Kurzbeschreibung

Die Fassade doktrinärer Einheitlichkeit und nationaler Verlässlichkeit, die sich im Programm der Konservativen Partei von 1876 ausdrückte, erschien Beobachtern in den nicht-preußischen Gebieten offensichtlich als recht dürftig. Diese Berichte aus dem Königreich Sachsen von 1876/77 zeigen, dass die Meinungen der politischen Beobachter über Wesen und Aussichten der neuen Partei weit auseinander gingen. Alle drei Berichte sind von diplomatischen Gesandten in der sächsischen Hauptstadt verfasst. Der britische Gesandte zeigt wenig Sympathie für eine seiner Ansicht nach doktrinäre und unbedeutende Partei. Der bayerische Gesandte ist wohlwollender, nicht zuletzt weil die sächsischen Konservativen seine kirchenfreundliche und antipreußische Haltung teilen. Der preußische Gesandte liefert drei Berichte, die während der Reichstagswahl im Januar 1877 abgefasst wurden – der ersten Bewährungsprobe der Partei. Er zeigt sich entsetzt, dass die sächsischen Konservativen widerspenstig und partikularistisch sind: Sie schienen die Liberalen mehr zu hassen als die Sozialdemokraten. Dieser Gesandte ist besorgt, dass lokale Unterstützung für August Bebel den Keil für eine weitere Verbreitung des Sozialismus in Deutschland darstellt. Allerdings weiß man aus anderen Quellen, dass Bismarck in den 1880er Jahren, genau wie die sächsischen Konservativen 1877, bereit war, sozialistische Siege über linksliberale Gegner als geringeres Übel zu betrachten.

Die Anziehungskraft der konservativen Partei in einem Bundesstaat (1876–77)

  • Rudolf von Gasser
  • Eberhard von Solms-Sonnenwalde
  • George Strachey

Quelle

I. Der Britische Gesandte berichtet aus Dresden (29. Juli 1876)

Der Appell der „Deutschen Konservativen“ scheint in Sachsen auf keine Reaktion gestoßen zu sein, abgesehen von einem kleinen hochkirchlich protestantischen Organ [die Neue Reichszeitung], einem Dresdner Journal im Besitz des Herrn [Ludwig] v. Zehmen, dem Präs[iden]ten der ersten Kammer und einem Grüppchen von Landbesitzern. Doch obwohl die „Reichszeitung“ alle loyalen Gegner der herrschenden politischen und wirtschaftlichen Anarchie zur Unterstützung der neuen Partei auffordert, hat weder Herr von Zehmen noch irgend ein anderer seiner namhafteren Freunde das Konservative Programm unterschrieben, d[as] mit einem sehr obskuren Kontingent sächsischer Namen aufwartet.

Die Ziele der alten Konservativen Sachsens (wo fast 20 Jahre bevor der K[önig] von Preußen zuließ, dass das „Blatt weißen Papiers zwischen mich und mein Volk kommt“, eine Verfassung verabschiedet wurde) stimmen nicht ganz mit jenen des n[ord]deutschen Junkertums überein. Der typische Sachse mag sich zwar in Bekundungen feudalen Bedauerns ergehen, seine aktive politische Leidenschaft ist jedoch sein Partikularismus, d[er] viel zu bitter ist, um einen Kompromiss mit der Zentralisierung zuzulassen, die anscheinend in das Programm aufgenommen wurde. Außerdem ist er im neuen preußischen Sinn nicht wirklich ein „Agrarier“. Zwar wurde das Wort hier verwendet, aber industrielle Interessen stehen so stark im Vordergrund, dass landwirtschaftliche Fragen sich nicht durchsetzen können, zumal die Klage über eine maßlose & ungewöhnliche Steuerlast eher eine städtische denn eine ländliche ist. Die nat[ional]lib[eralen] Zeitungen haben nicht viel mehr getan als die Berliner Kritik zu wiederholen: an der Bewegung, welche die Fortschrittspresse als die Totgeburt eines Versuchs, die lang angekündigte Partei von „Bismarck avec phrase“ zu gründen, lächerlich macht. Schenken die sächsischen Konservativen der Darstellung Glauben, dass Pr[inz] Bismarck das Programm gebilligt hat, werden sie dem Ruf der Reichszeitung kaum folgen. Ihre Zugehörigkeit oder Gleichgültigkeit kann kaum von Bedeutung sein, denn obwohl einige [Zahl unlesbar] von ihnen in der ersten Kammer sitzen, sind sie als effektive politische Partei nicht existent.

Quelle: Der Britische Gesandte, George Strachey, Dresden, an das British Foreign Office, London, Bericht Nr. 34 (Entwurf), 29. Juli 1876, in den National Archives, London (ehem. Public Record Office, Kew), FO 215, Nr. 34.

Übersetzung: aus dem Englischen ins Deutsche: Erica Fischer.

II. Der Bayerische Gesandte berichtet aus Dresden (19. Juli 1876)

Im Lande trägt man dem Aufrufe lebhafte Sympathien entgegen; er ist von dem hier sehr geachteten und beliebten Freiherrn von Burgk, auf Roßthal bei Dresden, Mitglied der ersten Kammer und Besitzer aus gedehnter Kohlenwerke in Plauenschen Grunde, mitunterzeichnet und bereits haben zahlreiche Sachsen ihre Zustimmung zu dem Programme eingesandt. Derselbe wird, wie gesagt, beifällig beurtheilt und, berücksichtigt man, daß in jedweder solchen Zusammenstellung von Grundsätzen, stets Manches vorkommt, was nicht Jeder sofort gutheißen möchte, so scheint es, gegenseitige Loyalität und praktische Vernunft vorausgesetzt, daß auf Grund dieses Programmes Deutschland allerdings sich aus seiner jetzigen Lage emporarbeiten könnte.

Quelle: Der Bayerische Gesandte Rudolf von Gasser, Dresden, an das Bayerische Außenministerium, München. Bericht Nr. 36, 19. Juli 1876. Im Bayerischen Hauptstaatsarchiv München, Abt. II, Geheimes Staatsarchiv, MA III, Sachsen, Bd. 2848.

III. Der Preußische Gesandte berichtet aus Dresden (Januar 1877)

Während der allgemeinen Reichstagswahlen im Januar 1877, berichtete Solms, daß im Wahlkreis Dresden-Altstadt eine Stichwahl zwischen dem Kandidaten der Sozialisten August Bebel und dem Nationalliberalen Dr. Mayhoff abgehalten werde. Seit der Gründung einer nationalen Konservativen Partei im vorangegangenen Jahr seien die Konservativen auf lokaler Ebene weit aktiver und besser organisiert, berichtet er, obwohl Bebel seine Wählerstimmen gegenüber 1874 erhöhen konnte.

Januar 11. [] [Im Vergleich zu drei Jahren zuvor war die Wahlagitation eine] ungleich lebhaftere, [] weil diesmal die conservative Partei sich wieder entschieden bei den Wahlen betheiligte, was sie damals wegen mangelhafter Organisation unterließ. Leider aber richtete sie ihre Thätigkeit vorzugsweise auf die Bekämpfung des nationalliberalen Candidaten, den seit einer Reihe von Jahren beim Vitzthum’schen Gymnasium angestellten Professor Mayhoff, einen Mecklenburger; derselbe hat eine ganz vorzügliche Wahlrede gehalten und auch durchaus nicht unterlassen den sächsischen Standpunkt zu betonen, es war ihm aber dessen ungeachtete nicht möglich die Conservativen zu versöhnen, welche den Hauptmann a.d. Besitzer einer Erziehungsanstalt Käuffer, einen übrigens sehr geachteten Mann, deshalb als Candidaten aufstellten, weil er ein Sachse ist, und alle vom particularistischen Standpunkt aus als nöthig erachteten Garantien in unzweifelhafter Weise bietet. Derselbe unterließ übrigens nicht die Treue zu Kaiser und Reich in seiner Wahlrede gebührend zu betonen.

Januar 17. [] Die Zunahme der socialistischen Partei in Dresden ist sehr auffallend.

[] Der letzteren [Conservative] Partei mißt man die Schuld bei, daß es Bebel möglich wurde zur Stichwahl zu gelangen, denn Viele, die sich ihr jetzt angeschlossen haben, würden früher für den fortschrittlichen Candidaten Minckwitz gestimmt haben, immerhin aber scheint die Annahme richtig, daß die traurigen gewerblichen Verhältnisse eine Menge Leute bewogen für Bebel, ohne daß die letzteren deshalb als Socialdemokraten zu betrachten sind. Diese Erscheinung wird sich, wenn auch aus andern Gründen bei der Stichwahl in viel auffallenderer Weise wiederholen [] . [Der Gesandte vermerkt, er habe von verschiedenen Leuten gehört, daß die Konservativen offen verlautbarten] sie wollen ihre Stimmen lieber dem Socialdemokraten Bebel, als dem nationalliberalen Mayhoff geben. Diese Conservativen gehören der Aristocratie an — der Hofgesellschaft —. Daß die Feindschaft gegen Preußen die eigentliche und ausschließliche Basis ist, auf der sich alles Denken und Urtheilen dieser unverbesserlichen Gesellschaftskreise bewegt, gestehen die Mitglieder derselben jetzt ebenso wenig ein wie früher, sie haben aber ein Feld gefunden, auf dem sie unter dem Deckmantel conservativer Gesinnung ihrem leidenschaftlichen und lang verhaltenen Groll wieder einmal Luft machen können. Es versteht sich von selbst, daß hierbei die ultramontane Clique zu der auch die Gesandten von Oesterreich und Bayern mit ihren Frommen gehören in antipreussischem Sinne wirkt. Es sind nach dem Ausspruch der Conservativen die liberalen Gesetze, welche das Proletariat in den industriellen Centren vermehrten, die Massen entchristlichten, den Gründungsschwindel schufen, Handel und Wandel zu Grunde richteten und das verarmte Volks dem Socialismus zuführten. Dies alles wird als Werk der Nationalliberalen betrachtet, welche um so hassenswerther erscheinen, als sie nach Ansicht der Particularisten auf die Vernichtung und Mediatisirung Sachsens hinarbeiten, wozu die Durchführung des Reichseisenbahn-Projects der erste Schritt sein würde. Die Parole lautet mithin: Sachsen darf im Reichstage nur durch echte Sachsen vertreten sein, denn daß ein deutscher Reichtagsabgeordneter deutsche Interessen zu vertreten hat der Gedanke liegt ihnen sehr fern. Nachdem die Conservativen nun mit ihrem Candidaten Käuffer durchgefallen sind, (dem beiläufig bemerkt sein Hauptmannstitel sehr geschadet hat) stehen sie vor der Frage, ob sie bei der Stichwahl für Mayhoff, einen Mecklenburger, oder für Bebel stimmen, oder ob sie sich der Wahl enthalten sollen.

Es ist auffallend, wie viele dieser Herren entschlossen scheinen, für Bebel zu stimmen. Die Einen gehen von der Idee aus, daß einige Socialdemokraten mehr im Reichstage keine große Gefahr bringen, daß man durch eine Verstärkung dieser Partei die Nationalliberalen schädige und daß vor Allem alle Hebel angesetzt werden müssen um diese Partei zu stürzen.

Die Anderen sagen, je schneller die socialistische Partei wächst, und je überraschender die von dieser dem Staate drohende Gefahr der Regierung vor Augen gestellt wird, desto sicherer ist die Aussicht, daß die Regierung in conservativen Bahnen einlenkt.

Die Socialisten werde die Regierung erforderlichen Falls noch niederkartätschen, an die Nationalliberalen aber werde sie sich nicht heranwagen.

[Des Fortschritts Dresdner Presse behauptet, dass Bebel] eigentlich ein Mann von Character und makelloser Ehrenhaftigkeit sei, und führt aus, es wäre doch noch zu untersuchen ob die Wahl Bebels ein so großes Unglück sein würde, daß die Mitglieder der Fortschrittspartei gegen ihre Ueberzeugung für Mayhoff simmen müssen. [Die Fortschrittspartei in Sachsen, so der Gesandte, hat] nur particularistische Tendenzen; daher erscheint ihr die Wahl des Nicht-Sachsen Mayhoff als unpatriotisch (d.h. hier unsächsisch).

In der Bürgerschaft Dresdens dagegen herrscht ein weit gesunderer Sinne und bei den großen und opferwilligen Anstrengungen der deutschen Reichspartei und der Nationalliberalen (es sind von einzelnen Mitgliedern ganz bedeutende Summen für Parteizwecke gezahlt worden) ist die Hoffnung dem Professor Mayhoff zum Siege zu verhelfen keineswegs ausgeschlossen.

Aus der Stichwahl in Dresden ging Bebel als Sieger hervor. Der Gesandte schreibt, daß viele Konservative und Progressive der Oberschicht, die Käuffer im ersten Wahlgang unterstützt hatten, angeblich von der Wahl Abstand nahmen, um nicht für die verhassten Nationalliberalen wählen zu müssen. Dies, obwohl der Parteiführer der Konservativen es als Notwendigkeit erkannt hatte, sich Bebel entgegenzustellen. Der Regierungsführer Sachsens, Baron von Friesen, mit dem der Gesandte erst kürzlich gesprochen hatte, schien Bebels Sieg „sehr ruhig“ aufzunehmen.

Januar 27. [] [Friesen] ist der Ansicht, daß wenn die Nationalliberalen einen anderen, als den unbekannten Mecklenburger Mayhoff [] aufgestellt hätten — irgend einen Sachsen, — derselbe den Bebel geschlagen haben würde. Ich [Solms] halte übrigens auch die Ansicht für begründet, daß wenn die Stichwahl zwischen Käuffer und Bebel gestanden hätter, der Erstere gewählt worden wäre. Der kleine Handwerker und der Bürgerstand hat aber ohne im entferntesten der socialdemokratischen Richtung anzugehören, lieber für Bebel votiert, als seine Stimme einem nichtsächsischen Nationalliberalen zu geben.

Meiner unmaßgeblichen Ansicht nach liegt das Gefährliche des Dresden’er Wahlresultats nicht in der einen Stimme, um welche die socialistische Partei im Reichstag verstärkt wird, sondern in dem Umstande, daß ein Sieg in der Haupstadt dieses socialistisch bereits so unterwühlten Landes dem Wachsthum der Umsturzpartei möglicher Weise eine ungeahnte Intensität und Ausdehnung geben wird.

Quelle: Graf Eberhard von Solms-Sonnenwalde, Dresden, an den Preußischen Außenminister Otto von Bismarck, Berlin, Berichte No. 1, 3 und 5, datiert auf den 11./12./27. Januar 1877. Im Politischen Archiv des Auswärtigen Amts, Berlin, I.A.A.m, Sachsen (Königreich), Nr. 45, Bd. 4.