Kurzbeschreibung

In diesem Interview mit U.S. News & World Report spricht der amerikanische Jazzmusiker Louis Armstrong über Jazz und dessen Aufnahme in Europa, auch jenseits des Eisernen Vorhangs. Armstrong, der sich zu diesem Zeitpunkt auf Tournee in Europa befand, vergleicht das amerikanische und europäische Publikum und versucht, die Beliebtheit des Jazz zu erklären. Den Fragen über die Beziehung zwischen Jazz und Politik weicht er aus und streitet ab, dass seine Tournee durch das US-Außenministerium finanziert sei. Zudem spielt er die Berichte über Krawalle bei einem seiner Auftritte in Hamburg herunter.

Interview mit Louis Armstrong: „Sie kommen durch den Eisernen Vorhang, um amerikanischen Jazz zu hören“ (Dezember 1955)

Quelle

Die Musik eines amerikanischen schwarzen Jazzmusikers sticht die Opernmusik aus, indem sie überall in Europa Verkaufszahlenrekorde bricht. Fans schlüpfen hinter dem Eisernen Vorhang hervor, nur um sie zu hören. Als Louis Daniel (Satchmo) Armstrong in Hamburg auftrat, mussten nach einer Zugabe schreiende Fans, die die Konzerthalle verwüsteten, mit Wasserschläuchen aus dem Gebäude gejagt werden. Von Schweden bis nach Spanien ist die Musik Armstrongs für viele die Stimme Amerikas.

Um die Bedeutung dieses phänomenalen Interesses am Jazz in Übersee zu ergründen, interviewten zwei Redakteure des U.S. News & World Report Satchmo. Der amerikanische Musiker und seine Frau Lucille empfingen sie um 2 Uhr morgens in einem Pariser Hotelzimmer nach einem Konzert für französische Fans, das ein Riesenerfolg war.

Zwei Stunden lang sprach der Trompeter, in Pyjama und Morgenmantel, über amerikanische Musik im Ausland. Es folgt das aufgezeichnete Interview.

F: Erobert der Jazz wirklich Europa, Louis?

A: Das hat er schon immer. Er kam direkt nach dem ersten [Welt]krieg herüber, es kamen viele Soldaten während des ersten [Welt]krieges herüber und einige waren Musiker und blieben hier – Sidney Bechet und Eddie South, Combo Eddie – Violinisten, Musiker kamen alle ‘rüber und guter Jazz wurde in diesen Ländern schon immer geschätzt.

Es gab schon vorher Anziehungspunkte hier drüben, schon vor meiner Zeit, aber mit dem Wandel der Generationen, naja, wurde die Musik besser. []

F: Hat der Jazz den Vereinigten Staaten viele Freunde verschafft?

A: Ich denke schon. Als die amerikanische Musik hierüber kam, wurde sie sehr geschätzt, ja hoch geschätzt. []

F: Gibt es einen Unterschied zwischen dem Jazz, der in Europa beliebt ist und dem, der in Amerika beliebt ist?

A: Es ist überall auf der Welt gleich. Ich sage immer, eine Note ist eine Note in jeder Sprache, wenn du sie genau triffst – wenn du sie triffst. Aber sie [die Europäer] schätzen den technischen Aspekt deiner Musik, jedes bisschen – überall in Europa sind alle so auf klassische Musik ausgerichtet gewesen. []

Es heißt, guter Jazz und klassische Musik sind gleich, weil man sie beide kunstvoll spielt, man drückt sich selbst aus. Und das ist es, was sie stets am Jazz schätzen. All diese neue Musik hat sie nie gestört. Nun, sie haben sie akzeptiert, aber sie hat sie den guten Jazz nie vergessen lassen. []

F: Sie ließen einige [Leute] durch den Eisernen Vorhang kommen?

A: Ich ließ sie nicht kommen, sie haben es einfach getan. Im Hot Club in Berlin waren diese Jungs und einer von ihnen sagte, „Wir haben uns über den Eisernen Vorhang geschlichen, um unseren Louis zu hören“ und sie sagten „Wir wissen nicht, wie wir zurückkommen.“ Und seitdem habe ich nichts mehr von ihnen gehört, aber sie haben das gemacht.

F: Haben Sie diese Leute gesehen, mit Ihnen gesprochen?

A: Ja, sie kamen hinter die Bühne und haben mit mir gesprochen, daher weiß ich, dass sie da waren.

F: Sie kannten Ihre Musik dort drüben?

A: Sicher, deshalb kommen sie – kommen rüber, um mich zu hören. Wenn Sie mir nicht glauben, lassen Sie mich in Russland auftreten und es werden so viele Leute kommen, dass Sie glauben, die gehen zu einem Football-Spiel.

F: Einer unserer Botschafter, in der Tschechoslowakei, hinter dem Eisernen Vorhang, sagte, dass alle hinter dem Eisernen Vorhang amerikanischen Jazz kennen und dass Ihre Musik dort bekannt sei –

A: Sicher, die haben alle Platten und so weiter. []

F: Ist es mit Jazz überall das Gleiche – keine Grenzen, kein Eiserner Vorhang?

A: Ja, das stimmt.

F: Gibt es hinter dem Eisernen Vorhang Hot Clubs?

A: Die muss es geben. Das sind Anhänger dort. Das sind meine Anhänger. Gewehre und alles andere konnten diese Jungs nicht davon abhalten, herüber zu kommen, um Hot Jazz zu hören. Sie kommen von überall her. Es kommen viele von ihnen, von überall her, aber nicht alle von ihnen kommen und reden mit uns. Sie wollen keinen Ärger. Vielleicht sitzen sie nur da und sagen nichts, damit die Leute sie nicht bemerken. []

F: Welche Art von Jazz ist bei ihnen beliebt – die gleiche wie in den Vereinigten Staaten?

A: Ja, gute Musik. Solange es gute Musik ist, ist es egal, welche. []

F: Wie lief es, als Sie in Berlin gespielt haben?

A: Oh gut, gut. Da waren diese Berliner Jazzfans, die wollten, dass ich mit meiner Trompete diesem russischen Soldaten ins Ohr spiele, der irgendeine russische Rote Armee-Statue bewacht – wissen Sie, innerhalb West-Berlins – aber das habe ich nicht gemacht. Mir war klar, es könnte etwas sein, das den Russen wichtig ist und sie könnten das falsch verstehen. Alles, womit ich mich auskenne, ist die Trompete, nicht Politik und solche Sachen. Und ich glaube auch nicht, dass sie was Schlechtes im Sinn hatten. Aber die Russen hätten es falsch verstehen können. []

F: Könnte ein Mann wie Molotov, der sowjetische Außenminister, der noch nie Jazz gehört hat, sich dafür begeistern?

A: Vielleicht, falls er gute Musik mag. []

F: Lohnt es sich finanziell, nach Europa zu kommen?

A: Nun, wir kommen zurecht, aber wir denken nicht ans Geld.

F: Erhalten Sie irgendwelche Unterstützung von der Regierung, vom Außenministerium oder sonst jemandem?

A: Nein, keinen Pfennig. Sie denken darüber nach.

F: Halten Sie es für eine gute Idee für das Außenministerium, solche Dinge zu unterstützen?

A: Es war das erste, was ich sagte, als ich gelesen habe, dass Jesse Owens (amerikanischer schwarzer Leichtathletik-Star) durch ganz Europa reist. Wir sollten das gleiche tun. Jemand hat mich nach den Russen gefragt und vorgeschlagen, unsere Band solle das gleiche tun, was Jesse Owens macht. Stellen Sie sich nur mal vor, wenn sie diese Combo in große Stadien herumschicken würden, wo tausende Leute sie hören könnten – ich glaube, damit könnte man viel Gutes erreichen. Aber wer bin ich, sowas vorzuschlagen? []

F: Erzählen Sie uns über die Unruhen in Hamburg – was ist dort wirklich passiert?

A: Dort ist nichts passiert. Die Leute wollten lediglich, dass wir noch ein bisschen weiterspielen. Wir spielten eine Zugabe. Ich verbeugte mich ohne Hemd, aber sie wollten immer noch nicht gehen. Niemand wurde verletzt.

Ich sollte an dem Abend zwei Konzerte spielen, aber sie zerbrachen die Stuhlreihen – sie waren es leid, mit den Händen zu klatschen und fingen an, mit den Stühlen zu applaudieren. Und sie wollten immer noch nicht gehen – die Polizei versuchte, sie herauszuschaffen, um den Saal für das nächste Konzert frei zu machen. Aber sie weigerten sich zu gehen. Dann richtete die Polizei Wasserwerfer auf sie. Der Saal war verwüstet.

Das gleiche ist in Roubaix, Frankreich passiert. Und in Lyon auch. Sie fingen an, Sachen nach der Lokalband zu werfen, als sie wieder auf die Bühne kamen und übernehmen wollten. Am nächsten Abend stellte der Besitzer die Bläser also in der Empore auf, damit sie nicht getroffen werden konnten. Aber die Leute haben uns nichts getan. Wir spielten drei Stunden lang in Lyon und die Leute klatschten von 1 bis 1.30 Uhr morgens.

Aber die Leute wollen uns nichts antun – daran habe ich nie gedacht. Das einzige Mal, dass sie mir wirklich Angst gemacht haben war an dem Abend, als wir in Düsseldorf spielten. Nach dem letzten Konzert waren hinter der Bühne alle gegangen außer der Sängerin und mir selbst und einem alten Mann. Er wollte das Licht ausmachen, wenn wir gehen, und wir verabschiedeten uns und in der Minute, als er die Tür schloss, kamen 30 deutsche Jazzfans auf uns zu und riefen „Autogramm, Autogramm!“ Ich hatte keine Ahnung, wo die alle herkamen – ich habe mich zu Tode erschreckt. []

F: Ist Ihr Publikum hier ernsthafter als in den USA?

A: Ja, das ist es. Ich hörte von zwei Mädchen, die gerade heute Abend backstage kamen, um mein Autogramm zu bekommen. Die eine war ein amerikanisches Mädchen, das hier zur Schule geht und die andere war ein deutsches Mädchen, die mich in Mannheim spielen gehört hatte. Jemand fragte sie nach dem Publikum draußen – ob es wie ein Publikum in den Staaten sei. Das amerikanische Mädchen sagte, „Nein, die sind anders. Diese Leute nehmen Jazz sehr ernst.“ Das stimmt, sie hüpfen nicht herum wie die Backfische. Sie hören Jazz auf die gleiche Weise, wie sie klassische Musik hören. Sie machen eine Wissenschaft daraus.

In Turin, Italien, war so ein kleiner Stinker im Publikum, oben auf dem Balkon – dem nicht klar war, dass die italienischen Fans dort waren, um tatsächlich zuzuhören. Wir spielten „Sleepy Time“ und er faltete ein kleines Papierflugzeug und warf es runter, und er muss sehr gut gewesen sein, denn es landete genau auf der Bühne. Und ungefähr 15 Italiener schnappten ihn. Ich wusste nicht, wer er war, aber sie schnappten ihn und sagten, „Noch einmal und wir bringen dich um.“

F: Liegt das daran, dass Sie ein berühmter Künstler sind?

A: Nein. Es liegt daran, dass ich etwas spiele, dass sie hören wollen.

F: Ist es für Künstler besser in Europa, wo man zuhört statt mitzumachen, zu klatschen und so weiter?

A: Wozu soll man spielen, wenn sie eine Menge Lärm machen? Nehmen Sie eine Big Band, die voller Jive ist, die wollen das. Vor Jahren zum Beispiel war es den Leuten egal, was für eine Band spielte, die Leute machten sowieso Lärm. Aber heutzutage gehen sie, sobald sie zu einer Tanzveranstaltung kommen, direkt zur Bühne vor und stehen dort. Du spielst trotzdem ein Konzert. So läuft das heute. Sie nehmen sich Stühle, setzen sich hin und hören zu. Vor einigen Jahren war das alles egal.

F: Wie ist es mit den amerikanischen Jazzmusikern dort drüben? Wie würden sie sich zuhause schlagen? Wie würden sie bewertet?

A: Nur sehr wenige würden es in den Vereinigten Staaten schaffen, sehr wenige. Sie werden nachlässig gegenüber ihren Instrumenten, schlampig. Die Hälfte von ihnen übt nicht einmal, höchstens vor den Fans. Den Fans mag das gefallen, dem Publikum aber nicht. Ich würde gern einen Mann zurückkommen sehen, dem es immer noch ernst ist mit seinen Instrumenten. Einige werden wiederum schlampig mit ihren Terminen und Verträgen und damit kann man zuhause nicht durchkommen. Man kann nicht einfach losspielen, wenn einem danach ist – wir haben eine Gewerkschaft und die ist streng in Amerika. []

F: Warum kaufen die Leute Jazz – 3 Millionen Platten ihrer Aufnahme eines Stücks und nur 300.000 Aufnahmen einer Oper? Was ist es, das Jazz hat?

A: Es gibt inzwischen einfach mehr Jazzfans als Opernfans. Nehmen sie die jüngere Generation - sie hatten weniger Gelegenheit, richtige Opern zu hören als ihre Mütter und Väter. Verstehen Sie, was ich meine? [] Die Jugendlichen genießen das in bestimmtem Maß. Aber sie springen erst richtig bei einer Crooner-Nummer an – oder Bing [Crosby] oder Sinatra oder sowas. Es ist lebendig. Kurze Wörter. Sie verstehen es. []

F: Louis, glauben Sie, dass der Hot Jazz den Kalten Krieg beenden wird?

A: Nun, mit Politik kenne ich mich nicht aus – aber ich weiß, dass Hot Jazz eine Menge für viele Fans tun kann, die sich auch nicht so sehr dafür interessieren. Wenn es Leuten, die friedlich mit Musik umgehen überlassen wäre, gäbe es keine Kriege. Es gäbe keine. Die werden von Leuten verursacht, die vermutlich keinen Jazz mögen, aber Musik hat eine Menge geleistet für Freundschaften und so weiter.

F: Glauben Sie, die Atombombe hat die Leute dazu gebracht, sich mehr als vorher der Musik zuzuwenden?

A: Also ich tauche nicht in die Politik ein. Wie in Genf – der Typ mit dem Mikro, wissen Sie. Er verfolgte einen damit. „Was halten sie von der Viermächtekonferenz?“ Ich sage, „Ich hoffe bloß, die Combo hat Spaß und kriegt den Jive auf die Reihe.“

Quelle: U.S. News & World Report, 2. Dezember 1955, S. 54–62.

Übersetzung: Insa Kummer.