Kurzbeschreibung

Guido Westerwelle, der Vorsitzende der FDP, hat wesentlich zur programmatischen Veränderung seiner Partei beigetragen. Die FDP propagiert wie keine andere Partei in Deutschland eine neoliberale Politik und hat damit Einfluss auf die Reformdiskussion im Land genommen. Auch das sehr gute Wahlergebnis der FDP von 2005 kann jedoch nicht darüber hinwegtäuschen, dass Neoliberalismus in Deutschland nach wie vor keinen guten Namen hat.

Die FDP, die Partei des Neoliberalismus (11. Mai 2006)

  • Matthias Geis

Quelle

Liberale ohne Neo

Die FDP vor ihrem Parteitag: Nach sieben Jahren Opposition spült sie ihr Reformprogramm weich. Denn mit Neoliberalismus pur kommt sie nicht zurück an die Macht.

FDP-Parteitag in Rostock. Die Stimmung wird prächtig sein. Parteichef Guido Westerwelle hat Wolfgang Gerhardt nun auch den Fraktionsvorsitz abgerungen. Und die Liberalen dürfen auf ein schönes Bundestagswahlergebnis zurückblicken: 9,8 Prozent, größte Oppositionspartei. – Nur eben wieder Opposition. Könnte es sein, dass die FDP schuld ist, dass es wieder nicht zum Regieren reichte? Das ist eine vertrackte Frage, die man in Rostock wahrscheinlich nicht stellen wird. Dabei wäre es für die FDP interessant zu wissen, ob der Neoliberalismus in Deutschland einfach nicht mehrheitsfähig ist.

Rostock ist für die FDP ein eher traumatischer Ort. Hier verpasste Generalsekretär Werner Hoyer den Liberalen einst das Label „Partei der Besserverdienenden“. Es war der fulminanteste Rohrkrepierer im jüngeren deutschen Polit-Marketing. Für einen so unverschämt offenen Klientilismus war die gerade wiedervereinigte Republik noch nicht reif. Damals, 1994, begann bei der FDP die Zeit der hektischen Rollensuche. Wie viele kleine und große Volten hat sie seither geschlagen? Auf der Flucht vor ihrem jeweiligen Image produzierte sie immer neue Images. Die FDP war Funktionspartei zur Erhaltung der Kohlschen Kanzlerschaft, sie verwandelte sich in eine radikale Programmpartei, wurde im Wahn des „Projektes 18“ zur populistischen Spaßpartei und versuchte sich danach in eine seriöse Reformkraft fürs ganze Volk zurückzubilden. Jetzt will sie sich thematisch ein wenig verbreitern. Ökologie soll stärker werden.

Nur der Neoliberalismus hat alle Kurven überdauert. Zehn Jahre ist es her, dass der junge Generalsekretär Guido Westerwelle auf einem Programmparteitag in Karlsruhe die Neuorientierung seiner Partei einleitete. „Die FDP war viel zu lange überwiegend Funktionspartei“, analysierte er damals. Die überzeugungslos gewordene FDP brauchte ein Programm, mit dem sie wieder in die politische Gestaltungsdebatte eingreifen konnte. Zu viel Konsens, zu viel Staat, zu viel Bequemlichkeit ortete Westerwelle in der deutschen Gesellschaft und im politischen System. Doch die FDP, seit Jahrzehnten tragender Teil dieses Systems, entdeckte nun plötzlich die radikalen Gegenmittel: Eigenverantwortung des Individuums, Reduktion des Staates, Wettbewerb, Leistungsbereitschaft, das klang durchaus liberal. Nur sollte die Richtung nun endlich konsequent eingeschlagen werden. Eine radikale Steuerreform, Subventionsabbau, rigide Haushaltskonsolidierung, Verbot neuer Schulden und Privatisierung der sozialen Sicherung wurden zu Reformverheißungen für die „liberale Bürgergesellschaft“. Karlsruhe wurde zum Geburtsort des Neoliberalismus.

Westerwelles sprühende Energie und sein Ehrgeiz trafen auf eine politische Situation, in der die Versäumnisse der Jahre zuvor plötzlich ins allgemeine Bewusstsein drangen. Die Einheit hatte die Krise der öffentlichen Haushalte und der Sozialsysteme erst verdeckt, dann verschärft. Auch die Qualitäten des Produktionsstandorts Deutschland standen mit einem Mal infrage. Westerwelle nutzte die Krise, seine Partei als Avantgarde einer neuen Reformbewegung zu platzieren. Nicht mehr von der jahrzehntelangen Mitverantwortung der „alten“ FDP, sondern vom konsequenten reformerischen Elan der „neuen“ war nun die Rede. Westerwelle brach mit den Usancen verschleiernder politischer Rhetorik. Die FDP propagierte die Abkehr von der „Konsensdemokratie“. Das war in Form und Inhalt eine Kampfansage. Er wolle „FDP-Politik pur machen“, verkündete plötzlich der Generalsekretär einer Partei, die in den Jahren zuvor jede eigenständige politische Initiative aufgegeben hatte. Es war dieser offensive Gestus, der die konzeptionellen Unklarheiten verdeckte. Ein gehöriger Schuss Populismus steckte von Beginn an in diesem Projekt.

„Der Zeitgeist entspricht unserem Programm“, formulierte seinerzeit Wirtschaftsminister Günter Rexroth. Westerwelle sah darin kein Verdikt. Die FDP war am Ende der Ära Kohl Produkt und zugleich Vorreiter einer neuen liberal-reformerischen Bewegung. Eben noch politisch ausgelaugt, dominierte sie nun die Debatte um die Erneuerung des Landes. Und dann, 1998, bevor es richtig anfing, verlor sie die Macht.

Nichts ist dem deutschen Neoliberalismus so schlecht bekommen wie sein oppositionelles Dasein seither. Mit der aggressiven Vermarktung war es Westerwelle gelungen, seine Partei als „neue“ FDP zu etablieren. Eine Weile schaute man hin. Die schnörkellose Analyse, die dezisionistische Radikalität, die Veränderungseuphorie – das alles hob sich spektakulär von der lähmenden Atmosphäre am Ende der Regierung Kohl ab. Doch wohin sollten Westerwelle und seine Partei mit ihrer Energie und Radikalität ohne Gestaltungsmacht? Ohne die Chance zur Umsetzung klang das Reformpathos schnell hohl. Die Zwänge des Regierens hätten vielleicht als Korrektiv wirken können. So aber entwickelte sich der machtlose Neoliberalismus von einer leidenschaftlichen Reformperspektive zu einem selbstzerstörerischen Impuls. Die Klarheit verwandelte sich in Hochmut, die Machtlosigkeit in Allmachtsfantasien. Je weniger praktische Politik die Liberalen mitgestalten konnten, desto lauter wurde ihr Anspruch, desto schärfer wurden die propagandistischen Töne. Die Hoffnung auf den baldigen Machtgewinn klang jetzt rabiat. Der Neoliberalismus wurde zynisch, maßlos und unseriös. Das „Projekt 18“ brachte 2002 den Absturz. Bis heute hat sich die Partei davon nicht erholt.

Dabei darf sich die FDP ohne weiteres als inspirierende Kraft der Reformpolitik betrachten, wie sie in Deutschland seit etwa Mitte der neunziger Jahre betrieben wird. Die Schäubleschen Sparpakete, die letzten Ansätze einer Steuerreform, die Einführung des demografischen Faktors bei der Rente zeigten in ihre Richtung. Es war ausgerechnet die rot-grüne Regierung, die bald der liberalen Melodie folgte: Einstieg in die Privatisierung der Altersversorgung, Eichels frühe Konsolidierungspolitik, später dann die unter dem Druck der Krise erzwungenen Hartz-Reformen. Nur eine an ihrem Oppositionsdasein langsam verzweifelnde FDP wollte nicht wahrhaben, dass Schröder Reform-Anstrengungen im liberalen Sinne unternahm – „neoliberal“, wie die Kritiker meinten.

Seit Westerwelles Aufbruch standen die liberalen Reformvorstellungen unter dem Verdacht, ihre Verfechter interessierten sich nicht für deren soziale Konsequenzen. Dass man statt einer „Staatswirtschaft der guten sozialen Absichten“ eine „Marktwirtschaft der guten sozialen und ökologischen Ergebnisse“ wolle, hörte sich gut an. Doch wer mit so viel beißendem Spott über die Ideologisierung der Begriffe „Gemeinwohl“ oder „Sozialstaat“ polemisierte wie Guido Westerwelle, weckte damit auch Zweifel, dass soziale Verantwortung für ihn überhaupt noch eine Rolle spielte. Worum ging es den Liberalen? Sollten die Reformen den robusteren, krisenfesten Sozialstaat hervorbringen? Oder waren sie Hebel für dessen Abschaffung?

Selbst Schröder konnte die soziale Absicht seiner Reformpolitik nicht glaubhaft machen. Er scheiterte daran, dass die Betroffenen zwischen Erneuerung und Abbau sozialer Sicherung nicht mehr unterscheiden konnten. Die radikale Reformpropaganda hatte das Publikum hellhörig gemacht. Inzwischen klebt längst nicht mehr nur auf den Vorschlägen der Liberalen ein „neoliberales“ Etikett. Angela Merkels Gesundheitsreform galt bis in die eigenen Reihen hinein als „neoliberal“. Und selbst Oskar Lafontaine wittert inzwischen „neoliberale Strömungen“ – in der Linkspartei! Neoliberalismusverdacht als Paranoia?

Einer Oppositionspartei mit Spaß an der Provokation, wie es die Liberalen nun seit Jahren sind, scheint das neoliberale Label dennoch nicht zu schaden. Stolz verweist die FDP auf ihr Wahlergebnis. Doch das ist nur die eine Seite. Erst am Ergebnis der Union zeigt sich, dass der Neoliberalismus in Deutschland nicht mehrheitsfähig ist. Dass ein strauchelnder Steuer-Professor zum Inbegriff sozialer Kälte werden konnte, ist ohne die Geschichte der „neuen“ FDP kaum zu erklären.

Gibt es eine Reformpolitik, die das Rubrum neoliberaler Kälte loswerden könnte und dennoch erfolgreich wäre? Das ist die Frage an die Große Koalition. Solange sie ernstlich nach Antworten sucht, bleibt der Neoliberalismus in der Opposition.

Quelle: Matthias Geis, „Liberale ohne Neo“, Die Zeit, 11. Mai 2006.