Quelle
Auszug aus den Bemerkungen im NATO-Hauptquartier in Brüssel (4. Dezember 1989)
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Vor uns liegt die Aufgabe, die Früchte dieser friedlichen Revolution zu konsolidieren und das Gerüst für einen fortwährenden friedlichen Wandel zu schaffen. Große Entscheidungen werden getroffen, noch größere Chancen locken.
Der erste Grundsatz für Europas Zukunft: Die Teilung Europas durch Freiheit zu überwinden
In Zeiten großer Veränderungen ist es gut, feste Grundsätze zu haben, die als Leitfaden dienen. Unsere Regierungen hatten sich im Mai erneut das Ziel gesetzt, der schmerzhaften Teilung Europas ein Ende zu setzen. Wir haben diese Teilung nie akzeptiert. Die Menschen eines jeden Volkes haben das Recht, ihr Leben in Freiheit zu bestimmen.
Natürlich haben wir alle seit vier Jahrzehnten die deutsche Wiedervereinigung unterstützt. Unserer Meinung nach sollte sich das Ziel der deutschen Wiedervereinigung auf die folgenden Grundsätze stützen.
Erstens muss das Ziel der Selbstbestimmung vorurteilslos verfolgt werden, unabhängig davon wie das Endergebnis aussehen wird. Zu diesem Zeitpunkt sollte kein bestimmtes Modell der Einheit befürwortet oder ausgeschlossen werden. Zweitens sollte die Wiedervereinigung im Rahmen einer fortdauernden Einbettung Deutschlands in die NATO und der zunehmend integrierten Europäischen Gemeinschaft geschehen, wobei die Rechte und Pflichten der alliierten Mächte berücksichtigt werden müssen. Drittens müssen im Interesse der europäischen Stabilität alle Wiedervereinigungsbestrebungen friedlich, graduell und als Teil eines Stufenplans vor sich gehen. Und schließlich sollten wir uns hinsichtlich der Grenzfragen erneut zu den Beschlüssen der Schlussakte von Helsinki bekennen.
Ein Ende der unnatürlichen Teilung Europas und Deutschlands muss im Einklang mit und auf der Basis derjenigen Werte erfolgen, die inzwischen als allgemein gültige Ideale gelten, wenn alle Länder Europas der Gemeinschaft freier Völker angehören werden. Ich weiß, dass mein guter Freund Helmut Kohl diese Überzeugung vollends teilt.
Die Rolle der NATO
Die politische Strategie der NATO, auf die wir uns im letzten Mai geeinigt haben, macht die Unterstützung größerer Freiheit im Osten zum Grundsatz der Bündnispolitik. Dementsprechend sollte die NATO Menschenrechte, Demokratie und Reformen in den osteuropäischen Staaten vorantreiben. Sie sind das beste Mittel, um eine Versöhnung zwischen Ost- und Westeuropa zu bewirken.
Diese Bemühungen erinnern an die Entstehungsgeschichte der NATO, als sie als ein politisches Bündnis von Ländern mit gleichen Grundwerten gegründet wurde. Ich gehe davon aus, dass die NATO dieses Fundament in diesem neuen europäischen Zeitalter immer weiter ausbauen wird.
Die Unterstützung des Bündnisses für Reformen und positiven Wandel im Osten muss umfassend, vielfältig und flexibel sein. Es sollte nicht nur eine Frage der wirtschaftlichen Unterstützung sein – so wichtig diese auch sein mag – sondern auch Schritte umfassen, die mehr politischen Pluralismus fördern, neue Kommunikationswege öffnen und dringend benötigtes technisches Fachwissen entwickeln. Durch unsere Anstrengungen im Verteidigungsbereich und der Waffenkontrolle sollten wir ein stabiles Sicherheitsumfeld für europäische Staaten in Ost und West bereitstellen. Das passt gut in das Konzept der „Neuen Aufgaben für die NATO“, welches ich im letzten Mai auf dem Gipfeltreffen vorschlug.
Jedoch müssen wir auch dem traditionellen Sicherheitsauftrag der NATO treu bleiben. Zeiten fundamentaler politischer Übergänge bergen immer die Gefahr des Konflikts. Während das Bündnis also den friedlichen Wandel sucht und vorbereitet, muss es auch – wie schon seit vierzig Jahren – ein verlässlicher Garant für den Frieden in Europa bleiben. Das Bündnis vereint die freien Länder der atlantischen Gemeinschaft und teilt Risiken und Verantwortung; durch unsere Zusammenarbeit beförden und lenken wir den Bau eines neuen Europas.
Als Verteidigungsgemeinschaft und Partnerschaft demokratischer Staaten sollte die NATO vom Osten nicht als Bedrohung empfunden werden. Vielmehr kann sie zum friedlichen Wandel in Europa beitragen, so dass für alle Staaten Sicherheit und Stabilität gewährleistet sind. Eine starke NATO wird sowohl Einheitsbestrebungen innerhalb Westeuropas als auch den Abbau von Hindernissen im Osten unterstützen.
Obwohl wir uns in einer Zeit großer Hoffnungen befinden, dürfen wir nicht den Unterschied zwischen vielversprechenden Erwartungen und gegenwärtigen Realitäten verwischen. Meine Regierung bleibt also weiterhin der Bündnisstrategie verpflichtet, mit der sie durch eine Reihe von nuklearen und konventionellen Mitteln einen Krieg zu verhindern sucht. Ich versichere heute, dass die USA so lange eine signifikante Militärpräsenz in Europa behalten werden, wie die Verbündeten uns als Teil eines gemeinsamen Sicherheitsaufgebots dort haben wollen. Wie ich im NATO-Hauptquartier früher in diesem Jahr bemerkte, werden die USA eine europäische Macht bleiben. Das bedeutet, dass die Vereinigten Staaten auch weiterhin in der Zukunft Europas und in unserer gemeinsamen Verteidigung involviert bleiben.
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Ebenso müssen wir überlegen, wie das Bündnis in diesen Zeiten des Wandels weiterhin, jedoch mit der geringstmöglichen Zahl an Streitkräften, am besten eine Politik der Abschreckung aufrecht erhalten kann. Deshalb bin ich bereit, offen Möglichkeiten zu diskutieren, mit denen wir gemeinsam und als Teil eines Abkommens die weitere Reduktion von konventionellen und nuklearen Kräften in Europa erreichen können.
Die Rolle der Konferenz für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (KSZE)[1]
Viele der Werte, die die Zukunft Europas lenken sollten, sind in der Schlussakte der Konferenz für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa beschrieben. Sie umfassen das Recht der Menschen, ihr Schicksal in einem Rechtsstaat mit demokratisch rechenschaftspflichtigen Vertretern selbst zu bestimmen. Ich glaube, wir können auf die KSZE bauen, eine noch größere Rolle in Europa zu spielen.
Früher in diesem Jahr habe ich vorgeschlagen, den Korb[2] der KSZE, der sich mit Menschenrechtsbestimmungen befasst, um freie Wahlen zu erweitern. In Anbetracht der Aufrufe und Bekenntnisse vieler Oststaaten zu Wahlen könnte es jetzt für die KSZE ein guter Zeitpunkt sein, dieses zusätzliche Mandat anzunehmen.
Außerdem sind die Wirtschaftsmaßnahmen der KSZE unterentwickelt. Ich habe dem Vorsitzenden Gorbatschow am Wochenende vorgeschlagen, dass wir diesen Aspekt der KSZE neubeleben könnten. Dabei sollten wir uns auf praktische Fragen konzentrieren, die der Übergang von stagnierenden Planwirtschaften zu freien Wettbewerbsmärkten mit sich bringt.
Um zusammenzufassen: Die fünfunddreißig Staaten der KSZE agieren als eine Brücke sowohl zur Überwindung der Teilung Europas als auch als Brücke über den Atlantik. Sie bilden eine Struktur, die entscheidend zur zukünftigen Architektur Europas beitragen kann.
Die Rolle der Europäischen Gemeinschaft (EG)
Ich bin mir der entscheidenden Rolle, die die EG im neuen Europa spielen muss bewusst. Vor meiner Maltareise hat mich Präsident Mitterrand angerufen, um mir die Meinungen, die bei dem von ihm einberufenen EG-Treffen über die jüngsten Ereignisse geäußert worden waren, mitzuteilen. Und ich weiß, dass sich die Gemeinschaft später diese Woche in Straßburg weiterhin mit diesen Themen befassen wird.
Meiner Ansicht nach verlangen die Ereignisse der jüngsten Vergangenheit nach fortwährenden, vielleicht sogar verstärkten Integrationsbestrebungen der zwölf [Mitgliedsstaaten]. Sie fordern außerdem, dass die Europäischen Gemeinschaft die Rolle eines Magneten ausübt, der die Reformen in Osteuropa vorantreibt. Deswegen hat es mich außerordentlich gefreut, dass wir uns, was die Unterstützung Polens und Ungarns betrifft, beim Pariser Wirtschaftsgipfel auf eine spezifische Rolle der EG in den Bemühungen der G-24 einigen konnten. Durch EG-Anstrengungen angespornt, muss die G-24 nun die Erwartungen erfüllen. Ein wichtiger Schritt wird sein, Polen beim Schnüren des angeforderten $1 Mrd Stabilisierungspakets zu helfen, damit sein großer makroökonomischer Reformplan wie geplant in wenigen Wochen umgesetzt werden kann.
Natürlich weiß ich, dass die EG nicht in der Lage ist, diese Last allein zu tragen. Bei diesem ehrenwerten Unterfangen werden die Vereinigten Staaten der Gemeinschaft zur Seite stehen. Ich unterstütze eine enge Partnerschaft der USA mit der EG. Gemeinsame Werte, demokratische Institutionen als auch gemeinsame Interessen verbinden uns. Deswegen sollten wir nach Wegen suchen, unsere Beziehungen zu verbessern, damit ein neuer Atlantizismus mit dem neuen Europa am gleichen Strang zieht.
Zusammenfassung
Die Menschen Europas, insbesondere die mutigen Bürger des Ostens, geben uns Hoffnung für die Zukunft. Trotzdem lässt sich das Endergebnis nicht vorherbestimmen. Es hängt von unserer dauerhaften Stärke und Solidarität im Bündnis ab. Es hängt maßgeblich von unseren Handlungen ab, die wir als Regierungen und Individuen ausüben, um diesem friedlichen Transformationsprozess Führung, Schutz und Unterstützung zu bieten.
Europa verändert sich und wir werden diesem Wechsel gewachsen sein. Unsere transatlantische Partnerschaft kann das Gerüst eines neuen Europas und eines neuen Atlantizismus schaffen, wo Zwang und Tyrannei überall durch Selbstbestimmung und individuelle Freiheit ersetzt werden, wo an die Stelle von Wirtschaftskontrollen und -stagnation überall die wirtschaftliche Freiheit tritt, und wo der andauernde Friede durch die allgemeine Anerkennung von Menschenrechten überall verstärkt wird
Anmerkungen
Quelle: John Woolley und Gerhard Peters, The American Presidency Project (online). Santa Barbara, CA: University of California (hosted), Gerhard Peters (database). World Wide Web: https://www.presidency.ucsb.edu/documents/outline-remarks-the-north-atlantic-treaty-organization-headquarters-brussels.