Quelle
Interview von Kurt Starke mit Eduard Stapel (SVD) am 19. April 1994
Starke: Wann würdest du den Beginn der Schwulenbewegung in der DDR datieren?
Stapel: Eigentlich schon mit den ersten Versuchen des Dresdener Arztes Klimmer in den 50er Jahren, von dem ich allerdings nicht viel weiß. In den 60er Jahren ist, soweit ich weiß, nichts passiert. Dann die Versuche der Homosexuellen Interessengemeinschaft Berlin ab 1973. Und Ende der 70er Jahre mit Uschi Sillge in Berlin. Was den Beginn der institutionalisierten Bewegung betrifft: Das wäre dann 1982. Doch davor sind eben auch schon Versuche unternommen worden.
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Warum hat das die Kirche damals einfach gemacht? Ich meine, die Kirche hat ihr eigenes Verhältnis zur Homosexualität. Ich habe mich gefragt: Warum nimmt sich ausgerechnet die Kirche der Homosexuellen an?
Es gibt eben nicht „die“ Kirche. Es gibt bei solchen Fragen eine Bandbreite von totaler Ablehnung bis Zustimmung. Es war ja auch nicht überall und nicht überall sofort möglich, solche Arbeitskreise einzurichten. Aber gerade hier in Leipzig gab es einen Studentenpfarrer, Vertreter der Studenten und eben den Kirchengemeinderat, die, nachdem wir ihnen das erklärt hatten, zustimmten und meinten, daß man genau dies tun müßte, daß Kirche aufarbeiten und Defizite ausgleichen muß. So hat das schließlich vielerorts geklappt. Zum Schluß bestanden 22 solcher kirchlicher Arbeitskreise überall in der DDR.
Würdest du darin eine bestimmte demokratische Funktion von Kirche in der DDR sehen? Sich einfach einer Minderheit annehmen, die in der Gesellschaft ein schwieriges Dasein hat. Einen Freiraum für diese Minderheit bieten. Demokratie ist natürlich immer auch Politik, aber in diesem Fall treffen sich demokratische und menschliche Funktion. Könnte man das so bezeichnen?
Ja. Ich meine schon. Sicher hat es innerhalb der Kirche auch Leute gegeben, die meinten, mit Hilfe der Homosexuellen die DDR unterwandern zu können. Und es gab ja nicht nur die Schwulen- und Lesbengruppen, sondern auch Menschenrechts-, Öko-, Friedens-, Frauen- und viele andere Gruppen, die ganz im Sinne dieser Funktion von Kirche gearbeitet haben. . . .
Alles heiße Themen . . .
Alles heiße Themen. Aber: Daß solche Gruppierungen überhaupt möglich waren, lag daran, daß die acht evangelischen Landeskirchen in der DDR ziemlich demokratisch waren. Die Gemeinde vor Ort bestimmt, was gemacht wird. Selbst wenn die Kirchenleitung der Meinung war, homosexuelle Gruppen gehörten nicht dahin, konnte die Gemeinde sagen, wir machen das, da können sich das Konsistorium, das Landeskirchenamt, der Bischof auf den Kopf stellen. Zum einen waren diese Arbeitskreise also möglich, weil die Kirche demokratisch war (und hoffentlich noch ist und bleibt). Zum anderen, denke ich, haben diese Arbeit selbst und die Kirche durch solche Arbeit zur Demokratisierung in der DDR beigetragen oder wenigstens zur Emanzipation solcher Bevölkerungsgruppen wie der der Homosexuellen, die sich ja sonst nicht so geäußert hätten, nicht so Demokratie gelernt hätten.
Ich bin in den 80er Jahren und vor allem im Zusammenhang mit AIDS immer wieder gefragt worden, warum sich die FDJ nicht der Homosexuellen annähme, warum sich die Räte der Städte so quer stellten, warum es so schwer wäre, Begegnungsstätten zu schaffen usw. Ich konnte das nie richtig beantworten und habe gesagt, das sind Dummköpfe. . . .
Sicher hängen da eine ganze Menge Dummheit und Vorurteile dran. Aber über 40 Jahre hinweg traue ich Politbüro und ZK nicht Dauerdummheit zu. Es muß schon eine Strategie dahinter gewesen sein. So vermute ich. Ob es die wirklich gegeben hat, weiß ich nicht. Es ist ja z.B. auch die Frage, warum Stalin den schon abgeschafften Homosexuellen-Paragraphen wieder eingeführt hat. Das kann nicht nur Dummheit gewesen sein. Vielleicht hängt das mit dem Umgang mit Minderheiten generell, mit Sündenbockfunktion zusammen.
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Stichwort Staat. Du hast Erfahrungen mit dem Staat. Und da kommen wir auch heute um das leidige Thema Stasi nicht herum, ein schwieriges Thema. . . .
Für mich nicht.
Wieso für dich nicht?
Es war doch für DDR-Zeiten völlig klar, daß die Stasi mithört und mitliest. Also wenn ich einen Brief geschrieben habe, war mir klar, daß der gelesen wird oder gelesen werden kann. Zum Schluß wurden mir ja die Briefe schon geöffnet nach Hause gebracht, gar nicht wieder zugeklebt. Wußten wir ja doch. Oder wenn wir in Gruppen waren und ich merkte, einer schießt politisch übers Ziel hinaus, habe ich ihn immer gebremst, damit da nicht jemand ins offene Messer rennt. Insofern wundert mich, daß manche Betroffene sich heute wundern, was die Stasi alles gemacht hat. Damals hätten sie sich nicht gewundert.
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Quelle: „Interview von Kurt Starke mit Eduard Stapel (SVD) am 19. April 1994“; abgedruckt in Kurt Starke, Schwuler Osten. Homosexuelle Männer in der DDR. Berlin: Ch. Links Verlag, 1994, S. 91–110. Wiedergabe mit freundlicher Genehmigung.