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Notruf der großen Seele: Indiens Weg durch die Hölle
Mahatma Gandhis Geburtstag war kein Festtag. An seinem 78. Geburtstag, dem 2. Oktober, gingen die Wellen der Unruhe in Indien noch zu hoch. Zwar haben die amtlichen Stellen erklärt, der Höhepunkt der Unruhen und Blutvergießen sei überwunden. Aber Ruhe ist in dem Land, das unter so harten Geburtswehen seine Freiheit erringt, noch nicht eingekehrt.
Die Teilung Indiens hat schwerste religiöse Kämpfe heraufbeschworen, die mit allem Fanatismus durchgeführt wurden. Die Regierungen von Pakistan und Indien glaubten, das blutige Morden durch einen Austausch der Minoritäten zu verhindern. Theoretisch war alles geklärt. Der Austausch von vier Millionen Hindus und Moslems war bestens arrangiert. Aber der religiöse Fanatismus flammte doppelt auf und warf alle Berechnungen über den Haufen.
Hauptschauplatz der Tragödie war der Pandschab, die Nordwest-Provinz. Flüchtlingskolonnen, die aus diesem Vulkan entkommen wollten, wurden von Horden, die oft nach Tausenden zählten, angegriffen. Rasende beider Religionen mordeten ohne Unterschied Männer, Frauen und Kinder.
Auch der Versuch, die Minderheiten auf dem Schienenweg zu evakuieren, scheiterte. Ein mit 4500 Moslemflüchtlingen überfüllter Zug nach Pakistan wurde bei Amritsar von bewaffneten Sikhs überfallen und die Insassen niedergemacht. Als Moslemtruppen die tausende Leichen später aus dem Zug nehmen mußten, revanchierten sie sich. Aus einem Gegenzug wurden 340 Hinduflüchtlinge gemordet, 400 verwundet.
Mahatma Gandhi, der alte Rufer im Streit, mußte diesmal seine Stimme gegen das eigne Volk erheben. Ein Krieg Indiens gegen Pakistan sei unvermeidlich, wenn es nicht gelingen würde, die religiösen Gegensätze zu beseitigen. Seine Worte erregten Aufsehen. Alles, was Gandhi sagt, wird vom indischen Volk als Offenbarung aufgenommen. „Gandhi ist die Wahrheit“. Das ist der oft gehörte Ausspruch.
Auch in der übrigen Welt werden Gandhis Worte auf die Goldwaage gelegt. Aber man hatte schlecht gewogen. Die „Große Seele“ (das ist die Übersetzung des Wortes Mahatma), so hieß es, habe zum Krieg aufgerufen. Der Mahatma hatte nur vermittelnd seine warnende Stimme erhoben.
Die Regierung in Neu-Delhi erhob gleichfalls ihre Stimme. Man ersuchte die britische Regierung, dem neuen Dominion Pakistan zu helfen. Und zwar handele es sich, wie der „Observer“ kommentiert, um mehr als eine militärische Hilfe.
Die Überfälle auf Flüchtlingsgruppen haben aufgehört. Dafür wird der Pandschab jetzt von Überschwemmungen heimgesucht. Weitere Tausende flüchten aus dem so lange ersehnten Paradies der Freiheit, das zur Hölle wurde. Von der Umsiedlungsaktion im Pandschab werden inzwischen, wie von offizieller Seite erklärt wird, mehr als 8 Millionen Menschen betroffen.
Man befürchtet gleichzeitig eine Wirtschaftskrise größten Ausmaßes. Die aus Pakistan in das indische Dominion zurückflutenden Kapitalien werden von Wirtschaftskreisen auf 1 Milliarde Rupien (300 Millionen Dollar) geschätzt.
Quelle: „Notruf der großen Seele: Indiens Weg durch die Hölle“, Der Spiegel, 4. Oktober 1947, S. 10. Online verfügbar unter: https://www.spiegel.de/spiegel/print/d-41122103.html