Kurzbeschreibung

Die Suezkrise stellte Westdeutschland vor diplomatische Schwierigkeiten. Einerseits glaubte seine Regierung, von den Folgen der Krise profitieren zu können, da Deutschland als „nichtkoloniale“ Macht im Vorteil sei; einige glaubten sogar, dass Westdeutschland nach dem Fehltritt Großbritanniens und Frankreichs eine größere Rolle in der arabischen Welt spielen könnte. Andererseits hielten die besonderen Beziehungen zu Israel, die Ausrichtung auf Großbritannien, Frankreich und Amerika sowie der Wunsch, eine Anerkennung der DDR durch Ägypten zu verhindern, Deutschland davon ab, sich für die ägyptische Sache einzusetzen. Die besonderen Beziehungen Westdeutschlands zu Israel waren schon lange vor der Suezkrise ein Streitpunkt in den Beziehungen zwischen Ägypten und Deutschland; die Entscheidung Westdeutschlands, im März 1953 Reparationszahlungen an Israel zu leisten, veranlasste Ägypten, im selben Monat ein Handelsabkommen mit Ostdeutschland zu unterzeichnen. Ägypten versuchte, beide deutschen Staaten gegeneinander auszuspielen – es nutzte seine Beziehungen zur DDR, um Druck auf die BRD auszuüben, war aber in seinen diplomatischen Beziehungen zur DDR stets vorsichtig, da es erkannte, dass die BRD über weitaus mehr wirtschaftliche Macht und Möglichkeiten verfügte, Ägypten zu helfen, als die DDR.

Die Suezkrise: „Der Vorstoß zum Sinai“ (31. Oktober 1956)

Quelle

Mehr als eine Vergeltungsaktion und weniger als ein Krieg – so haben israelische Sprecher die militärische Aktion charakterisiert, die ihre Regierung und ihre Armeeführung mit dem Stoß über die israelisch-ägyptische Grenze in die Sinai-Halbinsel begonnen haben. Aus jenem Satz kann man die Absicht herauslesen, den Konflikt zu begrenzen und nicht aufs Ganze zu gehen. Ein „kalkuliertes Risiko“ also, wie Amerikaner dergleichen kriegerische Auseinandersetzungen bei anderen Gelegenheiten genannt haben? So mag es sein, oder so kann es gemeint sein. Wir haben noch keine Gewißheit darüber. Denn wir kennen die ganze Fülle der Erwägungen des israelischen Kriegsrates nicht, die zu dem einer Explosion gleichen Entschluß des Einfalls in die Sinai-Halbinsel geführt haben. Und wenn wir auch mehr davon wüßten, so folgen kriegerische Konflikte, einmal begonnen, doch auch eigenen Gesetzen. Die Möglichkeit jedenfalls läßt sich nicht ausschließen, daß aus dem Vorfall sich doch ein handfester Krieg, ja ein Konflikt wie in Korea entwickeln könnte. Zu viel und zu explosiver Zündstoff hat sich im Vorderen Orient angesammelt. Die politischen Verhältnisse dort erinnern in mancher Hinsicht an die Zustände auf dem Balkan von 1914.

Steht fest, daß David Ben-Gurion, Israels Ministerpräsident, wie ein Nachfahre der Makkabäer an das Überleben des jüdischen Staates in einer feindlichen Umwelt denkend, von sich aus den Zusammenstoß mit Nassers Ägypten herbeigeführt hat, so wird doch niemand, der die jüngste Entwicklung im Vorderen Orient auch nur von ferne verfolgt hat, leugnen, daß Israel mehr und mehr in eine Zwangslage geraten und auch gedrängt worden ist. Die Keime des Konfliktes, dessen Ausdruck wir eben erlebt haben, sind früh gelegt worden. Eigentlich wohl schon mit dem Unvermögen der Vereinten Nationen – und das heißt in Wahrheit: der westlichen Großmächte –, die „erste Runde“ des arabisch-israelischen Krieges mit einem Frieden statt mit einem problematischen Waffenstillstand abzuschließen. Schwierigkeiten, mit denen die „Friedensmacher“ damals nicht fertig wurden, kehren nun auf sie und die Welt in vergrößertem Ausmaß zurück. Man darf nicht vergessen: Der Staat Israel ist von Anbeginn, von der Balfour-Deklaration von 1917, eine spezielle Verantwortung der Westmächte gewesen und geblieben. Daher kann man auch jetzt den Israelis nicht eine Last aufbürden, die in Wahrheit andere zu tragen oder doch mitzutragen hätten.

Wir brauchen nicht so weit zurückzugreifen. Die letzten Wochen und Monate haben in mancher Hinsicht die Staatskrise Israels verschärft. Der Ring der arabischen Partisanen wurde enger geschlossen, wie die Israelis behaupten. Auch die Vorgänge vor und nach den Wahlen im jordanischen Nachbarland haben zur Krise beigetragen. Der Untergrundkampf, der in Jordaniens Hauptstadt Amman zwischen den Parteigängern Englands und Ägyptens ausgetragen wurde, der mißglückte Versuch, irakische Truppen mit englischem Einverständnis unmittelbar vor dem Wahltermin in Jordanien einmarschieren zu lassen, die Reaktion darauf, die festere politische und militärische Bindung Jordaniens an Ägypten - dieses ganze vielschichtige, für Nicht-Orientalen kaum durchschaubare Spiel von Druck und Gegendruck, von Erregung und Bestechung hat Israel in Gefahren gebracht, die seine an die Zukunft denkenden Politiker in schwere Sorgen gestürzt haben. Ein Staat mit noch nicht zwei Millionen Einwohnern, die erst auf dem Wege zu einer modernen Nation sind und die nichts eint als eine Idee und die Schwere der Existenz, inmitten der benachbarten dreißig Millionen Araber, die in Bewegung geraten sind und gerade im Begriff, gegen ihre überkommene feudale Gesellschaftsstruktur zu revoltieren - ein solcher Staat kann leicht das antreten, was die Psychologen die „Flucht nach vorn“ nennen. Wir haben hier nichts zu rechtfertigen und nichts zu verurteilen. Aber wir können versuchen, zu verstehen.

Und wir wollen wünschen, daß der Sinai-Krieg von denen, die die Macht dazu haben und damit auch eine Verantwortung auf sich nehmen müssen, nicht bloß in Grenzen gehalten, sondern unverzüglich eingedämmt und beigelegt wird. Es wäre Wahnsinn, wollte man die israelischen Panzerkolonnen gerade so weit ihr Werk tun lassen, als man wünschte, das würde etwa einem Sturz Nassers förderlich sein.

Die Großmächte müssen nun in Aktion treten. Auf ihnen liegt in diesem kritischen Augenblick die schwerste Last an Verantwortung. Sie werden ihrer Aufgabe nur gerecht werden, wenn jede einzelne entschlossen ist, ihre Spezialinteressen, wie etwa die am Sueskanal, hinter dem allgemeinen Anliegen, den Frieden zu bewahren, ohne Vorbehalt und ohne Hintergedanken zurückzustellen. Denn die Regierungen der Großmächte übersehen, wie leicht sich aus den Konfliktherden im Orient und in Osteuropa ein einziger großer Brand entwickeln könnte, wenn dagegen nicht entschlossen Vorkehrungen getroffen würden. Die Regierungen der Großmächte werden die Kriegssituation vor dem Sicherheitsrat der Vereinten Nationen erörtern lassen. Was man unmittelbar vom Sicherheitsrat zu erwarten hat, ist vielleicht nur ein moralischer Appell, vielleicht eine völkerrechtliche Feststellung, möglicherweise zudem eine Entsendung des Generalsekretärs Hammarskjöld an den Schauplatz der Ereignisse. Die Welt erwartet, daß schon davon eine Wirkung ausgeht.

Doch die Regierungen der Großmächte können es damit nicht genug sein lassen. Sie müssen in Tel-Aviv und in Kairo einzuwirken versuchen. Leider kann man sich nicht verhehlen, daß die Voraussetzungen dafür nicht ideal sind. Die Großmächte haben im Vorderen Orient allesamt mancherlei Krediteinbuße erlitten, nicht ganz ohne eigenes Verschulden. Auch scheint die Situation dadurch erschwert, daß die amerikanische Regierung sich an die Drei-Großmächte-Erklärung von 1950 gebunden erachtet, derzufolge sie sich zum Beistand gegen jeden angegriffenen Partner des israelisch-arabischen Waffenstillstandes für gebunden erachtet, während die französische Regierung schon vordem ihre Verbündeten warnend dahin verständigt hat, sie werde beim Ausbruch von Feindseligkeiten an Israels Seite zu finden sein. Die britische Regierung wiederum ist durch ein kompliziertes Netz von Verträgen an Jordanien und Irak gebunden, die sich ihrerseits gegenüber Ägypten für verpflichtet halten. Die Russen schließlich könnten versucht sein, die Ausflucht aus der Osteuropa-Krise nach dem Orient hin zu suchen. Gelänge es nicht, trotz aller dieser Spezialinteressen am Sinai und am Sues-Kanal den Frieden zu bewahren, so könnte sich der Horizont bald verdüstern.

Israel, wie es sich uns als Staat heute darbietet, ist weithin das Lebenswerk David Ben- Gurions, einer modernen Prophetenfigur, die über ihr Volk eine ungewöhnliche moralische Autorität gewonnen hat. Die Politik der Existenzbehauptung mit den Waffen in der Hand ist seine Politik. Dieser hat vor einiger Zeit der langjährige Außenminister Scharett, ein stärker auf den Ausgleich mit den Arabern bedachter Mann, weichen müssen. Doch der Regierungschef wird, wie weithin gehofft wird, auch die intellektuelle und die moralische Kraft aufbringen, sein Lebenswerk der Versuchung des Abenteuers zu entziehen.

Quelle: Jürgen Tern, „Der Vorstoß zum Sinai“, Frankfurter Allgemeine Zeitung, 31. Oktober 1956, S. 1.