Quelle
Zwölf Jahre sind seit dem Ende des Krieges vergangen. Die Hoffnungen der Völker der Welt auf einen gerechten und dauerhaften Frieden haben sich jedoch nicht erfüllt. Einer der Hauptgründe dafür, daß es zu keiner Verständigung kam, ist die fortgesetzte Spaltung Deutschlands, die eine schwere Ungerechtigkeit dem deutschen Volk gegenüber und zugleich die Hauptquelle der internationalen Spannung in Europa ist.
Die Regierungen Frankreichs, des Vereinigten Königreichs und der Vereinigten Staaten, die mit der Sowjetunion gemeinsam für die Wiedervereinigung Deutschlands und den Abschluß eines Friedensvertrages verantwortlich sind, und die Regierung der Bundesrepublik Deutschland, die als einzige Regierung für das ganze deutsche Volk zu sprechen berechtigt ist, wünschen ihre Auffassung von diesen Fragen, einschließlich der Frage der europäischen Sicherheit, darzulegen und die Grundsätze zu erläutern, die ihre Politik in diesen Fragen bestimmen.
1. Eine europäische Friedensordnung muß auf Freiheit und Gerechtigkeit aufgebaut sein. Jede Nation hat das Recht, ihre eigene Lebensform frei zu bestimmen, ihr politisches, wirtschaftliches und soziales System selbst zu wählen und unter Berücksichtigung der berechtigten Interessen anderer Nationen für ihre Sicherheit zu sorgen. Die Gerechtigkeit fordert, daß dem deutschen Volk die Möglichkeit gegeben wird, seine nationale Einheit auf der Grundlage dieses Grundrechts wiederherzustellen.
2. Die Wiedervereinigung Deutschlands bleibt gemeinsame Verantwortlichkeit der Vier Mächte die 1945 die oberste Gewalt in Deutschland übernahmen — eine Verantwortlichkeit, die in der Direktive der vier Regierungschefs in Genf im Juli 1955 erneut bekräftigt wurde. Gleichzeitig erfordert die deutsche Wiedervereinigung die aktive Mitarbeit des gesamten deutschen Volkes, unter solchen Bedingungen, die die Freiheit seiner Willensäußerung gewährleisten.
3. Die unnatürliche Teilung Deutschlands und seiner Hauptstadt Berlin ist eine ständige Quelle internationaler Spannung. Solange Deutschland geteilt ist, kann es keinen Friedensvertrag mit Deutschland und keine Stabilität in Europa geben. Die Wiedervereinigung Deutschlands in Freiheit ist nicht nur eine elementare Forderung der Gerechtigkeit für das deutsche Volk; sie ist darüber hinaus die einzige gesunde Grundlage für eine dauernde Friedensordnung in Europa.
4. Nur eine frei gewählte gesamtdeutsche Regierung kann im Namen eines wiedervereinigten Deutschlands Verpflichtungen übernehmen, die anderen Ländern Vertrauen einflößen und die vom deutschen Volk selbst als gerecht und für die Zukunft bindend angesehen werden.
5. Eine solche Regierung kann nur aus freien, in ganz Deutschland durchgeführten Wahlen zu einer gesamtdeutschen Nationalversammlung hervorgehen.
6. Ein wiedervereinigtes Deutschland darf nicht diskriminiert werden. Seine Freiheit und seine Sicherheit dürfen nicht durch eine auferlegte Neutralisierung oder Entmilitarisierung beeinträchtigt werden. Seine Regierung muß frei über seine Außenpolitik und seine internationalen Bindungen bestimmen können. Es muß das in der Satzung der Vereinten Nationen anerkannte Recht aller Völker haben, sich an kollektiven Einrichtungen zur Selbstverteidigung zu beteiligen.
7. Die Wiederherstellung der nationalen Einheit Deutschlands entsprechend dem frei zum Ausdruck gebrachten Willen des deutschen Volkes bedeutet weder eine Bedrohung der Nachbarn Deutschlands noch eine Beeinträchtigung ihrer Sicherheit. Um trotzdem jeder Besorgnis zu begegnen, die andere Regierungen in dieser Hinsicht haben könnten, sollten im Zusammenhang mit der deutschen Wiedervereinigung Vorkehrungen getroffen werden, welche die berechtigten Sicherheitsinteressen aller beteiligten Staaten berücksichtigen. Aus dieser Erwägung schlugen die Westmächte auf der Genfer Außenministerkonferenz einen Zusicherungsvertrag für den Fall der Wiedervereinigung Deutschlands vor.
8. Die Westmächte haben nie verlangt, daß ein wiedervereinigtes Deutschland der Organisation des Nordatlantikvertrages beitreten muß. Die Bevölkerung eines wiedervereinigten Deutschlands wird durch ihre frei gewählte Regierung selbst bestimmen können, ob sie an den Rechten und Pflichten dieses Vertrages teilhaben will.
9. Sollte sich die gesamtdeutsche Regierung in freier Entscheidung für den Beitritt zur NATO entschließen, so sind die Westmächte nach Konsultation der anderen Mitglieder dieser Organisation bereit, der Regierung der Sowjetunion und den Regierungen anderer Staaten Osteuropas, die einem europäischen Sicherheitspakt beitreten, auf der Grundlage der Gegenseitigkeit bedeutsame und weitreichende Zusicherungen zu geben. Die Westmächte sind auch bereit, im Rahmen eines für beide Seiten annehmbaren europäischen Sicherheitsabkommens zu gewährleisten, daß sie im Falle des Beitritts eines wiedervereinigten Deutschlands zur NATO keine militärischen Vorteile aus dem Abzug der sowjetischen Streitkräfte ziehen werden.
10. Die Westmächte können jedoch nicht zugeben, daß der Bestand der NATO an sich zum Gegenstand der Verhandlungen gemacht wird.
11. Die Wiedervereinigung Deutschlands in Verbindung mit dem Abschluß von europäischen Sicherheitsvereinbarungen würde das Zustandekommen eines umfassenden Abrüstungsabkommens erleichtern. Umgekehrt könnten die Anfänge einer wirksamen Teilabrüstung dazu beitragen, noch offenstehende wichtige politische Probleme wie die Wiedervereinigung Deutschlands zu regeln. Einleitende Schritte auf dem Gebiet der Abrüstung müssen zu einem umfassenden Abrüstungsabkommen führen, das eine vorherige Lösung der Frage der deutschen Wiedervereinigung voraussetzt. Die Westmächte werden keinem Abrüstungsabkommen beitreten, das der Wiedervereinigung Deutschlands im Wege stehen würde.
12. Alle Abrüstungsmaßnahmen, die auf Europa angewandt werden, müssen die Zustimmung der betroffenen europäischen Nationen erhalten und die Verknüpfung der europäischen Sicherheit mit der deutschen Wiedervereinigung berücksichtigen.
Die vier Regierungen halten an der Hoffnung fest, die Sowjetregierung werde zu der Einsicht gelangen, daß es nicht in ihrem Interesse liegt, die derzeitige Teilung Deutschlands aufrechtzuerhalten. Die Westmächte sind bereit, mit der Sowjetunion alle diese Fragen zu jedem Zeitpunkt zu besprechen, der begründete Aussicht bietet, Fortschritte zu erzielen. Sobald dieser Zeitpunkt gekommen ist, wird es viele Punkte geben, die sich auf das Verfahren zur Wiedervereinigung und auf die Bestimmungen eines Zusicherungsvertrages beziehen und die in eingehenden Verhandlungen ausgearbeitet werden müssen.
Bevor es zu ernstlichen Verhandlungen kommt, können die Westmächte ihre Auffassung zu allen Punkten nicht endgültig festlegen. Auch können sie nicht im voraus die Gewährung von Zugeständnissen erwägen, bei denen gegenwärtig nicht mit einem entsprechenden Entgegenkommen der sowjetischen Seite gerechnet werden kann. Wenn Verhandlungen erfolgreich sein sollen, müssen beide Seiten sie in einem Geiste der Verständigungsbereitschaft und der Beweglichkeit beginnen. Durch diese Erklärung möchten die Westmächte in voller Übereinstimmung mit der Bundesrepublik erneut ihren aufrichtigen Willen bekunden, mit der Sowjetunion zu verhandeln, mit dem Ziel, eine europäische Regelung zu erreichen und zu beweisen, daß das höchste Ziel ihrer Politik die Herbeiführung eines gerechten und dauerhaften Friedens ist.
Quelle: Berliner Erklärung der drei Westmächte und der Bundesrepublik vom 29. Juli 1957 zur Wiedervereinigung; abgedruckt in Heinrich von Siegler, Hg., Dokumentation zur Deutschlandfrage. Von der Atlantik-Charta 1941 bis zur Berlin-Sperre 1961. Hauptband I, Chronik der Ereignisse von der Atlantik-Charta 1941 bis zur Aufkündigung des Viermächtestatus Berlins durch die UdSSR im November 1958. Zweite ergänzte und erweiterte Auflage in drei Bänden. Siegler & Co, KG. Verlag für Zeitarchive: Bonn, Wien, Zürich, 1961, S. 669-71.