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In der Präsentationsdemokratie
Schröders Regierungsstil prägt die Berliner Republik
Bundeskanzler Gerhard Schröder beschrieb in seiner ersten Regierungserklärung politische Führung als „modernes Chancenmanagement“. Der Verlauf der Legislaturperiode bestätigt die Ankündigung. Schröder regiert, als ob jeden Tag die Wahllokale geöffnet wären: tagessensibel, wechselwählerwirksam, ein Pragmatiker des Augenblicks.
Nach vier Jahren Rot-Grün erweist sich die sogenannte Berliner Republik nicht nur als eine Chimäre der Feuilletons. „Berliner Republik“ beschreibt strukturellen Neuanfang, der das politische System markant verändert. Bundeskanzler Schröder verwandelt die repräsentative Demokratie in eine Präsidentenrepublik. Der Umbau des politischen Systems kann als effiziente Strategie des Regierens in einer medialen Aufregungsdemokratie gedeutet werden. Und: Andauernde Verstöße gegen Regeln der parlamentarischen Demokratie unterhöhlen die Fundamente der Bonner Republik. Mal werden Regeln bewußt und offen gebrochen, mal subtil, etwa durch Neuinterpretation.
Gerhard Schröder stieg in der Rolle des Rebellen auf. Das frühe Rütteln am Zaun des Kanzleramtes war ein Vorgeschmack auf den Stil einer Führungsperson, die politische Grenzen und Regeln systematisch verletzt. In der SPD kritisierte Schröder das Establishment und die Vorsitzenden so lange, bis keiner mehr übrigblieb, der sich mit ihm messen wollte. Als er schließlich selbst Vorsitzender wurde, stand die Organisation der Partei zunächst einer weiteren Zentralisierung der Macht auf den Kanzler im Weg. Erst die Einführung eines Generalsekretärs – nach dem Muster der Unionsparteien – schuf die Voraussetzung für einen weiteren Machtgewinn Schröders. Der Enttraditionalisierung des Programms der Sozialdemokratie folgte die Enttraditionalisierung der Struktur der SPD – auch eine subtile Art von Regel- und Grenzverletzung.
Wichtiger noch ist der Umgang mit Bundestag und Bundesrat. Gewohnte Verfahren im Willensbildungs- und Entscheidungsprozeß dieser Verfassungsorgane sind in der laufenden Legislaturperiode durchbrochen oder neu interpretiert worden. Das berührt die Substanz unserer Verfassung. Eine ausgedehnte exekutive Steuerung parlamentarischer Prozesse verschiebt die Machtverhältnisse. Schröders Demokratie ist eine Verhandlungsdemokratie. Interessengruppen werden zusammengebracht und auf einen Konsens verpflichtet – außerhalb des Bundestages. Netzwerke sollen verhindern, daß Entscheidungen blockiert werden. Wer einen solchen Konsens zustande bringt, der übt seine Macht auf sanfte Weise aus. Der Kanzler befriedigt Sehnsüchte der Bevölkerung; mit runden Tischen, Bündnissen für Arbeit oder auf Zeit, Ethikräten und Kanzlerrunden pflegt und intensiviert er den korporatistischen Stil seines Vorgängers.
Verstöße werden zur Regel.
Denn der SPD-Kanzler hat eine Vielzahl von Sonderbeauftragten ernannt (von der Zuwanderungsfrage über Entschädigung der Zwangsarbeiter bis zum MKS-Krisenstab), die mit Bedacht nicht den Regierungsparteien entstammen. Immer neue Konsensrunden stellen die Abgeordneten des Deutschen Bundestages vor vollendete Tatsachen. Selbstverpflichtungen der Verbände wie im Gesundheitswesen tun ihr übriges. So verringern sich die Spielräume der Mehrheitsfraktionen im Parlament auf Nachbesserungen im Detail.
Am 16. November 2001 nutzte Schröder sein Initiativrecht, um die Abstimmung über den Anti-Terror-Einsatz der Bundeswehr mit der Vertrauensfrage zu verbinden. Das war ein Novum in der Geschichte des Bundestages. Der Kanzler überführte damit die in der Verfassung vorgesehene Disziplinierungsmaßnahme zum Erhalt der Kanzlermehrheit in ein Modell des imperativen Mandats: Die Weisung zum Machterhalt wurde mit einem bestimmten politischen Votum verknüpft.
Eine Akzentveränderung zwischen Amt und Mandat deutet sich auch beim Bundesrat an. Bisher funktionierte das Zusammenwirken zwischen dem Bundestag und der Länderkammer meist unter den Bedingungen des Parteienstaates. Dennoch war den Ministerpräsidenten häufig ihr Land wichtiger als die eigene Partei. Sonst wären viele Mehrheiten im Bundesrat gar nicht zustande gekommen. Die Kanzler schmiedeten über alle Parteigrenzen hinweg die unterschiedlichsten Koalitionen mit mehr oder weniger seriösen, regelmäßig finanziellen Versprechen.
Doch außerhalb des institutionellen Vermittlungsverfahrens agierte bislang nur Kanzler Schröder: Der 14. Juli 2000, an dem er das Steuerpaket durch den Bundesrat brachte, markiert da einen Einschnitt. Schröders Coup war möglich, weil ein wesentlicher Teil des Abstimmungspaketes regelwidrig nicht vor Beginn der Debatte veröffentlicht worden war, sondern telefonisch für ein erst noch zu entwerfendes Gesetz vereinbart wurde. Die Ad-hoc-Mehrheit für die Steuerreform im Bundesrat war erst in der Nacht vor der Sitzung zustande gekommen. Der Kanzler mißachtete die grundlegende Bedeutung der Publikationspflicht: die Herstellung von Öffentlichkeit. Auch bei der Abstimmung im Bundesrat über das Zuwanderungsgesetz im März 2002 zeigte sich ein neuer Stil. Deswegen sah sich, zum ersten Mal in der Geschichte der Republik, der Bundespräsident zu einer Rüge veranlaßt. Außerdem verstößt Schröder mit der zunehmenden Präsidentialisierung des Politikprozesses gegen die Regeln im Berliner Regierungsalltag. Das Kanzleramt beeinträchtigt als mächtige Regierungszentrale das Ressortprinzip der Bundesregierung. Was Kohl erst in den neunziger Jahren gelang, läßt Schröder schon nach drei Jahren geräuschlos organisieren: Keine noch so kleine Initiative eines Ressorts kann ohne den Segen des Kanzleramtes an die Öffentlichkeit gelangen.
Präsidialkabinette zeichnen sich nicht nur durch eine hohe Fluktuation der Minister aus. Hier hält Gerhard Schröder mit acht Ministern den Rekord. Daß sich der Regierungschef von Kabinettsmitgliedern bewußt absetzt und sich selber auf Kosten des Koalitionspartners staatsmännisch überhöht, sind weitere Zeichen eines präsidentiellen Regierungsstils im parlamentarisch-repräsentativen System. Schröders parlamentarische Stärke hängt mit seiner deutlichen Mehrheit im Bundestag zusammen. Anders als Kohl braucht er fast keine Rücksicht auf den Koalitionspartner zu nehmen. Schröder ist ein Spielertyp, der jeden Koalitionspartner – ob in Hannover oder in Berlin – nur als Beigabe kraftstrotzender Richtlinienpolitik akzeptiert. Seine Kanzlerschaft prägt spätestens seit dem Ausscheiden von Lafontaine – dem Baumeister der rot-grünen Koalition – ein rein instrumentelles Verhältnis zum grünen Partner. Das liegt an seinem Verständnis von Regierungshandeln. Der Kanzler ist zuallererst Regierungschef, erst in zweiter Linie Parteiführer. Kohls Macht fußte auf der Partei. Als Populist macht Schröder hingegen aus dem Defizit mangelnder Nähe zur Basis der Sozialdemokratie eine Tugend. Wenn nötig, treibt er mit telegenem Schwung von außen die Parteigremien an. Sein Generalsekretär übersetzt dann der übrigen Partei die Vorhaben des Kanzlerpräsidenten.
„Sofa-Government“, die informelle persönliche Beratung des Kanzlers durch handverlesene Netzwerker (Spin-doctors), gibt den Nichtgewählten in seinem Stab mehr Einfluß als den Mitgliedern der Fraktion, des Kabinetts, der Koalitionsrunde. Dramatisch zugespitzt hat sich diese tendenzielle Präsidentialisierung durch die Terrorakte des 11. September.
Die Präsidentialisierung und die Delegitimierung von Verfassungsorganen gehen einher mit einer plebiszitären Umwandlung der Berliner Republik. Schröder handelt als Multi-Options-Pragmatiker und Tageskanzler. Zunächst tastet er die inhaltlichen Spielräume ab. Stoßen die Regierungsvorschläge auf öffentlichen Widerstand, werden neue Optionen gesucht. Auch die Problemlösung, meist in temporären Allianzen, ist primär auf Publikumswirksamkeit ausgerichtet. Mal befriedigt Schröder mit dem neuen Betriebsverfassungsgesetz die SPD-Traditionsbataillone, mal hofiert der Kanzler mit der Green-Card-Initiative die Unternehmer. All das entspringt einer Pragmatik des Augenblicks, die machterhaltend und problemlösend, jedoch vollständig traditionslos im Sinne des sozialdemokratischen Milieus daherkommt.
Management von Öffentlichkeiten.
Aktiv bedient sich Schröder auch der Medien. Entscheidungen sollen über Stimmungen herbeigeführt werden. Going public: das gehörte bislang zu den wichtigsten Instrumenten der amerikanischen Präsidenten, die systembedingt immer neue parlamentarische Mehrheiten schmieden müssen. „Telepolitik“ umfaßt jedoch nicht nur die medienwirksame Darstellung der Politik, vor allem durch Personalisierung. Was sie zum Kennzeichen des Tageskanzlertums macht, ist das permanente Regieren im Wahlkampfstil. Tägliche Umfragen, extreme Demoskopiefixierung sichern die Rückbindung an fluide Wählerstimmungen. Regieren gleichsam im Minutentakt ist die Antwort auf den Rollenzuwachs der öffentlichen Arena und die Aushöhlung der Parteien und Koalitionsdemokratie, in der Schröder nur eine Quelle seiner Macht sieht – neben anderen.
Sein Handeln orientiert sich an den Erfolgsbedingungen der Medienöffentlichkeit. Aufmerksamkeit ist Zweck an sich, zugespitzte Personalisierung nützt, medienwirksames Auftreten ist wichtiger als verschwiegenes Verhandeln. Stimmungen gehen Mehrheiten voran. So erscheint die Kanzlermehrheit in der Berliner Republik nur noch als eine von vielen Machtressourcen.
Die Liste ist verlängerbar. Deutlich sichtbar wird, daß der politische Entscheidungsprozeß gewissermaßen in zwei Segmente zerfällt. Auf der einen Seite funktioniert die repräsentativ-parlamentarische Demokratie in ihren tradierten Bahnen. Daneben steht mittlerweile ein neues Regulierungsmodell, in dem alles Repräsentative zur Kulisse verdammt ist. Der neue Regierungsstil transformiert bewährte Spielregeln und Institutionen auf die Projektionsfläche des Präsentativ-Plebiszitären, indem Regeln offen gebrochen oder stillschweigend umgangen werden. Modernes Regieren bedient sich so spielerisch und situativ der Versatzstücke der parlamentarischen Demokratie. Regieren ist in diesem Politikmodell noch weniger als vorher Richtunggeben, eher eine führungsstarke Moderation, die auf frei floatende Stimmungen in der Aufregungsdemokratie reagiert. Marktgerechte Inszenierung und das Management von Öffentlichkeiten sind eine strategische Antwort der Politik auf wählerische Wähler, die immer kurzatmiger und kurzsichtiger entscheiden, nach Situation und vermeintlicher Eigennutzmaximierung.
Wo Mehrheiten tagespolitisch wechseln, antwortet die Politik geschmeidig. In so einer Demoskopiedemokratie kontrolliert nicht mehr die Opposition, sondern die Stimmung in der Bevölkerung, die wiederum die politische Elite mit immer feineren Sensoren mißt und bewertet. Das kann über lange Zeit ein probates Rezept sein. Doch zu den Erfolgsbedingungen der Präsidentenrepublik gehört ein wichtiger Baustein, der im Augenblick wegzubrechen droht: eine nicht geschlossen handelnde parlamentarische Opposition, welche die Regelverstöße zuläßt, weil einzelne Akteure – vor allem die Ministerpräsidenten – davon profitieren.
Quelle: Karl-Rudolf Korte, „In der Präsentationsdemokratie“, Frankfurter Allgemeine Zeitung, 26. Juli 2002.