Kurzbeschreibung

Trotz der formalen Emanzipation der Juden im Norddeutschen Bund im Juli 1869 blieb die Integration der Juden in die deutsche Gesellschaft umstritten. Doch wie der Autor und spätere Chronist der Naziherrschaft Victor Klemperer (1881–1960) feststellt, trat sein Vater, ein Rabbiner, einem brandenburgischen Lesezirkel bei und fühlte sich völlig zuhause. Selbst die wachsende Bekanntheit des antisemitischen Hofpredigers Adolf Stöcker (1835–1909) in den 1870er und 1880er Jahren unterbrach die Integration—das Gefühl von „geistiger Heimat“—dieses hoch gebildeten Juden nicht unmittelbar. Sein Vater lebte eindeutig innerhalb miteinander verflochtener Gemeinschaften mit lokaler, regionaler und nationaler Gesinnung.

Ein jüdischer Rabbiner in einem preußischen Lesezirkel (1880er Jahre)

  • Victor Klemperer

Quelle

Doch damals war Georg schon Unterarzt an der Berliner Charité, und wir wohnten in Bromberg. An das Landsberg meiner Kinderzeit, das wir um 1884 verließen, habe ich keine persönliche Erinnerung.

Aber in einigen ererbten Büchern meiner Bibliothek, so in Gustav Freytags „Luther“ und in David Friedrich Strauß „Voltaire“, klebt ein Zettel, der mir mit den Jahren immer bedeutungsvoller geworden ist. „Bücherlesezirkel von Fr. Schaeffer & Co. 1876. Alle vierzehn Tage wird gewechselt. Nach beendetem Umlauf an Mitglieder des Zirkels verkäuflich.“ Darunter die gedruckte Liste der vierzig Teilnehmer: Herr Kreisgerichtsrat Sellmer, Herr Stadtrat Roestel, Herr Kreisgerichtsdirektor von Krüger, Herr Staatsanwalt Toussaint, Herr Deichhauptmann Müller, Herr Bürgermeister Meydam, Herr Hauptmann Freiherr von Platow, Herr General Petzel, Herr Apotheker Dr. Zanke, Herr Dr.med. Lohnstein. [] Also die Honoratioren und die beste Intelligenz der kleinen Stadt, natürlich auch die Herren vom Gymnasium: Oberlehrer Neide und so weiter, und die Geistlichkeit: Prediger Schroeter und Prediger Dr. Klemperer. Der fundamentale Unterschied zwischen den gleichbetitelten Seelsorgern liegt nicht im Doktorgrad meines Vaters; Schroeter war Pastor, Klemperer Rabbiner.

Nicht daß Vater hier unter den Würdenträgern in Zivil und Uniform figuriert, auch nicht daß er mit vielen von ihnen in durchaus freundlichen persönlichen Beziehungen stand, scheint mir das eigentlich Merkwürdige. Vor der Stoeckerzeit hat es in Deutschland eine lange Periode gegeben, in der der Antisemitismus vielfach ein sehr geringer war. Es herrschte im allgemeinen eine ungleich stärkere Spannung etwa zwischen Fabrikanten und Arbeitern oder Bayern und Preußen als zwischen Juden und Christen. Und trat ein Jude zum Christentum über und betonte dadurch seinen Willen, nichts als Deutscher sein und innerhalb Deutschlands keine Sonderexistenz führen zu wollen, so stieß er für seine Person kaum noch auf Hindernisse, und sein Sohn fand bestimmt keine Schwierigkeiten mehr. Und in diesem Punkt hat auch die Stoeckerzeit nichts geändert. Was mich wundert und beinahe rührt, ist nur das sprachliche Faktum, daß Vater auf dieser gedruckten, sozusagen öffentlichen Liste als „Prediger“ geführt wurde und sich so bezeichnen lassen durfte. In der kleinen Stadt gab es natürlich kein Versteckspielen; die Christen wußten, daß er Rabbiner war, und seine Gemeinde wußte, daß er sich hier Prediger nennen ließ. Offenbar sah man darin weder auf christlicher Seite eine Geheimniskrämerei noch auf jüdischer Seite einen Verrat. Es war einfach der Ausdruck seines Willens zum Deutschtum.

Er fühlte sich ganz als Deutscher, als Reichsdeutscher. Er hatte politische Interessen und war von den Ergebnissen des sechsundsechziger und des siebziger Krieges tief befriedigt. Er war liberal im Sinn des damals meistgelesenen Romanschriftstellers Friedrich Spielhagen, das heißt, indem er sich zum fortschrittlichen Bürgertum dem, wie man damals sagte, Junkertum gegenüber bekannte, ohne sich über die harten, allzu materialistischen Probleme des Sozialpolitischen und Nationalökonomischen den Kopf zu zerbrechen. Der Buchhändler Schaeffer, ein genialischer und wenig geschäftstüchtiger Mann, gab ein gemäßigt liberales und gut nationales Blättchen heraus. Vater hat auf seine Art daran mitgearbeitet, indem er passende Artikel aus den großen Berliner Zeitungen herausschnitt und exzerpierte. An selbständige Äußerungen oder Formungen hat er sich nie gewagt (während sich der Primaner Georg zu gelegentlichen kleinen Theaterkritiken erkühnte). Daß es eine Spannung zwischen seinem Deutschtum und seinem Judentum, seiner Pflicht als Rabbiner, geben könnte, darauf ist Vater, mindestens in Landsberg, sicherlich niemals verfallen. Und ich glaube, die Landsberger Jahre waren bei all ihrer Kargheit die glücklichsten seines Lebens.

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Vater betrachtete es als eine Art Ruhm, schon die Staatszugehörigkeit zum Norddeutschen Bund erhalten und die Reichsgründung als preußischer Bürger miterlebt zu haben. Wenn er in Gegenwart der Kinder etwas Geheimes zu Mutter sagen wollte, sprach er wohl ein paar Worte tschechisch, aber er blickte auf die Tschechen mit einiger Verachtung als auf ein fremdes und unkultiviertes Volk herab, und auch die deutschen Österreicher nahm er nicht ganz für voll. Dagegen habe ich ihn oft mit Wärme von den Ungarn sprechen hören, in denen er die Freiheitskämpfer der achtundvierziger Revolution sah. Er empfand überhaupt keine Feindschaft gegen irgendwelche fremden Völker, aber sein eigenes Volk waren ihm eben die Deutschen, mit der deutschen Kultur vermochte sich keine andere zu messen, und der eigentliche Träger des Deutschtums war das Reich und nicht das wirre und buntscheckige Österreich. Wer drüben wohnte, der lebte, der dachte und fühlte nicht ganz wie wir, und wenn er uns auch blutsverwandt war. Was war denn schon das Blut – auf die geistige Zugehörigkeit kam alles an, das unterschied den Menschen vom Tier.

Quelle: S. 16–19 (in Auszügen)
aus: Victor Klemperer. Curriculum vitae. Erinnerungen 18811918. Hrsg. von Walter Nowojski. Band 1. Aufbau-Verlag, Berlin 1996
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