Quelle
Perfekte Organisatorinnen
„Wir sind die Verlierer der Einheit“, sagt Ursula H., 56, und niemand widerspricht ihr. Im nordsächsischen Lauta treffen sich alle vier Wochen 20 Frauen in einer Arbeitslosen-Selbsthilfegruppe. Früher waren sie Kolleginnen, arbeiteten in dem Kabelwerk, das 1991 dichtmachte. Die Aussichten sind düster. Die wenigen anderen Großbetriebe, die es zu DDR-Zeiten hier gab, wurden ebenfalls geschlossen. Von den ehemaligen Kabelwerkerinnen hat kaum jede zehnte wieder einen festen Job gefunden. Die übrigen versuchen, die Zeit bis zur Rente – bei manchen noch mehr als zehn Jahre – möglichst mit ABM-Stellen zu überbrücken. Laufen diese aus, besteht erst einmal wieder Anspruch auf Arbeitslosengeld, und das Abrutschen in die bedeutend niedrigere Arbeitslosenhilfe ist zumindest aufgeschoben.
Die Arbeitslosenquote liegt bei den Frauen in den ostdeutschen Bundesländern seit Jahren doppelt so hoch wie bei Männern. Knapp drei Viertel der Langzeitarbeitslosen sind weiblich. Das hat einmal damit zu tun, daß im Zuge des wirtschaftlichen Transformationsprozesses viele Unternehmen auf der Strecke blieben, die überwiegend Frauen beschäftigten. Darüber hinaus gibt es aber auch einen krassen Verdrängungswettbewerb. Nach Angaben des Nürnberger Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung haben Männer zwischen 1991 und 1995 im Dienstleistungssektor insgesamt 114 000 Arbeitsplätze hinzugewonnen, während Frauen
50 000 verloren. Die ostdeutsche Soziologin Sabine Schenk konstatiert dementsprechend folgende „Entwicklungsverläufe“: „Vormals frauentypische Branchen werden zu Mischbranchen (Handel, Banken/Versicherungen, andere Dienstleistungen). – Mischbranchen werden zu tendenziell männerdominierten Branchen (übriges verarbeitendes Gewerbe, Landwirtschaft). – Traditionell männertypische Branchen schließen sich weiter gegen Frauenerwerbstätigkeit ab.“
Männer bevorzugt
Für diese Einschätzung spricht auch die Tatsache, daß weibliche Jugendliche auf dem ostdeutschen Ausbildungsmarkt extrem benachteiligt werden. Dementsprechend ist bei vielen Betriebsleitern eine deutliche Minderbewertung weiblicher Beschäftigter zu beobachten. Männer werden bei Einstellungen generell bevorzugt. Zu fragen ist, inwieweit hier Erfahrungen und Vorurteile aus früheren Zeiten nachwirken. Unter dem SED-Regime hatten Unternehmen nicht nur Planauflagen und sonstige Reglementierungen widerspruchslos hinzunehmen, sondern auch die vielfältigen Sonderregelungen für Mütter – Arbeitszeitverkürzungen, bezahltes Babyjahr, großzügige Freistellung zur Pflege erkrankter Kinder, Haushaltstag usw. Wegen des systembedingten Mangels an Arbeitskräften führte das zwar nicht zu einer Verdrängung aus den Betrieben, wohl aber zu der Neigung, Frauen prinzipiell als weniger zuverlässig und disponibel einzuschätzen. Ihre Arbeitskraft wurde zwar gebraucht, hatte aber wegen der Doppelrolle im Beruf und Familie einen geringeren Stellenwert. Zudem wurden Schulabgängerinnen seit Mitte der siebziger Jahre zunehmend auf Ausbildungsplätze mit minderem Ansehen und schlechterer Entlohnung verwiesen. Nun haben Firmenleiter die freie Wahl, und es gilt – wie im Westen – nun auch im Osten: In Krisenzeiten sitzen Frauen meistens am kürzeren Hebel.
Doch ungeachtet aller Schwierigkeiten sehen sie auch weiterhin Berufstätigkeit als wesentlichen Bestandteil ihrer Lebensplanung an. Verklausulierte Versuche, ihnen diese Haltung als eine Art Verstoß gegen gesamtgesellschaftliche Interessen anzukreiden, stoßen auf Empörung. So etwa, als die Kommission für Zukunftsfragen der Freistaaten Bayern und Sachsen feststellte: „Die hohe Erwerbsbeteiligung von Frauen ist auch ein Grund für die höhere Arbeitslosigkeit in Ostdeutschland. Wäre in West- und Ostdeutschland die Erwerbsbeteiligung von Frauen gleich, gäbe es bei den Arbeitslosenanteilen keine Unterschiede mehr.“ In Kurzform: Mütter bleibt zu Hause bei euren Kindern.
Gegen einen solchen Trend spricht allerdings auch die Entwicklung im Westen, wo der Anteil von Arbeitnehmerinnen in den letzten Jahrzehnten deutlich zunahm. Die Zahl der Rückkehrerinnen nach einer „Babypause“ stieg zwischen 1984 und 1992 um das Vierfache. Im Osten vertreten 68 Prozent, im Westen 53 Prozent der 16-bis 24jährigen die Ansicht, eine Frau sollte ihre Berufstätigkeit nur für die Dauer des Erziehungsurlaubs unterbrechen. Je höher die Qualifikation, desto größer sind die beruflichen Ambitionen. In dieser Beziehung halten ostdeutsche Frauen einen deutlichen Vorsprung: 1989 hatten nur 12,3 Prozent aller weiblichen Erwerbstätigen in der DDR keine abgeschlossene Berufsausbildung, im Westen lag der Anteil mehr als doppelt so hoch.
Neue Machos
Es kann kaum verwundern, daß im Osten insbesondere viele Frauen über 50 der Marktwirtschaft wenig Sympathie entgegenbringen. Ihre Kenntnisse und Erfahrungen sind nicht mehr gefragt, und sie fühlen sich zu Recht als Verliererinnen. Fast 80 Prozent der Arbeitslosen vertreten die Ansicht, daß sich seit der „Wende“ vor allem ihre soziale Sicherheit verschlechtert habe. Auch unter Erwerbstätigen ist diese Meinung weit verbreitet.
Die ostdeutsche Journalistin Dorotea Lieber, heute im Journalistinnenbund und im Deutschen Frauenrat aktiv, dürfte vielen aus dem Herzen sprechen, wenn sie konstatiert, das gesellschaftliche Umfeld in der DDR habe die Männer daran gehindert, „den Macho raushängen zu lassen“. Heute könnten sie das „unbekümmert tun, weil sie meinen, sich jetzt einem neuen Rollenbild anpassen zu müssen“. Frau Lieber glaubt zwar nicht, daß die Frauen im Osten „gleichberechtigter“ seien als im Westen – „aber die Einstellung zum Beruf und zur wirtschaftlichen Unabhängigkeit vom Mann war selbstverständlicher und selbstbewußter.“
Diese Erfahrung wirkt ebenso fort wie die unterschiedliche Frauen- und Familienpolitik. In der DDR wurde die außerhäusliche Tätigkeit forciert und begünstigt, während in der Bundesrepublik die formale Entscheidungsfreiheit durch unzulängliche Rahmenbedingungen eingeschränkt war und ist. Dementsprechend halten es im Osten immer noch 70 Prozent der Frauen für ideal, Mutterschaft und Vollbeschäftigung miteinander zu verbinden. Dafür votieren im Westen nur 16 Prozent, während sich 51 Prozent auf Familienpflichten und Teilzeitjobs orientieren. Tendenzen zu mehr partnerschaftlichem Verhalten sind in der jüngeren Generation durchaus vorhanden. Die weitere Entwicklung wird auch davon abhängen, inwieweit die Gleichstellungspolitik, die schon zu einigen Fortschritten geführt hat, neue Maßstäbe setzt.
„Wir Frauen aus dem Osten“, sagt Kerstin Riehle, seit 1990 Gleichstellungsbeauftrage in Görlitz, „haben den Vorteil, Vergangenheit und Gegenwart in zwei unterschiedlichen Systemen vergleichen zu können. Und manche Dinge, die hier . . . als Visionen gelten, die haben wir real erlebt.“ Doch der Preis sei hoch gewesen. Rund um die Uhr beschäftigt, sei man gar nicht dazu gekommen, über die eigene Situation und das weibliche Rollenspiel nachzudenken. Heute gelte es, sich „besser zu verkaufen“. „Wir haben doch etwas anzubieten.
Viele Frauen aus den neuen Bundesländern sind gut ausgebildet und haben sich durch ständige Qualifizierung noch gesteigert. Diese Ressourcen an Wissen und Erfahrung sollen die Unternehmen nutzen und nicht verkommen lassen. Zumal wir Frauen dadurch, daß wir immer Beruf, Kinder und Haushalt unter einen Hut bringen mußten, perfekte Organisatorinnen sind.“
Quelle: Gisela Helwig, „Perfekte Organisatorinnen“, Das Parlament, Nr. 43–44, 22./29. Oktober 1999, S. 14.