Kurzbeschreibung

Nicht die Teilung zwischen Ost und West, sondern die Unterschiede zwischen den Regionen in den neuen Bundesländern seien das Hauptproblem der neuen deutschen Teilung. Westdeutschland, so der Münchener Journalist Heribert Prantl, habe Glück gehabt, dass Demokratie und Wirtschaftswunder parallel verliefen. In Teilen der ehemaligen DDR sei das Gegenteil der Fall gewesen; eine Unterschicht habe sich herausgebildet, die für rechtsradikales Gedankengut offene Ohren habe.

Politikverdrossenheit (2. Oktober 2006)

  • Herbert Prantl

Quelle

Die neue deutsche Teilung

Als die deutsche Teilung vor 16 Jahren zu Ende war, begann sie von neuem. Die neue Teilung verläuft nicht zwischen Ost und West, sondern zwischen Ost und Ost.

Aus dem Beitrittsgebiet wurde ein gespaltenes Land. Heute gibt es zwei Osten in Deutschland: den Aufschwung Ost und den Niedergang Ost. Die Asymmetrie im Osten übersteigt alles, was man an Asymmetrien in der alten Bundesrepublik gekannt hat.

Der Osten blüht und der Osten verödet. Er blüht punktuell, und er verödet großflächig. Er blüht in Silicon Saxony, in Jena und Leipzig; er verödet in Anklam und in der Uckermark.

Traurige Realität

Die staatliche Förderpolitik hat die schwachen Regionen abgeschrieben; der Grundsatz, dass die Schwächsten am stärksten gefördert werden müssen, gilt nicht mehr.

Der zuständige Bundesminister spricht von den „Leuchttürmen“, die gefördert werden sollen, auf dass sie noch stärker strahlen. Sie beleuchten eine traurige Realität, die deutsche Irredenta.

Der Westen hat Billionen Euro in den Osten geschaufelt. Der Osten liefert dafür dem Westen das Beste, was er hat: seine jungen Leute. Mit dem Geld, das jährlich in den Osten fließt, könnte man jedem Ostdeutschen monatlich 550 Euro anweisen. Aber das Geld kommt nicht so an, als dass es die Jugend halten könnte.

Rückbau Ost

Die gut ausgebildeten und motivierten jungen Leute gehen in den Westen, junge Frauen noch mehr als junge Männer; zurück bleiben die Alten und die Arbeitslosen. Das hat gewaltig negative Auswirkungen auf die soziale Struktur; das Leben der Zivilgesellschaft verdörrt.

Wenn die Hoffnung weg ist, bleibt die Hoffnungslosigkeit. Aus dem Aufbau Ost ist in weiten Teilen ein Rückbau Ost geworden: Wohnblöcke werden abgerissen, Schulen geschlossen. Sicher, das gibt es im Westen auch, aber nicht so flächendeckend.

Es gehört schon sehr viel Optimismus dazu, den Rückbau als Chance zu begreifen und die Konzepte dafür als Ausdruck ostdeutscher Avantgarde zu betrachten, wie es ostdeutsche Politiker bisweilen tun. Die Uckermark ist so groß wie das Saarland, aber dünner besiedelt als Burkina Faso.

Wenn der Weg zum Arzt sechzig Kilometer weit ist und die reale Arbeitslosigkeit bei fünfzig Prozent liegt, möchte man doch lieber nicht zu dieser Avantgarde gehören. In weiten Landstrichen des Ostens fehlt die intelligente junge Generation; die Jungen, die dageblieben sind, bilden vielerorts die Basis der NPD.

Auch damals, 1989, als alles begann, machten sich die Jungen auf den Weg in den Westen, sie verließen die DDR, via Ungarn, in Scharen. Den Eltern war da auf einmal alles egal, sie gingen aufs Ganze und auf die Straße.

So entstand die deutsche Revolution. Dieses revolutionäre Potenzial ist in den vergangenen 16 Jahren von der Maschinerie der Marktwirtschaft zerrieben worden.

Man resigniert vor sich hin (nur auf den Leuchttürmen ist das ganz anders) – und es wachsen Demokratiedefätismus und Demokratieverachtung. So gedeiht das Misstrauen gegen „die“ Politik.

Das ist nicht Folge eines politisch-genetischen Defekts, sondern der echten und vermeintlichen Erfahrungen vieler Menschen im Osten. Die Westdeutschen hatten in den fünfziger und sechziger Jahren das Glück, Demokratie parallel zum Wirtschaftswunder lernen zu dürfen; sie erlebten die Demokratie als eine Staatsform, in der sich ihre Lebenssituation verbesserte.

Schwärmen von der DDR

Viele Ostdeutsche erlebten dreißig Jahre später das Gegenteil; für sie war der Einzug der Demokratie begleitet von wachsender Arbeitslosigkeit und sozialer Degradierung. Heute glauben nicht wenige Ostdeutsche, dass ihnen einst die DDR-Machthaber über das Wesen des Kapitalismus gar nicht so viel Falsches erzählt haben. Sie fliegen nach Mallorca, schwärmen von der Gemütlichkeit der alten DDR und werden ziemlich ungemütlich, wenn es um Ausländer geht.

Generation Hartz IV: Es gibt eine neue Unterschicht, und das ist im Osten noch viel deutlicher als im Westen. Diese Unterschicht sieht keine Aufstiegschancen mehr, hat ihre Beziehung zur Zukunft verloren und ist nicht mehr erreichbar von dem, was man politischen Diskurs nennt.

Es handelt sich um „sozial Behinderte“, wie Reinhard Höppner, der frühere Ministerpräsident von Sachsen-Anhalt und jetzige Präsident des Evangelischen Kirchentages, das formuliert. Diese neue Unterschicht bildet die Sympathisantenszene für den Rechtsextremismus, weil sie sich mit ihm in der Ablehnung des demokratischen Systems einig ist.

Die Menschen dieser neuen Unterschicht brauchen Lebenshilfe; sie brauchen eine Arbeit, die sie aus dem Fernsehsessel herausreißt und aus dem dumpfen Rhythmus der Resignation befreit.

Unkultur des Zurückweichens

Demokratie braucht Selbstbewusstsein. Neuerdings etabliert sich aber eine Unkultur des Zurückweichens: Kommunale Verwaltungen im Osten arrangieren sich mit den Rechtsextremisten, Bürgermeister faseln von einer „Demokratur“, die notwendig sei.

Zur Unkultur des Zurückweichens gehört auch die Zerschlagung der kulturellen Infrastruktur, die derzeit vor allem in Thüringen in Gang ist: Die Kulturetats werden halbiert, Theater geschlossen. Einen solchen Rückbau, den Rückbau von Kultur und Demokratie, kann aber kein Land vertragen – auch dann nicht, wenn daneben ein paar Leuchttürme stehen.

Quelle: Heribert Prantl, „Die neue deutsche Teilung“, Süddeutsche Zeitung, 2. Oktober 2006.