Kurzbeschreibung

In einem Interview mit dem Deutschlandfunk erklärt der Vorsitzende der Enquete-Kommission, der ehemalige DDR-Dissident Rainer Eppelmann, die Herausforderung einer öffentlichen Debatte über die Geschichte der ostdeutschen Diktatur, die ambivalente Rolle der protestantischen Kirche und die Bedeutung des offenen Zugangs zu den Archiven der Staatssicherheit.

Interview mit Rainer Eppelmann über die SED Enquete-Kommission (3. Mai 1992)

  • Rainer Eppelmann

Quelle

Interview mit Rainer Eppelmann (MdB/CDU), Vorsitzender der Enquete-Kommission des Deutschen Bundestages „Aufarbeitung der Geschichte und der Folgen der SED-Diktatur in Deutschland“

DLF: Herr Eppelmann, Vergeben und Vergessen sind nicht die schlechtesten christlichen Tugenden. Sie leiten jetzt eine Enquete-Kommission des Bundestages zur Aufarbeitung der SED-Diktatur. Haben die Menschen nicht ganz andere Sorgen?

Eppelmann: Die Menschen haben auch andere Sorgen. Aber das Thema „Was ist das in den letzten 40 Jahren gewesen, in besonderer Weise mit dieser Staatssicherheit?“, füllt ja seit Anfang dieses Jahres die ersten, zweiten und dritten Seiten aller Zeitungen. Kaum eine Nachrichtensendung, kaum eine Fernsehübertragung zu aktuellen Themen aus Deutschland, die nicht eine Nachricht zu diesem Bereich enthält. Das heißt, die Frage, was ist da tatsächlich gewesen, welcher Druck ist von dieser Staatssicherheit entweder ganz direkt auf mich ausgeübt worden oder über die Schule, über den Betrieb, über den Sportverein, über den Kultur- oder Schriftstellerverband – das ist schon eine Frage, die viele Menschen in Ostdeutschland bewegt. Zum Glück nicht alle. Aber viele.

DLF: Die Enquete-Kommission hat sich bereits Arbeitsschwerpunkte gesetzt. Es wurden Arbeitsgruppen gebildet. Bis zum 20. Mai soll eine umfassende Konzeption stehen. Wie werden Sie arbeiten, mit wem werden Sie arbeiten, wann wollen Sie Ergebnisse haben?

Eppelmann: Jetzt hat sich schon abgezeichnet, daß wir eine ganze Reihe von Arbeitsgruppen werden bilden müssen, in denen dann jeweils nur einzelne aus der Enquete-Kommission mitarbeiten werden. [] Wir wollen mit dem Bereich der Bildung in der DDR anfangen. Welchen Einfluß hat sie auf Menschen gehabt, auf Heranwachsende, auf ihr Verhalten, auf ihre Grundeinstellung, auf die Art und Weise, wie sie redeten oder wo sie schwiegen? Welchen Einfluß hat sie auf Erwachsene gehabt, wenn sie ihre Kinder in die Jungen Pioniere schickten, als Lernanfänger, obwohl sie wußten, daß das im Grunde die Kinderorganisation der SED gewesen ist und das eigentlich nicht alle wollten. Sie haben es aus Liebe zu ihrem Kind getan oder aus Angst um ihr Kind und dessen Zukunft. Darüber wird nachzudenken und zu reden sein.

Eine zweite Gruppe wird sich mit dem Zustand einzelner Archive befassen, zum Beispiel dem SED-Archiv, dem Staatssicherheitsarchiv, dem Archiv des Politbüros, der Blockparteien, sie wird danach zu fragen haben, was ist zum Beispiel im Herbst 1989 oder im Frühjahr 1990 in diesen Archiven und aus welchen Gründen vernichtet worden, mit welchen Motiven? Eine dritte Gruppe wird sich mit Struktur und Arbeitsweise der Staatssicherheit befassen, in dem Versuch und in dem Bemühen, zu Bewertungskriterien zu kommen. Ich wage Ihnen wenigstens noch zwei Bereiche zu nennen, von denen ich den Eindruck habe, daß sie ganz sicher auch eine große Rolle in unserer Kommission spielen werden. Das ist einmal der ganze Bereich der Wirtschaft und der Bereich von Kultur, Sport, Kirchen. Uns ist deutlich, darüber sind wir uns auch einig, daß wir nicht alle Komplexe, die mit der DDR-Geschichte etwas zu tun haben, aufarbeiten, vertiefen können. Wir werden uns also einzelne Schwerpunkte heraussuchen müssen, in der Hoffnung, daß wir da tatsächlich zu Ergebnissen kommen. Uns ist wichtig, daß deutlich wird: Es geht um die vielen Menschen. Es wäre ganz fatal, wenn wir den Eindruck nicht vermeiden könnten, daß wir zweieinhalb Jahre nur über Erich Honecker und Bärbel Bohley geredet haben. Wir müssen über das Leben der 16 Millionen reden und auch über das Verhalten der 60 Millionen, also der Westdeutschen, zumindest an den Stellen, wo sie direkt oder indirekt die Lebensverhältnisse in der DDR oder die Verhaltensweisen der dort Lebenden, der Regierenden wie der Regierten, durch ihr Tun oder Nichttun beeinflußt haben. Ob am Ende ein Zwischenbericht, ein Teilbericht oder ein Endbericht steht, das, glaube ich, kann Ihnen im Augenblick noch kein Mensch sagen.

DLF: Herr Eppelmann, in Leipzig ist im März ein »Forum zur Aufklärung und Erneuerung« gegründet worden, hauptsächlich initiiert von Leuten der ehemaligen DDR-Bürgerrechtsbewegung. Ist das eine Konkurrenz oder eher eine Ergänzung?

Eppelmann: Beides, und das schließt sich meiner Meinung nach nicht aus. Eine ganz sinnvolle Ergänzung, gleichzeitig aber auch ein Stück Konkurrenz, die uns unter Druck setzt: Nehmt Eure Arbeit nicht zu leicht, sonst werdet Ihr von denen blamiert. Die Enquete-Kommission des Deutschen Bundestages ist die Antwort der Parlamentarier des Deutschen Bundestages auf die allgemein gestellte Frage: Wie kann man versuchen, DDR-Geschichte aufzuarbeiten? Eine Frage, mit der sich nach meinem Eindruck jeder ehemalige DDR-Bürger befassen sollte. Ich hätte also Lust, selbst wenn ich nicht weiß, was ich damit anstifte, möglichst vielen ehemaligen DDR-Bürgern Mut zu machen, über ihr Leben nachzudenken, das aufzuschreiben, daraus dann möglicherweise einen Brief zu machen oder einen Bericht und den abzuschicken, damit wir das zur Kenntnis nehmen können. Wir sind auf solche Formen der Zusammenarbeit mit möglichst vielen, also etwa auch mit dem Leipziger Forum, aber auch mit dem Domaschk-Archiv in Berlin zum Beispiel angewiesen oder auf das, was sich da Opfer-Täter-Gespräche nennt.

DLF: Sie selbst, Herr Eppelmann, kommen aus der kirchlichen DDR-Opposition. Sie haben sich bereits Anfang der achtziger Jahre mit dem Staat angelegt. Wenn ich recht informiert bin, war das Ihrer Kirchenleitung oft ein wenig unangenehm. Hat sich die Amtskirche zu DDR-Zeiten immer richtig verhalten?

Eppelmann: Ganz sicher hat sie sich nicht immer richtig verhalten. Mit großer Überzeugung vertritt die evangelische Kirche den Satz, daß auch Konzilien irren können. Das wird ja wohl nicht nur für katholische Konzilien gelten, sondern auch für evangelische. Die Frage möchte ich zunächst einmal aus einer ganz allgemeinen menschlichen Erfahrung beantworten. Da muß ich natürlich sagen, daß selbst die Kirchenleitung der evangelischen Kirche in der DDR Fehler gemacht hat, zum Beispiel aus dem Grund, daß wir trotz der Trennung von Staat und Kirche, einem von Staat wie Kirche anerkannten Prinzip, doch eine ganze Reihe von Vorrechten hatten, die andere Vereinigungen nicht gehabt haben. Wir konnten Glocken läuten – das ist vielleicht noch etwas relativ Nebensächliches –, wir haben die Möglichkeit gehabt, über Gleichgesinnte in der Bundesrepublik, also evangelische Christen in der Bundesrepublik, Geld zu bekommen, um Kirchen wieder aufzubauen, um diakonische Einrichtungen, Krankenhäuser einzurichten oder deren Ausrüstung zu verbessern. Wir sind Menschen gewesen, die – zumindest in leitenden Positionen – die DDR zu Dienstreisen verlassen konnten zu einer Zeit, als das anderen gar nicht möglich gewesen ist. Es gab kirchenleitende Persönlichkeiten, die einen Dauerpaß hatten. Sie haben also praktisch zu jeder Zeit in den Westen kommen können.

Verständlicherweise ist die Kirche auch immer wieder in der Versuchung gewesen, sich diese Privilegien und Vorrechte zu erhalten, sie nicht zu riskieren, sie nicht zu verlieren. Wenn Sie dann noch an das wichtigste Privileg denken, daß die Veranstaltungsverordnung der DDR der Kirche als der einzigen Organisation zugestand, ihre gottesdienstlichen Veranstaltungen vorher nicht anmelden zu müssen – dieser Zustand war ein Grund dafür, daß die Fülle von Friedensgruppen in der DDR sich unter dem Dach der evangelischen Kirche gemeldet haben –, dann ist mir das sehr, sehr verständlich, daß wir uns da auch immer wieder unter dem Druck befanden: Laßt uns die wenigen Freiräume, die wir haben, halten oder sogar ausbauen. Dieses Bemühen, das ich unterstützte, hier Freiräume auszubauen, auszuhalten, ist ja nicht nur für die Amtskirche gewesen, sondern für die fünf Millionen bis sechs Millionen Christen und in zunehmendem Maße darüber hinaus auch für andere Menschen. Aber ich kann mich inzwischen des Eindrucks nicht mehr erwehren, und Einsicht in eigene Akten oder auch in andere Akten belegen inzwischen, daß bei dem von mir unterstützten Bemühen, hier Freiräume zu erhalten und zu vergrößern, Einzelne doch immer wieder mal unbequeme Redner oder Mahner oder auch Demonstrierer haben im Regen stehen lassen oder auch einmal verraten haben.

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DLF: Sie haben einmal gesagt, daß alle Bürger der DDR auf irgendeine Art Huren gewesen wären, daß sie sich alle haben benutzen lassen vom SED-Staat. Konnte man unter den Bedingungen des realen Sozialismus politisch-moralisch in der DDR nicht sauber bleiben?

Eppelmann: Das ist eine ganz komplizierte Frage. Wenn Sie mit „sauber bleiben“ meinen, daß man in dieser DDR leben konnte, ohne Kompromisse zu machen, dann muß ich sagen: Nein, das ging nicht. Zu unserem menschlichen Leben, auch zum Leben der Menschen in der DDR wie zu denen in der alten Bundesrepublik, gehört es dazu, zu begreifen, daß nicht alle meine Vorstellungen, nicht alle meine Wünsche, nicht alle meine Ideen in Erfüllung gehen können oder sich verwirklichen lassen. Ich werde also das, was ich gerne möchte, ins Verhältnis setzen müssen zu dem, was möglich zu sein scheint, und dann einen Kompromiß finden müssen. Das ist zunächst für mich noch nichts Schmutziges. Das würde ich moralisch nicht negativ bewerten wollen. Das tritt für mich erst dann ein, wenn derjenige einen solchen Kompromiß, den er eingeht, auf Kosten eines anderen eingeht, zu seinen eigenen Gunsten. Das, meine ich, ist nicht nötig gewesen. Das ist für mich zum Beispiel eine ganz entscheidende Stelle, wo ich frage: Wo ist tatsächliche Schuld da? Schuld, die auch eine Sühne erfordert, wo dann möglicherweise, wenn ein Schuldeingeständnis da ist, auch Vergebung folgen kann. Vergessen wahrscheinlich nicht, das können wir nicht bestimmen, aber vergeben. Ich gestehe jedem Menschen zu – wer möchte schon gar als Held oder Heiliger oder Märtyrer sterben –, daß man Kompromisse machen muß, wenn man nicht als Robinson Crusoe leben will. Mit anderen zusammen, das geht ja bis in die Familie, also bis in die Gemeinschaft derer hinein, die voneinander sagen, wir haben uns lieb – auch da muß man Kompromisse eingehen. Aber diese Kompromisse dürfen anderen nicht ihre Lebensmöglichkeiten nehmen.

Jetzt komme ich wieder zu dem aktuellen Thema zurück. Sehr wohl ist es meiner Meinung nach das Recht und die Pflicht der evangelischen Kirche gewesen, in der DDR Kompromisse mit diesem Regime einzugehen, um Lebensmöglichkeiten, Glaubensmöglichkeiten für Christen zu erhalten oder sogar zu vergrößern. Wenn dies aber dadurch passiert ist, daß man einzelnen, daß man anderen geschadet hat, dann ist dieser Kompromiß über eine Grenze hinweggegangen, über die er eigentlich nicht hätte hinausgehen dürfen. Die Kirche schon gar nicht, die für sich in Anspruch nimmt: Wir möchten alle Nachfolger dieses Jesus von Nazareth sein. Da wäre für mich noch einmal ein qualitativer Unterschied zwischen allen anderen – allen Parteien, Vereinigungen und, und, und – und dieser Kirche Jesu Christi.

DLF: Wie beurteilen Sie die stärker werdende Kritik insbesondere von Sozialdemokraten an der Arbeit der Gauck-Behörde? Es ist da von Inquisition die Rede, von Groschenromanen, die erstellt würden, von der Umkehr rechtsstaatlicher Prinzipien.

Eppelmann: Das sind für mich unerträgliche Töne, und zwar deswegen unerträgliche Töne, weil ich sie erst in den letzten Wochen höre, erst seitdem der Ministerpräsident von Brandenburg, der von mir ansonsten sehr geschätzte Manfred Stolpe, ins Visier, in die Beobachtung gekommen ist. Das ist offensichtlich für die, die sich innerhalb der SPD geäußert haben, kein Problem gewesen, als es um Lothar de Maizière oder Wolfgang Schnur ging oder um die vielen, bis hin zu Küchenhilfen, die im Land Brandenburg heute nicht mehr im öffentlichen Dienst tätig sein können, weil sie mit der Staatssicherheit zusammengearbeitet haben. Ich meine, es gibt ein Gesetz – Stasi-Unterlagen-Gesetz –, von dem alle Bundestagsabgeordneten mehr oder weniger wußten, daß wir mit diesem Gesetz auch ein Risiko eingehen, weil wir da Neuland betreten. Wir haben so etwas noch nie getan. Aber es ist ein Gesetz gewesen, das mit übergroßer Mehrheit des ganzen Hauses angenommen worden ist. Wir haben gesagt: Uns ist klar, weil wir da Neuland betreten, daß es Novellierungen dieses Gesetzes geben wird. Wir sind aber eigentlich alle der politischen Absicht gewesen – selbst die PDS hat da nur – meine ich – mit Stimmenthaltung votiert –, daß auch dieser Teil der DDR-Geschichte aufgearbeitet werden muß. Da auf einmal nur deswegen eine völlig andere Meinung zu bekommen, weil eine Symbol- und Integrationsfigur der SPD jetzt ins Zwielicht geraten ist. [] Aber doch nicht wegen der Gauck-Akten, sondern wegen seines eigenen Verhaltens. Ich habe den Eindruck, wenn man hier Kritik üben will, dann muß man sie mit Manfred Stolpe üben und nicht mit den Akten. Die Akten müssen natürlich auch als das gesehen werden, was sie sind. Darauf weist Herr Gauck auch immer wieder hin. Das ist nun nicht die Bibel, das ist nicht die ewige Wahrheit. Aber es sind aus einer ganz bestimmten Optik heraus Berichte über Ereignisse, Veranstaltungen, Gespräche, Treffen, die stattgefunden haben. Nach all dem, was bisher zu sehen ist, muß man, was die Wertung dieser Akten angeht oder die Wertung, die in diesen Akten drinsteht, ungeheuer vorsichtig sein, weil das natürlich immer parteilich gewesen ist. Aber ich kenne meine Akte. Es gibt kein einziges Beispiel dafür, wo behauptet worden ist, das und das ist passiert, und es ist dann nicht passiert in der Wirklichkeit, sondern das stimmt immer. Da ist eine Sache, eine Veranstaltung, die ich als sehr gut, sehr gelungen und sehr hilfreich für viele Menschen empfunden habe, und da stand eben, was weiß ich: Angriff gegen den Staat, konterrevolutionäre Sache. Aber da hat nie dringestanden, an dem und dem Tag hat eine Veranstaltung stattgefunden, die gar nicht stattgefunden hat.

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Quelle: „Interview mit Rainer Eppelmann [MdB/CDU], Vorsitzender der Enquetekommission des deutschen Bundestages ‚Aufarbeitung der Geschichte und Folgen der SED-Diktatur in Deutschland‘“, Deutschland Archiv 25, Nr. 8 (1992), S. 668–671ff.