erwarten geglückt. Das Hauptverdienst daran gebührt den Deutschen Kommissionen der Bundesanstalt für Arbeitsvermittlung in Verona, Neapel, Madrid, Athen. Sie haben unter den schwierigsten Umständen eine Aufbauarbeit geleistet, für die sie mehr Kritik als Dank geerntet haben. Eine andere Frage ist, ob das ganze System der Anwerbung noch den Gegebenheiten entspricht. Von einer eigenen Konzeption der Wirtschaft für die Anwerbung und Dauerbeschäftigung der Ausländer ist freilich bisher nichts bekannt geworden.

Kalkulationen auf schwankendem Grund

Der positive Rückblick sollte uns auch nicht allzu zukunftssicher stimmen. Wir haben uns sehr an den ständig steigenden Zustrom ausländischer Arbeitskräfte gewöhnt. Wir kalkulieren mit ihm als einem festen Faktor unserer Wirtschaft. Es gibt Großunternehmen, deren Ausbaupläne so gut wie ausschließlich auf diesem Kalkül beruhen. Ob diese Rechnung aufgeht, ist nicht sicher. Zum Teil freilich wird es auch an uns liegen, am Zielland. Sicher ist, daß sich die ausländischen Arbeitsmärkte versteifen. Teils werden sie effektiv enger; teils machen sich Widerstände geltend, wobei der offizielle Standpunkt eines Auswanderungslandes nicht immer dem realen entsprechen muß. Zunächst zu Italien: Einstmals sprach man vom Königreich beider Sizilien. Wir sollten uns gedanklich mit dem Begriff „Republik beider Italien vertraut machen. So groß ist das Gefälle zwischen dem hochindustrialisierten Norden und dem archaisch-landwirtschaftlichen Süden: Durchschnittsverdienst in der Provinz Mailand 3500 Mark pro Jahr, in der Provinz Neapel 2000 Mark, in Kalabrien nach amtlichen Angaben 600 Mark. Norditalien insonderheit das Industriedreieck Mailand—Turin—Genua hat keine qualifizierten Arbeitslosen mehr. Im Gegenteil. In Italien spielt sich ein in seiner hundertjährigen Geschichte nie dagewesener, umwälzender Vorgang ab: Die Polentoni werben um die Terroni. Die als hochnäsig verschrienen „Polentafresser“ hofieren die bisher gering geschätzten Leute aus dem Mezzogiorno, aus dem angeblich nur viel Geld schluckenden – eine Milliarde Mark pro Jahr – und nichtstuenden Süden. Dabei erleben die Polentoni die gleiche Überraschung wie wir: Die Terroni sind gar nicht so! Zu einem großen Teil sind sie geradezu erschreckend fleißige und unverbraucht anstellige Leute! (Nur am Rande bemerkt und als Beispiel für die Schwierigkeit der Verständigung: es ist hoffnungslos „Terroni“ übersetzen zu wollen, weil hier zwei Wortstämme mitschwingen: terra und terrore. Aber das Wort enthält gefährlichen Zündstoff wie etwa Boche oder seinerzeit im Elsaß „Wackes“.)

Verwundert entdeckt der Norden auch wieder, daß Neapel zur Zeit der vielverschrienen Bourbonen mehr Industrie besaß als Mailand. Sie können schon arbeiten, die Leute aus dem Mezzogiorno. Nur haben sie einen anderen Rhythmus und eine andere Einstellung zum Leben und Beruf, und da liegen Italiens Probleme. Im Zusammenhang mit diesen späten Erkenntnissen und dem eigenen Kräftebedarf streckt die norditalienische Industrie zielbewußt die Fühler nach dem Süden aus und erleichtert dort nicht nur Zweigbetriebe sondern auch bedeutende Industriezentren. In Brindisi baut der Chemie-Konzern Montecatini ein Werk mit einem Kostenaufwand von 550 Millionen Mark. Noch großzügiger ist die Planung für das Hüttenwerk bei Tarent mit 1,3 Milliarden Mark. Und umgekehrt bemüht man sich im Norden um die Berufsausbildung der bisher gerade geduldeten Leute aus dem Süden. Die Fiat-Werke etwa, die bis vor kurzem fast nur Söhne und Angehörige ihrer eigenen Werksangehörigen ausbildeten, haben Fachschulen für die eingewanderten Süditaliener eingerichtet. Damit verdichtet sich am Alpenrand ein Auffangfilter gegen die Abwanderung und schon zieht die Mailänder Wirtschaftszeitung 24 ore gegen den „schädlichen Export“ italienischer Arbeitskräfte vom Leder.

Spanien und . . .

Widerspruchsvoll ist auch die Situation in Spanien: Die spanische Presse hat bekanntlich Ende vorigen Jahres „aus heiterem Himmel“ eine regelrechte Kampagne gegen die Verpflichtung von Arbeitskräften nach Deutschland vom Zaun gebrochen. In einer Reihe Zeitungen wurde das Schicksal Deutschlands in düsteren Farben geschildert: Sie würden von deutschen Abenteurern, Wucherern und Geschäftsleuten rücksichtslos ausgeplündert; sie würden unter Tarif bezahlt. Das System der Ratenzahlung sei eine weitere Form der Ausplünderung. Dazu der Mietwucher der Vermieterinnen, die in allen Wohnecken Betten aufstellen zum Preise eines Palasthotels. . .

Lassen wir den Wahrheitsgehalt dieser Anschuldigungen einstweilen dahingestellt. Zu leugnen ist nicht, daß sich auf dem schwarzen und grauen „Ausländer-Arbeitsmarkt“ manche zwielichtigen Gestalten zu betätigen suchen. Der deutsche Botschafter in Madrid hat seinerzeit „ernste Bedenken“ gegen diese gesteuerten Zeitungsübertreibungen angemeldet und Professor Erhards Besuch in Spanien hat den Himmel kostenpflichtig aufgehellt. Geblieben aber ist der Eindruck einer zwiespältigen Haltung maßgebender spanischer Kreise: Gern entlastet man sich von seinen Arbeitslosen, zugleich aber befürchtet man die politische Einstellung und Umstellung der spanischen Rückkehrer. Das ist nachfühlbar. Vorsichtshalber lässt man sie schon in Deutschland nicht ganz unbeobachtet.

. . . Griechenland

Griechenland endlich hat nie einen Hehl daraus gemacht, da es in der Abwanderung seiner Arbeitskräfte einen vorübergehenden Zustand sehen möchte und, daß es der Industrialisierung des eigenen Landes den Vorzug gibt. In der industriellen Ausbildung der Abwanderer erblickt man eine erforderliche Zwischenstufe. Die ausländische Arbeitskraftreserve ist also schwer abschätzbar. Allein für Italien schwanken amtliche und halbamtliche Schätzungen zwischen

500 000 und 1.5 Millionen. Auf jeden Fall müssen wir uns mit Norditalien, Frankreich und der Schweiz teilen, wo Löhne und Sozialversicherung eher günstiger liegen als bei uns und wo hinsichtlich der Mentalität – wenn man von Norditalien absieht – weniger Anpassungsschwierigkeiten bestehen.

Des deutschen Spießers Wunderhorn

Ein besonders feines Ohr für die Zwischentöne ausländischer Mentalität war bekanntlich noch nie unsere starke Seite. Es ist hohe Zeit darauf zu achten, daß nicht unser Middle-Management – angefangen vom Polier und Vorarbeiter bis in die Betriebsleiterschicht hinein – aus Tollpatschigkeit mehr Porzellan zerschlägt als Botschafter, Personalchefs und Sozialbetreuer kitten können. Auch eine leidlich gefüllte Lohntüte wiegt die gar nicht bös gemeinte Anrede: „He du Makkaroni!“ nicht auf. Die mediterranen Völker haben viel mehr gemeinsam als man denkt. Dazu gehört die sensibilita’, was wieder einmal nicht zu übersetzen ist. „Reagibilität“ kommt vielleicht am ehesten hin, aber mit dem Unterton einer großen Verletzbarkeit, die durchaus nicht immer kundgetan wird. Aber man täusche sich darüber nicht! Was den Ausländer hierzulande am meisten verdrießt, sind noch nicht einmal die Wohnverhältnisse. Obgleich sie nicht so sind, wie uns ein offiziöser Unternehmer-Narichtendienst arglos versichert: „Vorwürfe wegen schlechter Unterbringung dürften im allgemeinen unberechtigt sein.“ Was dem Ausländer auf Schritt und Tritt auf die Nerven fällt, das ist die weitverbreitete spießbürgerliche, schulmeisterliche Selbstgerechtigkeit unserer sozialen Mittelschichten. Das ist wenigstens die Auffassung der wohl besten Kenner der Materie, nämlich der italienischen Sozialbetreuer. Die Unterkunftsverhältnisse haben sich im letzten Jahr gebessert. Mit den von der Bundesanstalt bereitgestellten 100 Millionen werden sie sich weiter bessern. Die Verpflegungssitten werden sich wechselseitig einspielen. Das alles ist wichtig. Entscheidend jedoch ist, ob wir uns auf die ausländischen Arbeitskräfte einspielen, ob wir die richtige Einstellung finden. Alfred Krupp hat in seiner Rede beim Firmenjubiläum im März dieses Jahres gefordert: „Wir sollten alle bemüht sein, ihnen den Aufenthalt in der für sie fremden Umgebung so angenehm wie möglich zu machen.“ Bis wie weit herunter hat dieser Funke gezündet? Zunächst aber müssen wir selbst über Grundsätzliches ins reine kommen: Sind unsere jetzigen ausländischen Arbeiter eine Neuauflage der ehemaligen Wanderarbeiter? Oder sind sie im Prinzip etwas Neues? Sind sie hands, die man anwirbt und wieder entlässt, oder sind sie ein nicht mehr entbehrlicher Faktor unserer Wirtschaft? Wieweit sind sie als Rückkehrer bei sich zu Hause die Schrittmacher der Industrialisierung und des dazugehörigen Marktes? Und endlich, wieweit ist der Arbeitskräfte-Ausgleich ein Bestandteil der noch schattenhaften Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft? Von der Frage, wie wir uns zu den ausländischen Arbeitskräften einzustellen haben, hängt im Grunde alles ab, bis hinein ins praktische Detail; zum Beispiel bis zur Bauweise der Unterkünfte. Die Antwort ist heute noch nicht leicht, denn sie eilt eben der Gegenwart voraus. Die Schwierigkeit beginnt schon mit einer nicht gelösten Vorfrage.

Diese Frage ist weder belanglos noch gar überflüssig. Der Terminus nimmt Entscheidungen vorweg und deutet Entwicklungen an. Allein schon, daß wir keinen zwingenden, feststehenden Begriff für diese Menschenschicht haben, belegt unsere Unsicherheit. Es ist eine alte Erfahrung: Wo der entsprechende Terminus fehlt, da ist auch der Inhalt nicht geklärt. Seinerzeit sprach man von „Wanderarbeitern“. Gott bewahre uns davor, daß unsere ausländischen Arbeiter noch mehr wandern! Im Dritten Reich hießen sie Fremdarbeiter. Das war eindeutig: Sie sollten für uns arbeiten, und sie sollten fremd bleiben. Ist das unser Ziel? Doch nicht.

Die Schweiz spricht auch heute unbefangen vom „Fremdarbeiter“. Sie kann es. Das Wort ist dort nicht politisch überschattet. Mehr als das: In der Schweiz hat die Bezeichnung „Fremdarbeiter“ einen tieferen, warnenden Sinn. Bei fünf Millionen Einwohnern wird die Zahl der ausländischen Arbeiter in diesem Jahr 400 000 weit übersteigen. Rund ein Viertel der berufstätigen Bevölkerung stammt also aus dem Ausland. In Frankreich sind es 8 Prozent, bei uns einstweilen 1,8 Prozent. Die Schweiz steht vor einem echten Dilemma: Auf der einen Seite erfordert die Erweiterung der Produktion die Hereinnahme neuer ausländischer Kräfte. Auf der anderen Seite erhebt sich die Besorgnis vor der Überfremdung.

Hierzulande wird die Zahl der „Fremdarbeiter“ in diesem Jahr zwar einen Rekord erreichen, bei dem es aber bei anhaltender Konjunktur noch nicht bleiben kann. Das deutsche Kräftepotential steigt bis 1975 in absoluten Zahlen nicht mehr. Im Verhältnis zu den erwerbstätigen Jugendlichen und Alten nimmt es sogar ab. Damit stehen wir vor einem anderen Dilemma: Entweder die Zahl der hier tätigen Ausländer erhöhen, wobei wir bereits auf den Widerstand der Heimatländer stoßen, oder aber Industriebetriebe im Ausland errichten. Die dritte Möglichkeit wäre die Assoziierung mit ausländischen Unternehmen, die von Griechenland und Spanien nachdrücklich gewünscht wird, freilich nicht immer verbunden mit der erforderlichen Konzessionsbereitschaft. Unabhängig aber, wohin die Entwicklung tendiert, verlangt unser eigenes Interesse, daß die ausländischen Arbeiter bei uns nicht „fremd“ bleiben, sondern sich dem Gastland bis zu einem gewissen Grad assimilieren und als bereitwillig Assimilierte in ihre Heimatländer zurückkehren. Damit ist zugleich auch eine Grenze angedeutet: „Ausländer-Ghettos“ würden, selbst wenn sie bestens gepflegt sind, das Ziel der Assimilierung blockieren.

Die jetzige Bezeichnung „Ausländische Arbeitskräfte“ ist eine Ausgeburt der Bürokratie! Im Alltag überhaupt nicht zu gebrauchen: „Giuseppe, die ausländische Arbeitskraft…“. Und damit berühren wir wieder allein schon durch den Terminus den neuralgischen Punkt überhaupt: Die große Wanderbewegung klemmt sich mühsam durch das Netz der Bürokratien oder aber an ihm vorbei. Nach dem EWG-Vertrag ist spätestens bis zum Ablauf der Übergangszeit die Freizügigkeit für alle Arbeitnehmer der Mitgliedsstaaten herzustellen. Dazu Helmut Minta, der Leiter der Auslandsabteilung der Zentralstelle für Arbeitsvermittlung (ZAV): „Diese Freizügigkeitserklärung der WEG wird….mehr als 70 Millionen Arbeitnehmer umschließen. Es ist zu hoffen, daß sich diese Regelung nicht in der Erledigung von Formalien und bürokratischer Papierbewegung erschöpft, sondern daß ein Verfahren gefunden wird, das der europäischen Wirtschaft und den europäischen Arbeitnehmern mit Hilfe einer individuellen funktionsfähigen Arbeitsvermittlung erlaubt, dort Bewerber oder Stellen zu finden, wo und wie sie gewünscht werden.“ Ähnlich der Präsident des Landesarbeitsamtes Südbayern, Dr. Siebrecht: „Ein erfolgreicher europäischer Arbeitsmarktausgleich…setzt eine ausgezeichnet funktionierende unbürokratische Arbeitsvermittlung und Anwerbung…voraus, wobei staatliche Maßnahmen und private Initiative ineinandergreifen sollten.“

Das ist eben die große Frage: Kann es überhaupt eine behördlich gesteuerte und dabei individuelle, unbürokratische Anwerbung und Vermittlung geben? Ist das nicht ein Widerspruch in sich? In der Praxis jedenfalls sind wir von diesem Ideal weit entfernt. Der Generaldirektor des Katholischen Auswanderer-Instituts in Madrid F. Ferris, hat unlängst auf einer Tagung in Freiburg unverhohlen erklärt: „In Spanien werden die für den Export bestimmten Apfelsinen sorgfältiger ausgewählt als die nach Deutschland entsandten Arbeiter.“ Andererseits hat aber auch noch niemand etwas von einer weitsichtig geplanten privaten Initiative der Wirtschaft gehört. Vorderhand stehen wir vor der Symbiose zweier Bürokratien: der mediterranen, traditionell schlecht funktionierenden, streckenweise auch korrupten, weil schändlich bezahlten, und der deutschen traditionell überfunktionalisierten.

„Nix arbeiten, nur besuchen…..“

Begnügen wir uns mit der Feststellung, daß das Vermittlungssystem aus den Nähten birst: 1960 sind 93 000 Italiener mit Legitimationsmarken der deutschen Außenstellen in die Bundesrepublik gekommen und weitere 43 000 auf „schwarzem Weg“. Von den 16 000 in der Bundesrepublik beschäftigten Spaniern sind mindestens 6000 „Schwarzgänger“, die als Touristen getarnt eingewandert sind. Insgesamt liegen bei den Deutschen Kommissionen rund 66 000 unerledigte Anforderungen vor. Gleichzeitig aber spielen sich an den Hauptgrenzübergängen tagtäglich ebenso turbulente wie unwürdige Szenen ab. Sie berühren auch unser Verhältnis zu den Transitländern Österreich, Schweiz und Belgien, und zwar recht empfindlich. Greifen wir einen einzigen beliebigen Augenzeugenbericht heraus. Die Klammern sind von uns gesetzt:

„Ich in Deutschland nix arbeiten (!), nur Freund besuchen!“ schrien immer wieder Hunderte von Italienern wild gestikulierend den Grenzbeamten in die Ohren. Aber die Grenzer ließen sich die Koffer öffnen und sahen hinein. Drinnen fanden sie meist Arbeitskleidung (!), und außerdem hatten die merkwürdigen Besucher kein Geld bei sich (!) nur eine einfache Fahrkarte. Die Fälle waren klar: Die Italiener wollten zur Arbeit (!) in die Bundesrepublik. Aber sie hatten keine Sichtvermerke, die sie zur Arbeit berechtigten. (Aber wir haben 500 000 unbesetzte Arbeitsplätze, davon allein 150 000 im Baugewerbe.). Und so mussten (!) sie wieder zurückgewiesen werden…Meist haben die Italiener, die schwarz in die Bundesrepublik einreisten, „etwas auf dem Kerbholz“, sagt die Grenzpolizei. Denn jeder, der in der Bundesrepublik arbeiten will, kann sich durchaus ordnungsgemäß an einer der beiden Zweigstellen der Bundesanstalt für Arbeitsvermittlung melden….“

Zu dieser ebenso logischen wie wirklichkeitsfernen Polizistenlogik nur zwei Bemerkungen: Italien hat eine Länderausdehnung von fast 2000 Kilometern. Zum Zweiten: Je tiefer es in den Süden geht, desto mehr walten die einheimischen Behörden – nicht nur die italienischen – als eine Abart des unbegreiflichen Fatums. Die Ausfertigung der erforderlichen Papiere kann rasch gehen, sie kann Monate dauern. Es hat verbürgtermaßen schon bis zu einem Jahr gedauert. Zum nicht geringen Teil hängt es davon ab, wie man „Oben“ angeschrieben ist. Der Schwarzgänger kann natürlich etwas ausgefressen haben, aber er muss nicht. Jedenfalls lohnt es, den obigen Bericht in seiner ganzen Stupidität aufmerksam und zweimal zu lesen. So sieht vorderhand der Anmarsch zur Freizügigkeit der Arbeitskräfte und zur Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft aus. Dabei ist eine Steuerung der Einwanderung unerlässlich. Wenn sie nicht die Waage hält mit den Unterbringungsmöglichkeiten, dann entstehen Slums der schlimmsten Sorte und ein illegaler Menschenhandel vor dem Gott bewahre. Die Kernfrage ist, wie koppelt man das behördliche Vermittlungssystem, das gesetzlich verankert und wohl auch unerlässlich ist, mit der proklamierten individuellen Werbung und Freizügigkeit?

Gastarbeiter – eine neue Bezeichnung für die Fremden

Auch der Begriff Gastarbeiter klingt noch fremd und ist auch nicht ohne inneren Widerspruch: Gemeinhin erwartet man vom Gast nicht, daß er beim Gastgeber arbeitet, bei ihm Geld verdient und es zum Teil auch wieder ausgibt. Auch ist der „Gast“ im eigentlichen Sinne nicht darauf bedacht, in möglichst kurzer Zeit möglichst viel Geld zu verdienen, womit er zum Schrecken der „angestammten Dienstleute“ wird. Die Gastfreundschaft alten Stils stand unter dem hohen Schutz des Jupiter Hospitalis und beruhte auf einem bargeldlosen Patronatsverhältnis. Seither freilich hat die Geldwirtschaft Fortschritte gemacht. Ob der Ausdruck „Gastarbeiter“ Wurzeln schlägt, kann nur die Zukunft zeigen. Erzwingen lässt er sich nicht. Auf jeden Fall aber wäre er erfreulicher und handlicher als „ausländische Arbeitskräfte“, ganz zu schweigen von der vorbelasteten und irreführenden Bezeichnung „Fremdarbeiter“. Wozu dieser Terminus verleiten kann, belege der Auszug aus dem Vertrag, den eine Firma im hessischen Raum ihren italienischen Arbeitern vorzulegen beliebt hat: „Der Fremdarbeiter hat sich so zu verhalten, daß niemand von ihm belästigt wird; er hat auch Beleidigungen zu unterlassen. Bei nachlässiger Arbeit kann der Arbeitgeber die sofortige Entlassung des Fremdarbeiters vornehmen…“ Freunde, nicht diese allzu vertrauten Töne! Könnte man dem „Gastarbeiter“ ein dergestaltes Schriftstück anbieten? Vielleicht doch nicht ganz so leicht. Jedenfalls ist es nicht gleichgültig, unter welcher Bezeichnung, und das will besagen, unter welchem Gesichtswinkel, wir uns mit dem ausländischen Arbeiter auseinandersetzen.

Der Goodwill der Rückkehrer

Vor dem Ersten Weltkrieg kamen im Jahresmittel rund 750 000 Wanderarbeiter über die Grenzen des Reiches. Also viel mehr als heute. Hier arbeiteten sie unter halbkolonialen, das heißt schandbaren Bedingungen. Es verdient auch Erinnerung, daß bereits 1907 dreißig Betreuungsstellen der Caritas bestanden; heute sind es ebensoviel. Dessenungeachtet waren die berüchtigten „Schnitterkasernen“ eine feststehende, unausrottbare Institution. Für die italienischen Ziegeleiarbeiter im Süden des Reiches galten Schlafstätten in den gut durchgewärmten Ziegelstadeln geradezu als Nobelquartier. Hier wird greifbar, wie sich die Dinge gewandelt haben. Weder uns noch den Heimatländern ist es gleichgültig, in welcher Stimmung und Verfassung der Gastarbeiter von uns scheidet, schon aus einem gern übergangenen Punkt: Die politische und soziale Ordnung aller mediterraner Staaten ist labiler und anfälliger als man wahrhaben will. Der gebildete Grieche, dem politischen Gespräch von alters her mit Lust zugetan, macht aus seiner Besorgnis keinen Hehl: Wie werden sich die Rückkehrer wieder zurechtfinden, wenn sie einmal die letzte Bindung an ihr Dorf, an die Großfamilie und die traditionelle Armut verloren haben? Werden sie nicht den gärenden Untergrund in Athen, im Piräus, in Saloniki nähren? Spanien schwankt zwischen ähnlichen Sorgen und Italien könnte noch in diesem Jahr unversehens zum politischen Sorgenkind Europas werden. Der Corriere della Sera hat es erst unlängst als „Alarmruf“ kundgemacht. Über eines sei man sich im klaren: Wer vom „Goldenen Westen“ enttäuscht in seine Heimat zurückkehrt, wendet den Blick – nach dem Osten. Man sollte dieses politische Ferment in Ländern mit einer anfälligen sozialen Struktur nicht unterschätzen.

Anwerbestellen fehlen

Die Deutschen Kommissionen im Ausland sind viel gescholten worden. Den einen arbeiten sie viel zu langsam, wobei übersehen wird, daß der eigentliche Hemmschuh im Gestrüpp der ausländischen Arbeitsverwaltungen liegt. Den anderen arbeiten sie zu schnell, zu flüchtig und summarisch. Dabei hat noch kein Kritiker das Rezept mitgeliefert, wie man die unterkunftslose Menschenfracht eines Transportzuges „abfertigen“ soll. Wer je mit Personalorganisation im großen Stil zu tun gehabt hat, wird diesen Kommissionen die Achtung nicht versagen. Wenn die Klagen trotzdem nicht abreißen, wenn die Flut der Arbeitswilligen noch immer von allen Seiten her unregistriert über die Grenzen drängt, dann liegt es am System selbst, das sowohl der Verfeinerung, wie der Verdichtung, als auch der Ergänzung durch die Privat-Initiative bedarf.

Zu wünschen wäre eine Vermehrung der Anwerbestellen. Zum zweiten wäre an die Errichtung von Auffanglagern an den Hauptgrenzpunkten zu denken, auch im Interesse unseres bereits belasteten freundschaftlichen Verhältnisses zu den Transitländern. In Salzburg etwa hat es schon der Ärgernisse genug gegeben. Selbstverständlich müßten solche Auffangstellen organisatorisch und hygienisch einwandfrei sein, versehen mit einem ausreichenden Dolmetscherstab und ausgestattet mit einem leistungsfähigen Fernsprech- und Fernschreibe-Apparat. Auch für die Wirtschaft wäre es nützlicher, an solchen Sammelstellen geschulte Sachbearbeiter zu unterhalten als fallweise einen eiligen Beauftragten mit bisweilen völlig abwegigen Vorstellungen und Wünschen ins Ausland zu entsenden, wo sie den Deutschen Kommissionen das Leben nicht gerade erleichtern.

Nicht zu viel kommandieren

Damit berühren wir nicht nur ein organisatorisches, sondern ein grundsätzliches, Problem, das die hierzulande so wenig bekannte Mentalität der mediterranen Länder betrifft: Der Südländer ist im Prinzip – sagen wir es gelinde – behördenscheu. Er hat ein tiefes Misstrauen gegen den heimatlichen staatlichen Apparat. Er hält es beinahe für geboten, ihn zu umgehen. Somit muß der Mann aus Kalabrien und Apulien nicht etwas „ausgefressen“ haben, wenn er als Schwarzgänger an unseren Grenzen landet. Der bayerische Innenminister hat unlängst unter dem Ansturm der Klagen aus dem Grenzbereich „Abhilfe in unverschuldeten Härtefällen“ zugesagt. Das ist dankenswert. Aber darum handelt es sich gar nicht. Sondern es handelt sich um die magische Anziehung unseres seltsamen „Wunderlandes“ auf Völkerschichten, die zum Teil noch selbst im magischen Wunschdenken leben und für die die behördliche Reglementierung zunächst etwas Unbegreifliches ist.

Alle Mittelmeerländer haben eine lange, über Generationen reichende Auswanderungstradition. Aus Italien wanderten 1920 rund 211 000. Personen aus, aus Spanien 150 000. Ganz ohne Papiere, Behördenstempel, Gesundheitszeugnisse, sind sie bestimmt nicht nach Amerika, nach Kanada, Brasilien, Argentinien gelangt. Freilich, die Herren Capone und Konsorten waren auch darunter. Aber ihresgleichen haben sich noch immer jeden Stempel zu verschaffen gewußt. Die große Überzahl der Redlichen und Fleißigen ist offenbar in dieser grauen Vorzeit ohne staatliche Gängelei zu ihrem Ziel gelangt, mag es uns auch unvorstellbar dünken. Selbst, wo es mit dem Lesen und Schreiben hapert, sind die Leute aus dem Süden hell, findig und anstellig. Allerdings können sie – im Gegensatz zu uns – eines auf den Tod nicht ausstehen: dauernd kommandiert zu werden.

Quelle: L. Kroeber-Keneth, “Die ausländischen Arbeitskräfte und wir,” Frankfurter Allgemeine Zeitung, 3. Juni 1961, S. 5. © Alle Rechte vorbehalten. Frankfurter Allgemeine Zeitung GmbH, Frankfurt. Zur Verfügung gestellt vom Frankfurter Allgemeine Archiv.