Quelle
31. März, Freitag abend
Immer trostloser. Morgen beginnt der Boykott. Gelbe Plakate, Wachen. Zwang, christlichen Angestellten zwei Monatsgehälter zu zahlen, jüdische zu entlassen. Auf den erschütternden Brief der Juden an den Reichspräsidenten und die Regierung keine Antwort. […] Niemand wagt sich vor. Die Dresdener Studentenschaft hat heute Erklärung: geschlossen hinter . . . und es ist gegen die Ehre deutscher Studenten, mit Juden in Berührung zu kommen. Der Zutritt zum Studentenhaus ist ihnen verboten. Mit wieviel jüdischem Geld wurde vor wenigen Jahren dies Studentenhaus gebaut!
In München sind jüdische Dozenten bereits am Betreten der Universität verhindert worden.
Der Aufruf und Befehl des Boykottkomitees ordnet an: „Religion ist gleichgültig“, es kommt nur auf die Rasse an. Wenn bei Geschäftsinhabern der Mann Jude, die Frau Christin ist oder umgekehrt: so gilt das Geschäft als jüdisch. –
Gestern abend bei Gusti Wieghardt. Gedrückteste Stimmung. In der Nacht gegen drei – Eva schlaflos – riet mir Eva, heute die Wohnung zu kündigen, um eventuell einen Teil davon wieder zu mieten. Ich habe heute gekündigt. Die Zukunft ist ganz ungewiß. […]
Am Dienstag im neuen „Universum“-Kino in der Prager Straße. Neben mir ein Reichswehrsoldat, ein Knabe noch, und sein wenig sympathisches Mädchen. Es war am Abend vor der Boykottankündigung. Gespräch, als eine Alsbergreklame lief. Er: „Eigentlich sollte man nicht beim Juden kaufen.“ Sie: „Es ist aber so furchtbar billig.“ Er: „Dann ist es schlecht und hält nicht.“ Sie, überlegend, ganz sachlich, ohne alles Pathos: „Nein, wirklich, es ist ganz genau so gut und haltbar, wirklich ganz genauso wie in christlichen Geschäften – und so viel billiger.“ Er: schweigt. – Als Hitler, Hindenburg etc. erschienen, klatschte er begeistert. Nachher bei dem gänzlich amerikanisch jazzbandischen, stellenweise deutlich jüdelnden Film klatschte er noch begeisterter.
Es wurden die Ereignisse des 21. März vorgeführt, Stücke aus Reden gesprochen. Hindenburgs Proklamation mühselig, mit Atemnot, die Stimme eines uralten Mannes, der physisch fast zu Ende ist. Hitler pastoral deklamierend. Goebbels sieht ungemein jüdisch aus
[…]. Man sah Fackelzug und allerlei marschierendes, erwachendes Deutschland. Auch Danzig mit Hakenkreuzflagge.[…]
Quelle: aus: Victor Klemperer, Ich
will Zeugnis ablegen bis zum Letzten. 2 Bände. Tagebücher
1933–1945. Hrsg. von Walter Nojowski unter Mitarbeit von Hadwig
Klemperer. Aufbau-Verlag Berlin, 1995 [S. 16–17].
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