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Ende einer Romanze. Das Vertrauensverhältnis zwischen beiden Ländern ist zerrissen
Wird Angela Merkel als die Kanzlerin in die Geschichte eingehen, die mit Russland gebrochen und Europa wieder zweigeteilt hat? Diese ungeheuer kontrollierte, krisenfeste Politikerin ist in den Beziehungen zu Russland nie in Fettnäpfchen getreten. Sie hat nicht mit einem der Trunksucht zuneigenden Präsidenten in der Sauna gesessen. An ihr hängen keine peinlichen Sprüche wie der von Wladimir Putin als lupenreinem Demokraten. Bei Moskau-Visiten suchte sie, im Unterschied zu ihrem Vorgänger, der das abgelehnt hatte, bewusst auch den Kontakt zu Bürgerrechtlern. Und dann hat sie das unter mehreren Vorgängern seit Willy Brandts Ostpolitik aufgebaute Vertrauensverhältnis zwischen Deutschland und Russland zerrissen – weil der Kreml, nicht bereit, eine ihm nicht wohlgesonnene Führung der Ukraine hinzunehmen, die Krim völkerrechtswidrig annektierte und mit einem nicht erklärten Militäreinsatz in der Ostukraine Rebellen gegen die Kiewer Regierung unterstützt.
Infolge westlicher Sanktionen strauchelt Russlands Wirtschaft. Im Land wächst die Armut, aber auch die Zustimmung zu Präsident Putin, unter dessen sich weiter verhärtenden innenpolitischen Kurs Menschenrechtler und Wissenschaftler besonders leiden. Die Emigrationswelle rollt. Es leidet aber auch Deutschlands Export. 150.000 Arbeitsplätze seien in Deutschland schon vernichtet worden, die meisten bei mittelständischen Betrieben, meldet der Ostausschuss der deutschen Wirtschaft. Man will voneinander nichts mehr wissen. Auf einer Tagung der Konrad-Adenauer-Stiftung mit dem Titel „Literatur, Werte, europäische Identität“ in Litauen wird im Mai eine Russin, die meint, dass auch die Erinnerungskultur ihres Landes berücksichtigt werden könnte, schroff belehrt, das widerspräche den europäischen Werten. Westliche Künstler nehmen von geplanten Projekten mit Russen Abstand. In Russland selbst, wo die Deutschen noch vor einem Jahr die beliebtesten Ausländer und Angela Merkel die am meisten bewunderte ausländische Politikerin waren, stürzten die Sympathiewerte in den Keller. War das nötig?
Rote Linie überschritten: Eine Mehrheit hierzulande meint ja. Das System Putin mit seinen Menschenrechtsverletzungen, mit Korruption, gefälschten Wahlen und instrumentalisierten Gerichten strapazierte Europas Geduldsfäden lange genug. Spätestens als das loyal-liberale Experiment mit Tandemspräsident Dmitrij Medwedjew vom Kreml verworfen und Putin – zum Entsetzen der denkenden Öffentlichkeit – 2012 reinthronisiert wurde, war klar, dass für Europa gemeinsame Werte mit diesem immer autoritäreren System nicht in Sicht waren. Als nach der Kiewer Maidan-Revolution vom Februar 2014 Russland die Krim annektierte und Waffen und Soldaten nach Donezk und Lugansk schleuste, waren Europas rote Linien – das Verbot militärischer Gewalt und der Gebietsaneignung anderer Staaten – überschritten. Moskaus Position, wonach der Kiewer Machtwechsel illegitim, weil von der Straße diktiert war, überzeugt niemanden, da Parlament und Präsident durch Wahlen bestätigt wurden. Und dass CIA-Chef John Brennan im April 2014 unter anderem Namen Kiew besuchte, was Russlands Außenminister Sergej Lawrow auf die Palme brachten, deutet auf Aktivitäten, die ukrainische Militäreinrichtungen davor bewahrt haben dürften, von russischen Hackern lahmgelegt zu werden.
Im Unterschied zum Gros der Russen will eine Mehrheit der Ukrainer mit unseren Werten Demokratie, Freiheit, gleichen Rechten Ernst machen. Das Land strebt nach Westen, will sich modernisieren, dem Sumpf russischer Willkür und imperialer Unterdrückung entkommen. Man kennt Russlands Klagen über die Nato-Osterweiterung bis vor seine Haustür. Doch die Nato konnte die legitime Bitte leidgeprüfter ehemaliger Satelliten Moskaus um Schutz kaum abschlagen. Merkel erkennt Putins territoriale rote Linien explizit nicht an. Damit seine Sicherheitsinteressen berücksichtigt werden, müsste Russland seine Droh-Rhetorik etwa gegen die baltischen Staaten abstellen. Für seine europäischen Nachbarn ist es das Hauptsicherheitsrisiko.
In dieser Rolle, als Hauptsicherheitsrisiko, empfindet Russland sich als potentielles Angriffsziel und die Nato nicht so defensiv und vertrauenswürdig, wie diese selbst sich sieht. Die Bombenangriffe auf Belgrad ohne UN-Mandat 1999, die Sezession des Kosovo aus Serbien – ohne Referendum – neun Jahre später hält man nicht nur in Moskau für rechtswidrig. Umso mehr den Tyrannenbeseitigungskrieg im Irak 2003 mit seinen apokalyptischen Folgen, den Deutschland nur logistisch unterstützte, wo aber viele alte und neue Nato-Länder, insbesondere Polen, aber auch anderthalbtausend Ukrainer unsere Werte verteidigten. Die Nato-Luftangriffe auf den Despoten Libyens 2011, unmittelbar nachdem der damalige Präsident Medwedew – gegen den Willen seines Premiers Putin – einem UN-Flugverbot zugestimmt hatte, wirkte wie eine Ohrfeige. Auch deswegen ist Putin, der 2001 vor dem Bundestag in fließendem Deutsch um gemeinsame Sicherheitsstrukturen warb, die Russland an der Beschlussfassung beteiligen sollten, heute ein anderer. Und obwohl mit Iran nun endlich ein Atomabkommen erzielt wurde, nicht zuletzt dank Russlands Mitwirken, wollen die Nato und US-Präsident Barack Obama, die vor fünf Jahren versprachen, im Fall eines solchen Abkommens auf den osteuropäischen Raketenschild zu verzichten, diesen dennoch bauen. Womöglich weil Moskau neuerdings die nukleare Karte spielt. Vor allem steht es auf der falschen Seite, jenseits des Nato-Zauns. Und mit seinen Übergriffen auf die eigene Zivilgesellschaft und der antiwestlichen, militaristischen Propaganda wird es für Europa zusehends zum Reich des Bösen.
Russland und Europa spielen unterschiedliche politische Spiele. Europa hat sich der Emanzipation der Individuen verschrieben, die Modernisierung und Wohlstand gewährleistet. Russland will vor allem globaler Akteur sein, jeden Zentimeter seiner Einflusssphäre verteidigt es mit Zähnen und Klauen. Freiheitsrechte der Einzelnen sind dem nachgeordnet. Wenn die Staatsmaschine sich unter Druck wähnt, stutzt sie sie grob und großräumig zurück.
Dass die Europäer sich im großen Spiel vom transatlantischen Partner lenken lassen, empfindet man in Moskau als Selbstentmündigung und Verrat. Die Priorität der Westbindung, die den Kontinent eint, heißt für Russland, dass es dort keine vollwertigen Ansprechpartner mehr findet. Was sich etwa 2009 zeigte, als die Bundesregierung den Kauf eines Mehrheitspakets von Opel Deutschland durch die russische Sberbank schon abgesegnet hatte und dieser dann der US-Mutterfirma General Motors verboten wurde. Aber auch bei Merkels Nicht-Reaktion auf das Abhören ihres Handys durch die NSA. Wenn Europäer Russen ihre Werte aufdrängen, sagt der Schriftsteller Viktor Jerofejew, hätten diese oft den Eindruck, sie wollten ihnen den Haustürschlüssel aus der Hand nehmen.
Das Verhältnis zwischen Deutschland und Russland ähnelt dem eines Paares am Ende einer langen, heftigen und fruchtbaren Romanze. Beide Seiten fühlen sich betrogen, sind traumatisiert. Der Osteuropahistoriker Karl Schlögel, der sein Forscherleben russischen Geschichts- und Kulturräumen widmete, hat seine Russland-Fixierung bitter bereut und die Ukraine als bessere Alternative entdeckt. Sein Kollege Gerd Koenen, Experte für die wechselseitigen Projektionen Deutscher und Russen während der kommunistischen Epoche, ist bestürzt, weil Russland sich durch seine Ukrainepolitik selbst schachmatt gesetzt habe. Einige Väter und Großväter wollen es noch nicht wahrhaben. Vor allem ehemalige Politiker und Diplomaten, vor allem die Ex-Kanzler Gerhard Schröder, Helmut Kohl und Helmut Schmidt, möchten die Beziehung, die sie selbst mit aufgebaut haben, retten und appellieren an die jetzige Berliner Führung, den Freundschaftsfaden nicht zu kappen.
Tod der Germanophilie: Auch Russen mit Deutschlandbindung sind verzweifelt. Der Journalist Viktor Loschak ist nur einer von vielen, die der plötzliche Tod der russischen Germanophilie erschüttert. Den Historiker Alexej Miller bekümmert, dass in Europa die Ethik der Verantwortung vor der Geschichte, wie sie sich im deutschen Verbot der Holocaustleugnung niederschlägt, auf Betreiben einiger osteuropäischer Länder ersetzt wurde durch die Kultivierung der eigenen Nation als kollektives Opfer. Das diene weniger dem Aufbau gedeihlicher Beziehungen als dem Ziel, sich selbst – besonders gegenüber Russland – prinzipiell ins Recht zu setzen, klagt Miller. Im außer Rand und Band geratenen russischen Patriotismus sieht der Gelehrte nicht zuletzt eine Retourkutsche dazu. Tatsächlich hat man in der Vergangenheit, bei freundlicherer Gesamtwetterlage, von Putin und seinen Getreuen durchaus kritische Kommentare zur russischen Geschichte gehört.
Der Komponist Wladimir Tarnopolski, der sich als Zögling der deutschen Kultur versteht und am Putinismus kein gutes Haar lässt, findet gleichwohl, die Deutschen hätten für die russische Einverleibung der Krim, deren Bewohner diese mehrheitlich wünschten, Verständnis aufbringen müssen – zumal mit Blick auf die Wiedervereinigung Deutschlands, die seinerzeit viele Europäer nicht wollten. Tarnopolski ist im ukrainischen Dnepropetrowsk aufgewachsen und verbringt seit Jahrzehnten den Sommer auf der Krim. Er verabscheut hurrapatriotische Parolen wie „Krymnasch“ („Die Krim ist unser“). Dennoch ist er überzeugt, dass die Annexion der einst der Ukraine „geschenkten“ Halbinsel, wo zwei Flotten und ukrainische wie russische Truppenkontingente stationiert waren, nach der Maidan-Revolution einen Krieg verhinderte, da fast alle Krimbewohner nicht mehr Ukrainer sein wollten.
Russische Reparaturvorschläge wirken ähnlich utopisch wie die Sehnsucht deutscher Russlandversteher nach dem Status quo ante. Der Oppositionspolitiker Leonid Gozman hofft, dass Putin und seine Umgebung erkennen, dass Russland eine neue Führung braucht und er freiwillig zurücktritt. Der Moskauer Wirtschaftssoziologe Wladislaw Inosemzew hofft sogar, dass die westlichen Sanktionen das System Putin zur Implosion bringen. Doch dann müsse die EU Russland in ihre Strukturen aufnehmen und ihre Rechtsordnung dort installieren, mahnt Inosemzew. Dann wäre der Kontinent geeint, der Frieden gesichert. Aus solchen Illusionen, die Mütterchen Europa, das um eine marktkonforme Demokratie kämpft und unter Flüchtlingsströmen ächzt, noch die Kraft zum großen Spiel zutrauen, spricht vor allem der Wunsch, die Scheidung des atlantischen Europa von Eurasien möge nicht irreversibel sein.
Quelle: Kerstin Holm, „Ende einer Romanze“, Das Parlament, Nr. 33–34, 10. August 2015, S. 15.