Kurzbeschreibung

Ludwig Erhard gilt weithin als Vater des westdeutschen „Wirtschaftswunders“. Das ist natürlich übertrieben, da zahlreiche Wirtschafts- und Finanzexperten an der Schaffung der strukturellen und institutionellen Voraussetzungen für die rasche Expansion der Wirtschaft beteiligt waren. Wichtig ist, dass das, was Erhard und andere nach der Währungsreform von 1948 auf den Weg brachten, kein liberaler Laissez-faire-Kapitalismus war. Was er propagierte, war eine Soziale Marktwirtschaft, ein Begriff, der von dem Wirtschaftswissenschaftler Alfred Müller-Armack geprägt worden war, der später als Staatssekretär in Erhards Wirtschaftsministerium tätig war. Die Grundprinzipien dieses Kapitalismus fanden sich auch in den Düsseldorfer Leitsätzen von 1949 wieder, die ebenfalls in diesem Kapitel zu finden sind.

In einer Rede vom 26. Juni 1950 erläutert Erhard dieses Kapitalismuskonzept und stellt es dem Konzept der Planwirtschaft gegenüber, das in den sozialistisch regierten Staaten in Ost und West praktiziert wurde. Das „Soziale“ soll ein Bekenntnis zu einer sozialstaatlichen Politik sein. Erhard sah, dass es Millionen von Kriegswitwen und -waisen, Flüchtlingen und Vertriebenen gab, ausgebombte Familien, die im alliierten Luftkrieg ebenfalls alles verloren hatten, sowie Veteranen, die an körperlichen Verletzungen oder psychischen Traumata litten, die später als Posttraumatische Belastungsstörung (PTBS) bezeichnet wurden. Diese Millionen konnten nicht einfach den harten Gesetzen des Wettbewerbskapitalismus ausgesetzt werden. Der Staat musste für die Gesundheitsversorgung und die Sozialversicherung sorgen. Dennoch hoffte und erwartete Erhard, dass das Wirtschaftswachstum „Wohlstand für alle“ schaffen würde, wie er eines seiner Bücher betitelte.

Bundesminister Erhard über Marktwirtschaft und Planwirtschaft (26. Juni 1950)

Quelle

Die Feinde der Marktwirtschaft bemühen sich mit einer geradezu penetranten Aufdringlichkeit, das Volk glauben zu machen, daß die wirtschaftlichen und sozialen Erfolge der vergangenen zwei Jahre ausschließlich der Währungsreform und sonstigen glücklichen Umständen, keinesfalls aber dem von mir vollzogenen wirtschaftspolitischen Kurswechsel zu verdanken seien. Wenn sicher es auch darauf ankam, zum Zeitpunkt der Währungsreform die Stunde zu nützen, so ist es doch für alle Wohlmeinenden und Einsichtigen offenkundig, daß nur aus Währungsreform plus marktwirtschaftlicher Politik die entscheidende glückliche Wendung resultiert. Die Marktwirtschaft kann für sich nicht nur den Erfolg verbuchen, aus einem völligen Chaos die menschlichen Kräfte und Persönlichkeitswerte wieder zur Entfaltung gebracht zu haben, sondern sie hat auch einer höchst problematischen Währungsreform mit allen Zufälligkeiten in bezug auf die Konstruktion und die quantitativen Bemessungen zum Erfolg verholfen und über den dadurch ausgelösten Anpassungsprozeß hin zu einem wirtschaftlichen Gleichgewicht eine gesunde und aus innerer Kraft stabile Währung geschaffen. Nicht weil ich mir das Verdienst zuschreiben möchte, sondern um auch heute wieder drohende Gefahren zu bannen, ist es notwendig, diese Erkenntnis dem deutschen Volke und insbesondere der deutschen Wirtschaft zu vermitteln. Die Erfahrung und die Geschichte lehren gleichermaßen, daß es gesunde und stabile Währungen nur in der Marktwirtschaft geben kann und daß demzufolge jede planwirtschaftliche Ordnung zu einer Zerstörung der Währung führt. Wenn sicher auch die Währung an sich nicht Selbstzweck ist, so wissen wir doch aus bitterer Erfahrung gut genug, daß eine gedeihliche wirtschaftliche Entwicklung sich nur auf der Grundlage einer gesunden Währung vollziehen kann. Ich brauche nicht auf die Kursentwicklung der Deutschen Mark an den freien Börsen der Welt zu verweisen und Parallelen mit dem Schicksal des englischen Pfundes anzustellen, um deutlich zu machen, daß wir es nur unserer konsequenten Wirtschaftspolitik zu verdanken haben, wenn das junge und anfällige Pflänzchen D-Mark ohne Golddeckung und ohne Manipulationsfonds sich im Ansehen der Welt so erfreulich gefestigt hat, während die Währungen der planwirtschaftlich organisierten Länder trotz aller Manipulationskunststücke immer wieder verfallen. Es ist darum auch kein Zufall, daß die Nationen mit einer marktwirtschaftlichen Ordnung den europäischen Gedanken auf der Grund­lage zwischenstaatlichen Leistungswettbewerbs zu stärken und zu fördern bereit sind, während sich die Planwirtschaften in ihrer ablehnenden Haltung wohl dessen bewußt sind, daß ihre völlig erstarrte, künstlich verfälschte, reaktionsunfähige Scheinordnung wie ein Kartenhaus in sich zusammenbrechen muß, wenn sich die europäischen Völker nach dem einzig sinnvollen und gerechten Maßstab des Leistungswettbewerbs zu gemeinsamer Arbeit zusammenfinden.

Die sozialistischen Staaten Europas wissen oder erfühlen es doch instinktiv, daß ihre Vollbeschäftigungspolitik nur um den Preis der Leistungsminderung erkauft werden konnte und daß sie in der Isolierung verharren müssen, um ein Dogma und System zu retten, dessen Untauglichkeit und soziale Fragwürdigkeit in freier Marktwirtschaft nicht mehr zu verdecken ist. Während wir uns in Deutschland in den vergangenen zwei Jahren erfolgreich darum bemühten, die Leistungskraft unserer Wirtschaft auf die Ebene des internationalen Standards zu heben, um dadurch dem deutschen Volke die Lebensmöglichkeit für die Zukunft zu sichern, bemühen sich die Sozialisten, uns im Sinne der Vollbeschäftigungspolitik in kreditwirtschaftliche Abenteuer zu verstricken, um auf solche Weise die Marktwirtschaft zu sabotieren und das Dogma der Planwirtschaft zur zwingenden Notwendigkeit werden zu lassen. Sie berufen sich dabei auf völlig mißverstandene Keynessche Lehren, die unter völlig anderen Voraussetzungen, als sie in Deutschland vorherrschen, zur Behebung sozialer Störungen eine zusätzliche Kreditschöpfung vorsehen. Ich möchte glauben, daß sich Keynes im Grabe herumdrehen würde, wenn er wüßte, daß seine Epigonen aus ihm einen Zauberkünstler machen wollen, der durch einen kreditpolitischen Trick das Unheil von 15 tragischen Jahren über Nacht zu heilen vermöchte. Ohne die konjunkturpolitischen Möglichkeiten einer zusätzlichen Kreditschöpfung grundsätzlich leugnen zu wollen, ist aber in richtiger Analyse der deutschen wirtschaftlichen Verhältnisse mit Nachdruck zu betonen, daß eine Aktion in dem von meinen sozialistischen Widersachern gewünschten Umfang unser Volk sofort wieder in Not und Drangsal einer Inflation zurückstoßen müßte. Zusätzliche Kreditschöpfung in dieser Größenordnung bedeutet, daß die Wirtschaft unter den permanenten Druck einer überschüssigen Kaufkraft gesetzt wird, die den ganzen bisherigen Erfolg der Leistungssteigerung und Leistungsverbesserung zunichte machen würde und zur Folge hätte, daß die deutsche Wirtschaft im internationalen Wettbewerb nicht mehr bestehen kann. Niemand kann ernsthaft leugnen, daß eine solche Politik die Leistungseffizienz der gesellschaftlichen Arbeit herabmindert und den Gütegrad der Wirtschaft verschlechtert, so daß also diese Empfehlung zu der grotesken These führt: Laßt uns weniger, laßt uns schlechter und weniger produktiv arbeiten, auf daß es uns besser ergehe. []

Quelle: Industriekurier, 26. Juni 1950. Abgedruckt in Karl Hohmann, Hrsg., Ludwig Erhard: Gedanken aus fünf Jahrzehnten. Reden und Schriften. Düsseldorf: Econ, 1988, S. 232–235.