Kurzbeschreibung

Diese Denkschrift wurde von Ludwig Hahn (1820-1888), dem Leiter von Otto von Bismarcks literarischem Büro und Geheimrat im preußischen Innenministerium, verfasst. Die hier festgehaltenen Überarbeitungen zeigen, mit welch außerordentlicher Sorgfalt Bismarck seinen Angriff auf den linken Flügel der Nationalliberalen Partei formulierte und wie er versuchte, die Wähler für eine Art Plebiszit über seine eigene Innenpolitik zu gewinnen. Die Denkschrift ist auch deshalb bemerkenswert, weil sie die Sozialdemokratische Partei, die beiden Attentate auf Kaiser Wilhelm I. und die „Gefahr“ einer Revolution fast völlig vernachlässigt. Die endgültige Fassung, die den Ton des Wahlkampfes vor den Reichstagswahlen vom 31. Juli 1878 angab, wurde am 27. Juni 1878 in der amtlichen Provinzial-Korrespondenz unter dem Titel „Die Ziele und Wünsche der Regierungen in Bezug auf die Wahl“ veröffentlicht.

Ludwig Hahn, Denkschrift, betreffend die Neuwahlen zum Reichstag 1878 (23. Juni 1878)

Quelle

[]

a. Entwurf.

Bei der Neuwahl handelt es sich im Allgemeinen darum, daß Männer in den Reichtstag kommen, welche der Regierung in dem Kampfe gegen die Socialdemokratie kräftig beizustehn entschlossen sind.

Die Stellung der Regierung zu den Candidaten der einzelnen Parteien richtet sich daher zunächst nach der Haltung, welche die betreffende Partei bei der Berathung über den kürzlich abgelehnten Entwurf eines Gesetzes zur Abwehr socialdemokratischer Ausschreitungen eingenommen hat und bei der Berathung ähnlicher Vorlagen im nächsten Reichstag voraussichtlich einnehmen wird.[1]

Die Candidaten der deutsch-conservativen Fraction und der deutschen Reichspartei werden demnach, sofern die sonstigen Umstände des einzelnen Falles dafür geeignet sind, zu unterstützen, die Candidaten der Fortschrittspartei, des Centrums und der polnischen Fraction ebenso zu bekämpfen sein.[2]

Denn die erstgenannten beiden Fractionen haben, bis auf zwei oder drei Mitglieder der deutschen Reichspartei, für die Regierungsvorlage gestimmt, und es ist zu erwarten, daß sie den künftigen Vorlagen der Regierung gegenüber dieselbe Haltung sogar in verstärktem Maße beobachten werden. Die letztgenannten Parteien haben geschlossen gegen die Vorlage votirt, und die systematische Opposition, in welcher sie zur Regierung stehen, läßt eine andere Haltung derselben nicht in Aussicht nehmen. Daß die socialdemokratischen Candidaten zu bekämpfen sind, versteht sich von selbst.

Die nationalliberale Fraction hat mit Ausnahme weniger Mitglieder gegen die frühere Vorlage gestimmt.[3] Sie unterlag dabei wesentlich dem Einfluß ihres linken Flügels. Dieser Theil der Fraction gehört seinem Wesen nach der Fortschrittspartei an; er stellt, wie diese, abstracte Principien, welche dem Individuum Freiheit geben, den Staat aber fesseln und lahmlegen, über die Rücksicht auf das Gesammtwohl. Schon bei früheren Anlässen, insbesondere bei Berathung des Preßgesetzes und der Strafgesetznovelle, hat die Erfahrung gelehrt, daß dieser Theil der nationalliberalen Fraction in kritischen Momenten über die gemäßigten, mit mehr praktisch-politischem Sinn begabten Elemente der Partei leicht den Sieg davon trägt. Dadurch ist die Partei selbst innerlich geschwächt; sie hat an politischer Bedeutung und staatsmännischem Gewicht verloren, was sie an Stimmenzahl durch jene unter der nationalliberalen Fahne sich bergenden fortschrittlichen Doctrinäre gewann. Dies wird von einsichtigeren Mitgliedern der Partei selbst empfunden, seitdem der furchtbare Ernst des neuen Attentats alle gegen die früheren Vorlagen gebrauchten Argumente in ihrer ganzen Bedeutungslosigkeit bloßgestellt hat. Ohne Zweifel werden viele Nationalliberale, wenn wiedergewählt, unter den jetzigen Umständen die Gefahr der Situation besser würdigen und danach ihr Votum abgeben.

Die nationalliberalen Candidaten sind deshalb nicht ohne Weiteres als der Regierung feindlich zu behandeln.[4] Es ist sogar erwünscht, wenn die gemäßigten Elemente der Partei (*auf welche die Regierung auch in Zukunft wird rechnen müssen, um eine Mehrheit im Reichstag zu haben,[5] wieder gewählt werden. Man muß das Mißverständniß vermeiden, als ob der Wahlkampf gegen die nationalliberale Partei als solche gerichtet sei. Der Kampf gilt nur der verfehlten Richtung, in welche die Partei durch den Einfluß ihres linken Flügels[6] geraten ist. Diejenigen nationalliberalen Candidaten, von welchen sich erwarten läßt, daß sie neuen Vorlagen der Regierung zur Abwehr der dem Staat und der Gesellschaft drohenden Gefahren zustimmen, werden demnach nicht (*allein nicht[7] zu bekämpfen, sondern thunlichst[8] zu unterstützen sein.

(*Nach den vorstehenden Bemerkungen werden die Regierungsorgane ihren berechtigten Einfluß auf die Wahlbewegung bemessen können. Für öffentliche Kundgebungen wird es sich empfehlen, das Verhältniß zu den einzelnen Parteien nicht in der vorstehend erörterten Weise darzulegen, sondern in möglichst einfacher Form die Wahlparole, ungefähr so, wie oben im Eingange bezeichnet, auf kräftige Unterstützung der Regierung im Kampf gegen die Socialdemokratie zu stellen und daran die Prüfung zu knüpfen, ob der Wahlcandidat nach seiner Parteistellung oder den von ihm individuell gegebenen Erklärungen Sicherheit für eine regierungsfreundliche Haltung darbietet.[9]

Anmerkungen

[1] Am Rande zur Seite des Relativsatzes handschriftlich: Wirthschaftliche Frage!
[2] Der Satz ist durch Streichungen und Correcturen umgewandelt in: Es ist anzunehmen, daß die Candidaten der deutsch-conservativen Fraction und der deutschen Reichspartei diese Absichten in der Regel unterstützen, die bisherigen Mitglieder der Fortschrittspartei und des Centrums ebenso sie bekämpfen.
[3] Am Rande: (Die nationalliberale Partei) bei grundsätzlicher Neigung (die) Regierung zu unterstützen, schädigt thatsächlich aus verschiedenen Gesichtspunkten: Fractionspolitik, Ehrgeiz Einzelner, Redebedürfniß, Unkenntniß des praktischen Lebens, Phraseologie, Einschüchterung der Vernunft durch die Zungendrescherei.
[4] Gestrichen und ersetzt durch: anzusehen.
[5] Von (*abgestrichen.
[6] Am Rande: und durch Einschüchterung der Besonnenen von Seiten der redegewandten Declamatoren.
[7] Gestrichen
[8] Gestrichen
[9] Von (* ab gestrichen.

Quelle: Ludwig Hahn, „Denkschrift, betreffend die Neuwahlen zum Reichstag 1878“, Bismarck-Jahrbuch, herausgegeben von Horst Kohl, Band 1. Berlin: O. Häring, 1894, S. 98–100.