Kurzbeschreibung

In diesem Auszug aus einem längeren Interview antwortet Außenminister Sigmar Gabriel (SPD) auf Fragen nach der Rolle Deutschlands und Europas in einer sich schnell verändernden Welt. Beide müssten ihren Platz in einem Umfeld finden, in dem Normen und Interessen oft in einem Spannungsverhältnis zueinander stehen.

Sigmar Gabriel über Normen und Interessen in der Außenpolitik (4. Januar 2018)

Quelle

Interview mit Außenminister Gabriel: „In einer Welt voller Fleischfresser haben es Vegetarier schwer“

SPIEGEL: Herr Außenminister, beginnen wir das neue Jahr mit Visionen: Wenn Sie sich die deutsche Außenpolitik 2028 vorstellen – wie wird diese aussehen?

Gabriel: Ich hoffe, dass sie Teil einer europäischen Außenpolitik sein wird, denn selbst dieses kräftige Land Deutschland wird keine wirkliche Stimme in der Welt haben, wenn es nicht Teil einer europäischen Stimme ist.

SPIEGEL: Was werden die Kernpunkte dieser europäischen Außenpolitik sein?

Gabriel: Sicher ist, dass wir eine Außenpolitik brauchen, bei der wir gemeinsam europäische Interessen definieren. Bisher definieren wir häufig europäische Werte, bei der Definition gemeinsamer Interessen sind wir viel zu schwach. Um einem Missverständnis gleich vorzubeugen: Unsere Werte Freiheit, Demokratie, Menschenrechte dürfen wir nicht kleinmachen. Im Gegenteil. Aber der Politologe Herfried Münkler hat recht: Nur normative Positionen zu beziehen, nur Werte in den Mittelpunkt zu stellen wird in einer Welt von lauter harten Interessenvertretern nicht erfolgreich sein. In einer Welt voller Fleischfresser haben es Vegetarier sehr schwer.

SPIEGEL: Gelernt hat Deutschland diese politische Härte nicht.

Gabriel: In der Vergangenheit konnten wir uns darauf verlassen, dass Franzosen, Briten und allen voran die Amerikaner unsere Interessen in der Welt durchsetzen. Wir haben ja immer die USA als Weltpolizisten kritisiert, oft durchaus auch mit Recht. Aber heute merken wir, was passiert, wenn die USA sich zurückziehen. Es gibt in der internationalen Politik eben kein Vakuum. Wenn die USA einen Raum verlassen, treten andere Mächte sofort hinein. In Syrien sind das Russland und Iran. In der Handelspolitik ist es China. Diese Beispiele zeigen: Am Ende erreichen wir beides nicht mehr, die Verbreitung unserer europäischen Werte ebenso wenig wie die Durchsetzung unserer Interessen.

SPIEGEL: Sind Sie sich eigentlich sicher, dass sich die USA an die Bündnisverpflichtung nach Artikel 5 der Nato gebunden fühlen?

Gabriel: Wir sind froh, dass Donald Trump und die USA den Artikel 5 bestätigt haben. Aber man sollte das Vertrauen darauf nicht überstrapazieren. Gleichzeitig kann sich Europa, selbst bei einer Stärkung der europäischen Strukturen, ohne die USA nicht verteidigen.

SPIEGEL: Wie sehen Sie Deutschlands Rolle in der Welt heute?

Gabriel: Wir sind heute ein Sehnsuchtsort, so wie die USA vom 18. bis zum 20. Jahrhundert ein Sehnsuchtsort für alle waren, die Freiheit, Wohlstand, Demokratie suchten.

SPIEGEL: Meinen Sie explizit Deutschland, oder gilt auch diese Bewertung für ganz Europa?

Gabriel: Sicher steht die Europäische Union insgesamt für diese Sehnsucht. Aber natürlich Deutschland wegen seiner wirtschaftlichen Stärke besonders. Auch wegen seiner Friedfertigkeit. Und wenn man sich jetzt vorstellt, dass wir vor mehr als 70 Jahren ein furchtbarer Ort waren, dass die Menschen dieses Deutschland gefürchtet haben, ist es doch erst einmal eine wunderbare Entwicklung, dass wir von einem furchtbaren Ort zu einem Ort der Sehnsucht geworden sind.

SPIEGEL: Sie beschreiben eine allzu idyllische Gegenwart.

Gabriel: Ich weiß auch, dass es nicht für alle Menschen einfach ist, in Deutschland von gut bezahlter Arbeit zu leben. Man muss hier viel können und leisten. Und ich weiß ebenfalls, dass es auch bei uns viel zu viel Armut und auch Ungerechtigkeit gibt. Und trotzdem: Unsere Eltern und Großeltern haben ein unglaublich wohlhabendes und friedfertiges Land aufgebaut. Natürlich darf man nicht unterschätzen, wie sehr das alles von unserer Wirtschaftskraft abhängt. In Wahrheit haben ja Moskau, Peking und Washington eines gemeinsam: Sie schätzen die Europäische Union überhaupt nicht. Sie missachten sie.

SPIEGEL: Europa wirkt tatsächlich nicht allzu robust.

Gabriel: Das gilt ja mit wenigen Ausnahmen auch für die meisten autoritär geführten Staaten. Oft vertreten einfach nur vermeintlich starke Männer wirtschaftlich und sozial schwache Länder. Die Durchsetzung von Macht und Konfrontation nach außen verdeckt nicht selten die großen Probleme im Innern. Es besteht die Gefahr, dass sich dieser autoritäre Politikstil nun auch in die westliche Welt hineinfrisst. Und alle haben gemeinsam, dass sie ihre nationalen Interessen über die der Weltgemeinschaft setzen. Wir Europäer tun das nicht. Aber genau deshalb werden wir von diesen autoritär geführten Staaten eher belächelt. Ich bin überzeugt: Wir leben in einer Ära der Konkurrenz zwischen demokratisch und autoritär verfassten Staaten. Und Letztere versuchen schon jetzt, Einfluss in der Europäischen Union zu gewinnen und uns zu spalten. Erste Risse sind erkennbar in Europa. Wir werden unsere Freiheit in Zukunft weit mehr verteidigen müssen als in der Vergangenheit.

SPIEGEL: Weil unsere liberale Demokratie nicht effizient ist?

Gabriel: Weil es heute eine ständige Output-Betrachtung gibt: Was bringt dies oder jenes an Wohlstand? Was bringt es an Stärke, an Technologie, an politischem und militärischem Einfluss? Es wird immer weniger danach gefragt, ob die Entwicklung demokratisch und frei erfolgt. Europa ist in einer Phase, in der es diesen Output nicht ausreichend sicht- und spürbar liefert. Wir haben immer noch eine viel zu hohe Jugendarbeitslosigkeit, wir haben unsere Währungsprobleme nicht gelöst, und die Lebensbedingungen in Europa driften auseinander. Deswegen sagen Kritiker auch, dass unser Europa ein Modell von gestern sei. Das ist eine große Gefahr für uns Europäer: Wir müssen zeigen, dass die, die uns so betrachten, im Irrtum sind, dass wir uns einigen können, dass wir als Gemeinschaft demokratischer und freier Staaten wirtschaftlich erfolgreich sind und politisch an Einfluss gewinnen. Dafür muss Europa auch eine Machtprojektion entfalten.

SPIEGEL: Muss Europa gefürchtet werden?

Gabriel: Nein, nicht gefürchtet. Im Gegenteil. Länder, die mit uns zusammenarbeiten, sollen sich sicherer fühlen, als wenn sie es mit nicht demokratischen Regimen tun. Warum baut Europa in Afrika keine Infrastruktur, sondern überlässt das China? Warum schaffen wir es nicht, den wirtschaftlichen Aufbau in den osteuropäischen Nachbarstaaten im Balkan voranzutreiben, und überlassen diese Länder dem wachsenden Einfluss von Russland? In einer unbequemen Welt werden wir es uns als Europäer nicht mehr bequem machen können und auf die USA warten.

SPIEGEL: Das heißt, die Demokratie muss effizienter werden.

Gabriel: Wir sind ein sehr effizientes Land. Aber es geht nicht um Effizienz, sondern um den dauerhaften Erhalt unseres europäischen Geschäftsmodells. Diese Behauptung, Demokratie und Effizienz würden sich widersprechen, ist übrigens Unsinn. Das zeigt schon die Demokratiegeschichte selbst, denn nur Demokratien waren und sind fähig, aus Fehlern zu lernen. Man kann eher die Frage stellen, ob nicht ein Land wie China, das ökonomisch ungeheuer erfolgreich ist, in Wahrheit ineffizient ist – angesichts seiner Umweltzerstörung oder seiner Korruption. In der Wahrnehmung Chinas allerdings ist zweifellos das demokratische Modell unterlegen.

SPIEGEL: Halten Sie Europa nicht mitunter auch für dysfunktional?

Gabriel: Seit Jahren hören wir stets vom Multispeed-Europa, einem Europa der unterschiedlichen Geschwindigkeiten. Man müsste dankbar sein, wenn es so wäre, denn dann würden immerhin alle in die gleiche Richtung gehen, nur unterschiedlich schnell. In Wahrheit haben wir leider längst ein Multitrack-Europa: ganz unterschiedliche Zielsetzungen. Die traditionellen Unterschiede zwischen Nord und Süd in der Finanz- und Wirtschaftspolitik sind weit weniger problematisch als die zwischen Ost- und Westeuropa. Im Süden und im Osten gewinnt China stetig an Einfluss, so sehr, dass einige europäische Mitgliedstaaten es nicht mehr wagen, Entscheidungen gegen chinesische Interessen zu treffen. Man merkt es überall: China ist das einzige Land auf der Welt mit einer echten geopolitischen Strategie.

SPIEGEL: Der Strategie, Europa zu spalten?

Gabriel: Nein, aber den Einfluss Chinas zu erhöhen.

SPIEGEL: Werte und Interessen können kollidieren. Verlieren dann die Werte?

Gabriel: Nein, das heißt es nicht. Ich bin zunächst dafür, dass man diese Spannung aushält, dass man sie überhaupt erzeugt.

SPIEGEL: Man hat Ihnen vorgeworfen, dass Sie mit Blick auf die Proteste in Iran zu wenig klar die Einhaltung von Werten angemahnt haben. Wie sehen Sie die Situation in Iran: Erleben wir gerade einen iranischen Frühling?

Gabriel: Das ist schwer zu beurteilen. Die Proteste werden bisher von sehr unterschiedlichen Gruppen getragen. Es fehlen Führungsfiguren und eine gemeinsame politische Agenda. Klar ist aber auch, dass die Unzufriedenheit in Iran Gründe hat, wirtschaftliche und politische Gründe. Wir haben der iranischen Führung immer wieder gesagt, dass letztlich die wirtschaftliche Erholung des Landes nur durch mehr internationale wirtschaftliche Zusammenarbeit erfolgen kann. Die setzt aber nicht nur voraus, dass Iran keine Atomwaffen entwickelt, sondern dass insgesamt die Rolle Irans in der Region weit friedfertiger werden muss. Wir haben angeboten, darüber endlich zu echten Verhandlungen und Gesprächen zu kommen.

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Quelle: „,Eine Welt von Fleischfressern‘ – Interview mit Außenminister Gabriel“, Der Spiegel, 4. Januar 2018, S. 34-36.