Quelle
Das Zentralkomitee der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands, Abt. Parteiorgane
Berlin, 19. Mai 1961
I. Aus zahlreichen Industriebetrieben und Wohngebieten Berlins nimmt die Kritik der Bevölkerung an den Mängeln der Versorgung mit Lebensmitteln und Industriewaren zu.
In zahlreichen HO, Konsum und Privatgeschäften gibt es am späten Nachmittag, vor allem freitags und sonnabends, kein Brot und teilweise keine Brötchen zu kaufen.
Dieser Mangel tritt nicht nur vor Feiertagen auf. In einigen Wohngebieten in Lichtenberg, Treptow, Köpenick, Friedrichshain, Pankow und Weißensee hält dieser Zustand teilweise schon wochenlang an.
Die Büros einiger KL haben sich mit dieser Frage beschäftigt. Das Büro der KL Prenzlauer Berg stellte hierzu fest, daß “die Kapazität des VEB Aktivist völlig ausgelastet ist und die Werktätigen des Betriebes ein großes Arbeitspensum für die Brotversorgung leisten. Die Engpässe sind aber dadurch eingetreten, daß die privaten Bäcker mehr und mehr die Brotbäckerei eingeschränkt bzw. eingestellt haben und vor allem nur noch feine Backwaren, Kuchen, Torten, Brötchen usw. herstellen.”
Die Einkaufs- und Liefergenossenschaft der Bäcker und Konditoren forderte in einem Rundschreiben v. 24.4.1961 alle Bäcker auf, für die Feiertage vom 1. Mai bis Pfingsten ausreichend Brot vorzubacken. Gleichzeitig wurde mitgeteilt, daß VEB Aktivist und die Konsum-Großbäckerei in der Lage seien, im Notfall den Bäckern Brot auszuliefern. Diese Maßnahme soll jedoch mit den beiden Betrieben nicht vereinbart worden sein. Nicht wenige Bäcker haben diesen Hinweis ausgenutzt.
Der 1. Kreissekretär im Prenzlauer Berg, Gen. Kropius, und der Vorsitzende des Rates des Stadtbezirkes, Gen. Hilbert, erklärten, sie hätten persönlich im Ausbaubetrieb festgestellt, daß tonnenweise Rippchen, Kniebeine und Schweineköpfe mit und ohne Backe herumliegen und nicht abgesetzt werden, weil der Handel teilweise die billigen Fleischsorten nicht abnimmt.
Die Butterversorgung wird durch zwei Erscheinungen gestört. Einmal ist in vielen Geschäften die Butter ranzig und zweitens wird ein Teil der Geschäfte, in denen die Käufer eingetragen sind, bereits nachmittags gegen 15.00–16.00 Uhr geschlossen, so daß viele keine Butter erhalten.
Gleichzeitig wiesen Genossen Mitarbeiter des Magistrats darauf hin, daß nach vorläufiger Übersicht in den Kundenlisten ca. 100 000 Personen mehr eingetragen seien, als Einwohner vorhanden sind.
In vielen Geschäften und Gaststätten gibt es zeitweise kein Bier, keine alkoholfreien Getränke, keinen Weißwein und keinen Branntwein. Verkäufer in Lichtenberg erklärten gegenüber Genossen: „Sie sollten eigentlich wissen, daß nur noch die größeren Gaststätten mit Weißwein beliefert werden.“
Im Hotel „Albrechtshof“, in dem sich u.a. westdeutsche und ausländische Gäste aufhalten, gab es 6 Tage lang weder Bier noch Brause zu kaufen. Bisher wird in dieser Angelegenheit lediglich auf Arbeitskräftemangel hingewiesen. Große Unzulänglichkeiten gibt es im Handel mit Industriewaren auf vielen Gebieten (z.B. Textilwaren, Konfektionen, Schuhe, Gläser usw.).
Die Waschmittelverknappung hat teilweise großen Unwillen bei der Bevölkerung hervorgerufen. In einem Seifengeschäft in Karlshorst sagte eine Kundin: Daß mit diesen Anzeichen auch der zweite Weltkrieg angefangen hätte.
Im Zusammenhang mit diesen größer gewordenen Versorgungsschwierigkeiten wächst die Unzufriedenheit. In zahlreichen Geschäften kommt es zu offenen, kritischen Diskussionen, die teilweise von feindlich eingestellten Kräften zu provokatorischen Äußerungen ausgenutzt werden. Viele Parteimitglieder sagen, daß sie nicht wissen, wie sie dieser Diskussion Herr werden können. Die Verkaufskräfte werden täglich in solche Diskussionen hineingezogen und äußern sich zu ihrer Situation sehr unzufrieden und mißmutig.
In Lichtenberger Verkaufsstellen des staatlichen und genossenschaftlichen Handels verwiesen die Verkaufskräfte die Kunden auf eine vor kurzem stattgefundene Handelskonferenz, nach deren Feststellung es in den nächsten Wochen noch weniger Fleisch, Brot und Butter geben soll. In Treptow, Greatstraße [sic], wird in dieser Woche nur ½ Stück Butter pro Kopf ausgegeben.
In den großen Industriebetrieben im demokratischen Berlin werden heftige Diskussionen über die Versorgungslage, besonders von Kolleginnen und Kollegen geführt, die in den Randgebieten wohnen. Im VEB Bergmann-Borsig stehen Fragen der Fleisch-, Brot- und Kartoffelversorgung im Vordergrund. Teilweise sagen die Genossen im Betrieb, daß sie für diese Mängel keine ausreichende Argumentation besitzen, um die Kollegen zu beruhigen.
Sie meinen, die Regierung müsse doch endlich offiziell zu dieser schwierigen Versorgungslage Stellung nehmen.
Verstärkt treten Auffassungen auf (auch bei Genossen), daß die Umwandlung der Landwirtschaft doch zu früh und zu schnell erfolgte und wir heute dafür die Quittung bekommen.
In der Schaufelfräserei haben 18 Frauen verlangt, sonnabends ab 9.00 Uhr vormittags frei zu bekommen für den Einkauf, da sie nachmittags doch nichts mehr bekommen würden in den Randgebieten.
In diesem Zusammenhang waren eine Anzahl junger Arbeiter der Meinung, daß „wir“ mit solchen Schwierigkeiten nicht die Westberlinfragen lösen könnten, zumal der RIAS gesagt hätte: “Der Westen bleibt hart. Was wird nun?”
In Köpenick erklärten Hausfrauen beim Einkaufen, daß sie natürlich für einen Friedensvertrag seien und keinen Krieg wollen. Es sei aber doch offensichtlich, daß wir nicht in der Lage seien, die Menschen mit allem Notwendigen für den Lebensunterhalt zu versorgen.
Im zunehmenden Maße erklären Menschen in den Geschäften, daß sie bisher sich dagegen gesträubt hätten, in Westberlin einzukaufen. Jetzt seien sie aber aufgrund der zunehmenden Mängel in der Versorgung teilweise dazu gezwungen.
Allgemein verbreitet sich in diesen Gesprächen folgende Stimmung:
Im Gegensatz zu den Erklärungen der Presse geht es nicht vorwärts. Gegenwärtig treten Mängel auf, die 16 Jahre nach Kriegsende nicht sein dürften.
Dabei kommt es gegenüber Parteimitgliedern zu folgenden Äußerungen: „Reden ist Silber, Schweigen ist Gold“- „Es geht nicht nur nicht vorwärts, sondern ständig rückwärts“ - „Es wird Zeit, daß Lebensmittelkarten eingeführt werden - Zustände wie 1945“ - „Im Krieg bei Hitler gab es wenigstens regelmäßig Fleisch und Brot“.
„Wenn das mit Westberlin nicht bald geändert wird, machen wir alle pleite“ - „Wie lange wird noch über Westberlin gesprochen, ohne zu handeln“ - „Im vorigen Jahr wurde erklärt: Wenn der Flieder wieder blüht ...“ „Sagen Sie mal Herrn Ulbricht, er soll die Grenzen endlich dicht machen“ - „Wieso gibt es im Wendenschloß für die Funktionäre alles. Dort werden Gemüse, Spargel, Erdbeeren und andere Mangelwaren in Hülle und Fülle angeboten.“
Genossin Erna Hedrich, Referentin beim Magistrat, erlebte vor einigen Tagen in der S-Bahn folgendes Gespräch zweier Frauen:
„Bring mir wieder mal Äpfel aus dem ‚Städtchen‘ mit.“
„Geht nicht, weil die ‚Größen‘ alle weg sind, gibt es nichts Besonderes mehr. Die haben ja jetzt große Villen und Straßen am Wandlitzsee bauen lassen. Sie sollten lieber mal mit in der S-Bahn fahren und sehen, wie die Lage ist.“
Die Mitreisenden reagierten mit Gelächter.
II. Hinweise zur Versorgungslage im Bezirk Potsdam:
1. Am letzten Wochenende gab es in den Kreisen Potsdam-Stadt und Potsdam-Land und den Industriezentren des Bezirkes eine mangelnde Fleisch- und Wurstversorgung. Zum Teil gab es auch bei Brot Schwierigkeiten. In der Stadt Potsdam war an den letzten drei Sonnabenden bereits ab 10.00 Uhr kein Fleisch zu kaufen.
2. Es ist ein mangelhaftes Angebot in Potsdam-Stadt an Speisen in den Gaststätten zu verzeichnen und ebenfalls an Getränken, besonders alkoholfreie.
Zur Zeit sind in Potsdam die Parkfestspiele und viele Besucher aus der DDR, dem demokratischen Sektor von Berlin, Westberlin und Westdeutschland anwesend.
3. Es wird darauf hingewiesen, daß bereits von zentraler Stelle aus Berlin die Zuweisung für den Pro-Kopf-Anteil an Verbrauch von Lebensmitteln in den Randkreisen des Bezirkes unter dem Bezirksdurchschnitt in Potsdam liegt. Durch den starken Reise- und Urlauberverkehr sowie durch die Ferienheime und Ferienlager werden ein Teil der Lebensmittel vom Versorgungskontingent der Bevölkerung verbraucht.
4. Genossen weisen darauf hin, daß mit dem “Sputnik” (Verbindungszug Potsdam-Berlin) z.Zt. viele Obstbauern nach dem demokratischen Sektor fahren, um auf diesem Wege Spargel nach Westberlin zu verschieben. Der Zug würde nicht kontrolliert.
Quelle: SAPMO-BArchiv, DY 30/IV 2/6.10/29, S. 1–4; abgedruckt in Dierk Hoffmann und Michael Schwartz, Hrsg., Geschichte der Sozialpolitik in Deutschland seit 1945, Bd. 8: 1949–1961: Deutsche Demokratische Republik. Im Zeichen des Aufbaus des Sozialismus. Baden-Baden: Nomos, 2004, Nr. 8/220.