Kurzbeschreibung

Der Erweckungstheologe Friedrich August Tholuck (1799–1877), ein rühriger Prediger und produktiver Autor, war ein einflussreicher Gegner des religiösen Rationalismus und seiner Bibelkritik in Deutschland. Die Abschnitte aus zwei seiner Predigten, von denen eine während der Revolution von 1848 gehalten wurde, sind beispielhaft für die leidenschaftlichen Appelle der Erweckungsbewegung an die Glaubensfestigkeit der Kirchenmitglieder und – typisch für den damaligen politischen Konservatismus der meisten frommen Protestanten – ihre scharfe Kritik an Forderungen nach Freiheit, Demokratie und Bürgerrechten.

Auszüge aus zwei Predigten von Friedrich August Tholuck, „Was ist die menschliche Vernunft wert?“ (ca. 1840) und „Wann ist die größere bürgerliche Freiheit für das Volk ein Glück?“ (1848)

  • Friedrich August Tholuck

Quelle

XVI. Was ist die menschliche Vernunft wert?

Meine Geliebten! Ich habe nach dem Befehle des Herrn selbst zu euch geredet von den Kämpfen und Parteiungen der Zeit; — ich sage: nach dem Befehle des Herrn selbst, denn der Herr ist es, der seinen Jüngern Befehl gethan, daß sie auf die Zeichen der Zeit achthaben sollen. Auf die Zeitrichtungen haben wir einen Blick geworfen, auf die Zeitthemata wollen wir nun auch einen Blick werfen, auf jene Themata, welche zu Losungsworten geworden sind zur rechten und zur linken, worüber man nun wieder verhandeln hört auf den Gassen und in den Schenken, auf den Eisenbahnen und in den Postwagen. Wie wollten wir dafür Gott danken, daß die Religion endlich wieder einmal von der Kanzel in das Leben der Menschen hineingetreten ist, könnte man, wenn auch nur manchmal, wahrnehmen, daß hinter dem offenbaren Schwatzen ein geheimes Forschen und Beten steht, daß die Leute nicht bloß fragen: was muß ich wissen, um klüger zu werden? sondern auch: was muß ich thun, um selig zu werden? Indes selbst dieser fleischliche Eifer soll uns lieber sein, als gar keiner, selbst wenn‘s lauter Eifer nicht bloß um, sondern gegen die Religion wäre! Wieviel hätten wir wenigstens Gewinn davon, wir, die wir wissen, an wen wir glauben, wenn jener falsche Eifer unsern rechten weckte, wenn, je lauter von jenseits her das Nein! ertönt, desto freudiger unser Ja! hinausschallte ins Land! Seht, hat nicht schon das sein Gutes, daß ihr, die ihr von eurem Glauben nicht lassen wollt, jetzt auch lernen müsset, was ihr antworten könnet, wenn sie euch nach dem Grunde eurer Hoffnung fragen. Dazu will ich nun mitwirken, darum will ich von den Zeitfragen predigen, damit ihr habet, was ihr antworten könnet, damit ihr aufs neue euch bewußt werdet, daß wir auf einem guten, auf einem ewigen Grunde stehen!

Das Thema nun, was obenansteht unter den Losungsworten dieser Zeit, das ist die Frage: was die menschliche Vernunft wert sei? Aber von welchem der vielen Lehrer und Weltweisen werden wir die Antwort holen? Wir, die wir in Christo einen König der Wahrheit haben und nicht mehr herumzugehen brauchen, um uns bei den Edlen und Fürsten im Lande der Wahrheit Antwort auf unsere Fragen zu erbetteln, wir treten auch mit dieser Frage ihn an und keinen anderen. Der, von dem geschrieben steht: „Der ist das wahrhaftige Licht, das alle Menschen erleuchtet, die in diese Welt kommen“, — von ihm und von keinem andern wollen wir die Antwort hören; von ihm wissen wir: Er weiß, was er redet, denn er redet, was er vom Vater gehört hat. Nun so soll er uns denn sagen: was die menschliche Vernunft wert sei; vernehmet seine Antwort Matth. 6, 20—24, wo er also spricht:

„Sammelt euch aber Schätze im Himmel, da sie weder Motten noch Rost fressen, und da die Diebe nicht nachgraben noch stehlen. Denn wo euer Schatz ist, da ist auch euer Herz. Das Auge ist des Leibes Licht. Wenn dein Auge einfältig ist, so wird dein ganzer Leib Licht sein. Wenn aber dein Auge ein Schalk ist, so wird dein ganzer Leib finster sein. Wenn aber das Licht, das in dir ist, Finsternis ist; wie groß wird dann die Finsternis selber sein? Niemand kann zween Herrn dienen. Entweder er wird den einen hassen, und den andern lieben; oder wird einem anhangen, und den andern verachten. Ihr könnet nicht Gott dienen und dem Mammon.“

Habt ihr‘s vernommen, meine Brüder, was er euch mit diesem Worte über den Wert der menschlichen Vernunft sagt? Das sagt er euch: Sie ist ein Licht für den ganzen inneren Menschen, wenn sie gesund ist, — sie ist ein Irrwisch für den ganzen inneren Menschen, wenn sie krank ist, und — sie wird nur gesund, wo der rechte Zug des Herzens sie leitet. Das hat unser Herr gesagt, und nun wissen wir denn, zu welchen wir uns zu halten haben in den Kämpfen dieser Zeit. Wir halten zu denen nicht, nach welchen der Mensch ohne geistiges Auge geboren sein soll; wir halten zu denen nicht, nach welchen der Mensch aus eigner Vernunft und Kraft sein geistiges Auge gesund machen kann; aber zu denen halten wir uns, die da bekennen, daß nur durch den rechten Zug des Herzens das geistige Auge des Menschen gesund wird. O du, in dessen Licht wir allein Licht sehen können, wir Prediger und ihr Zuhörer, erleuchte du unsern Geist! Die Unmündigen und die Kinder hast du zu dir eingeladen, siehe, wir kommen als die Unmündigen, um unsere Weisheit von dir zu nehmen!

Das erste also, was Christus von der Vernunft uns lehrt, ist dies, daß sie ein Licht für unsern ganzen inneren Menschen sei, wenn sie gesund ist. Ein Licht braucht der Mensch für seine Gefühle, für sein tägliches Wollen und Handeln. Freilich fehlt viel daran, daß der Mensch schon darum recht will, weil er recht weiß.

Zwar bilden sich das viele ein; denn viele sind, die da meinen, daß alles mit dem Menschen gut gehen sollte, sobald sie nur immer gescheiter und gebildeter würden, und in allen Künsten, Wissenschaften und Fertigkeiten Fortschritte machten. Und so treiben sie es nun auch selbst, lernen aus allen Büchern und von allen Meistern, — nur, daß unter allen Gegenständen, über die sie nachdenken, die Religion, ihr Verhältnis zu Gott, der letzte ist. Sie schämen sich, wenn unter den Dingen, die auf der Erde und unter der Erde sind, irgendeines ist, von dem sie keinen rechten Bescheid zu geben wissen; nur wenn sie über ihre Religion, wenn sie über die Heilige Schrift keinen rechten Bescheid wissen, schämen sie sich nicht. Wißt ihr, was unsere Vorfahren gesagt haben von denen, die nur ans Gescheiter- und nicht ans Besserwerden denken? „Werden die Menschen gescheiter, so macht der Teufel die Hölle weiter.“ []

Gerade darum nun aber, weil ein solcher Heiland uns gegeben ist, wie dieser Christus, können und dürfen wir auch zu denen nicht halten, die dem Menschen durch ihre eigene Vernunft und Kraft ein gesundes Auge geben wollen. Daß keiner von allen Sterblichen mit einem gesunden, inneren Auge, mit einer gesunden Vernunft schon geboren werde, das müssen am Ende alle gestehen, welcher Partei sie auch folgen. O wir brauchen uns ja das innere Auge nur vorzustellen, was es sein sollte: ein Stern in der Nacht des Lebens ohne Aufgang, ohne Niedergang, ohne Wechsel des Lichts und der Finsternis; und wer soll es nicht gestehen, diese Vernunft, in der alle Launen, Schwächen und Gebrechen eines kranken Herzens sich spiegeln und wiederscheinen, daß die doch nicht ein gesundes Seelenauge sein kann. Eine unumschränkte Königin wäre diese Vernunft, die doch durch jeden starken Windzug der Leidenschaft von ihrem Throne gestoßen wird? Versucht es nur, ihr thörichten Kinder der Zeit, wie etliche von euch es angefangen haben, dem Volke zu predigen, daß diese Vernunft gesund und eine unumschränkte Königin sei, die keines Wortes von Gott mehr bedürfe, um sie zu regieren, und ihr werdet‘s bald erfahren, wie diese Königin den niedrigsten Leidenschaften dienen wird. Es wird das Volk die Stimme seiner Leidenschaft mit der Stimme seiner Vernunft verwechseln, seine fleischlichen Begierden werden, wenn's hoch kommt, mit edeln Namen sich schmücken, die Roheit wird Kühnheit heißen, die Fleischeslust Genuß der Menschenrechte, der Abfall von Gott wird Unabhängigkeit, die Zügellosigkeit wird Freiheit heißen. Schon habe ich es in diesen Tagen auf der offenen Straße dieser Stadt von einem äußerlich ehrbaren Hallischen Bürger predigen hören: Mit Gott ist‘s aus, wir stehen auf unsern eigenen Füßen! Noch erstarrt unser Blut, wenn wir der Tage gedenken, wo solcher Frevel in Frankreichs Hauptstadt von den Dächern gepredigt wurde. O wenn es mit dem deutschen Volke dahin kommen könnte! Doch nein, nein, du nachgeborenes Geschlecht, ihr Jünglinge, die ihr hier steht, die Lenden umgürtet und eure Lampen brennend, ihr Jünglinge, die ihr euren Adel und eure Menschenwürde darin erkennt, vor dem lebendigen Gotte eure Kniee zu beugen, ihr seid die von Gott Berufenen, ihr werdet die Schmach von den Häuptern unseres Volkes wenden helfen! Auf euch steht unsere Hoffnung, die wir abtreten, für die ernsten Tage, die da kommen werden, und die unser Auge nicht mehr sehen wird. — Daß die Vernunft der Menschen erst erzogen werden, daß das innere Auge erst gereinigt werden muß, darüber sind aber auch, wenigstens die Besonnenen, alle einig. Aber wer soll es nun aufklären und reinigen? Wer ist nun der Kühne, der vor seine Brüder sich hinzustellen wagt, um rein und allein aus der Kraft seiner eigenen Vernunft ihr Arzt und Heiland zu werden? Wer ist der Kühne, der es zu behaupten wagt: Mein inneres Auge, das ist der Stern in der Nacht des Lebens, ohne Aufgang, ohne Niedergang, ohne Wechsel des Lichts und der Finsternis? Nein, Christen, wenn wir Prediger hier von der Kanzel herab zu euch reden, nicht uns, nicht uns, einen Höheren als wir verlangt ihr zu vernehmen; den, den wollt ihr aus unserem Munde reden hören, der durch sein ewiges Wort auch unsere Augen helle machen muß, damit wir in seinem Lichte Licht sehen! Und wenn selbst dessen Wort falsch wäre, dann wollten wir herabsteigen von diesem Orte, wo wir über der Gemeinde standen — es war ja nur sein Wort, das uns auf diesen hohen Ort gestellt hat! — und wollten unter euch treten, nichts besser und nichts schlechter als die Sterblichen alle, die, wo Christus zum Lügner geworden, im unsichern Dämmerlicht ihrer eigenen Vernunft durch dieses Leben wallen. Das Seelenauge des Menschen kann durch keinen anderen gesund werden, als durch den, der selbst ein durch und durch gesundes Seelenauge gehabt hat. Und warum ist er allein es unter allen, der jenes durch und durch gesunde Seelenauge hatte? Weil er allein es ist, der da fragen konnte: wer mag mich einer Sünde zeihen? Erinnert ihr euch, wie er das als Prüfstein seiner Wahrheit hingestellt, wie er fragt: „Ihr aber, weil ich die Wahrheit sage, so glaubet ihr nicht; welcher unter euch kann mich einer Sünde zeihen?“ Ja, und das eben ist es, was die Kinder dieser Zeit am Evangelium nicht leiden wollen, daß es die Wahrheit in göttlichen Dingen in so enge Verbindung setzt mit der Heiligung, daß es eine so gesunde Vernunft nur geben soll, wo der rechte Zug des Herzens ist zu Gott. Nur lernen wollen sie, aber nicht beten, nur Bildung der Vernunft, aber nicht Heiligung des Herzens. Aber wie bei Christo das heilige Herz das Auge ist, womit er Gott geschaut, so zeugt mit unserem Texte das ganze N. T. davon: nur durch ein göttliches Leben wird der Mensch Gott inne, nur durch die Reinigung des Herzens wird unser Seelenauge rein und klar!

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[Kapitel] IXX. Wann ist die größere bürgerliche Freiheit für ein Volk ein Glück?

Geliebte in dem Herrn! Am Schlusse des verwichenen Halbjahrs haben wir einen Umschwung der Dinge erlebt, nach welchem jeder jeden und jedes Verhältnis mit einem andern Auge wiedersah. Seit jenen verhängnisvollen Tagen haben auch wir uns an dieser Stätte nicht wiedergesehen; auch wir sehen uns jetzt in mehr als einer Hinsicht mit andern Augen wieder. Zunächst wir Theologen. Das Losungswort Freiheit ist aus den Volksversammlungen in die Kirche hineingedrungen mit dem Klange, der bei vielen wenigstens nur zu sehr erinnert an das: „Dieser soll nicht über uns herrschen!“ Im Hinblick auf das, was der Kirche in kurzem bevorsteht, sehen wir uns in einer gehobeneren Stimmung wieder, ich möchte sagen — wie Freunden zumute ist, die vor einem heißen Schlachttage sich begegnen. Auch ihr akademischen Bürger allzumal seid in eine neue Laufbahn eingetreten. Das Wörtlein Freiheit, das ohnehin schon gerade junge akademische Herzen mit solcher Zaubermacht durchzittert, schallt mit verdoppeltem Echo aus den bürgerlichen Kreisen in die akademischen herüber. Euer ganzes akademisches Leben will anfangen, sich in freieren Schwingungen zu bewegen. Nun aber lasset uns alle daran denken, an welcher Stätte wir hier stehen. Hier stehen wir an der heiligen Stätte, wo alle menschlichen Losungsworte auf nie irrender Wage gemessen werden müssen. Uns kommt daher vor allem zu, das vieldeutige Wort Freiheit heut‘ zu wägen und messen. Euch loben, euch glücklich preisen will ich heut‘ absichtlich nicht, wenn auch, wenigstens im Blick auf die fernere Zukunft, Hoffnungen wach werden dürfen. Aber des Honigs wird in diesen Tagen allenthalben viel gereicht, soll nicht gerade die Kanzel zu dem Honig auch göttliches Salz hinzuthun? Denket also daran, daß es dieses Ortes ist, uns mit unserer Freiheitslosung heut‘ unter Gottes Wort als unsern Richter zu stellen.

Als die deutsche Fahne auf dem Rathause unserer Stadt gepflanzt wurde, und das Lied erklang: „Nun danket alle Gott“, da stand unter anderen Bürgern auf dem Markte einer, den man zu seinem Nachbar sagen hörte: „Jetzt singen sie: nun lobet alle Gott, wer weiß, ob sie übers Jahr nicht singen müssen: Herr, hilf uns aus der tiefen Not.“ Man darf wahrlich nicht zu den blinden Bewunderern des Alten gehören, um nach dem, was wir erlebt, solchen Befürchtungen Raum zu geben. Es mögen berechtigte Kräfte entfesselt worden sein, aber wo sie durch eine Revolution entfesselt werden, da wachen jedesmal so viele Kräfte der Hölle mit auf, die dann keine Menschenkraft wieder zügeln kann. Wer auf dem Wasser fährt, hat den Wind nicht in der Hand. Wenn es kein Gut der Erde giebt, das dem Mißbrauch nicht unterläge, selbst die Religion nicht ausgenommen, wie nahe liegt gerade bei wachsender bürgerlicher Freiheit der Mißbrauch! Wir müssen also mit Ernst die Frage euch vorlegen: wann ist die größere bürgerliche Freiheit für ein Volk ein Glück? — Wir lassen Christum antworten; er spricht Joh. 8, 31—36:

„Da sprach nun Jesus zu den Juden, die an ihn glaubten: so ihr bleiben werdet an meiner Rede, so seid ihr meine rechten Jünger, und werdet die Wahrheit erkennen, und die Wahrheit wird euch frei machen. Da antworteten sie ihm: wir sind Abrahams Samen, sind nie keinmal jemandes Knechte gewesen; wie sprichst du denn: ihr sollt frei werden? Jesus antwortete ihnen und sprach: wahrlich, wahrlich, ich sage euch: wer Sünde thut, der ist der Sünde Knecht. Der Knecht aber bleibet nicht ewiglich im Hause; der Sohn bleibet ewiglich. So euch nun der Sohn frei macht, so seid ihr recht frei.“

Christi Antwort auf unsere Frage lautet nach diesen Worten: nur dann ist die größere bürgerliche Freiheit ein wahres Glück, wenn im Gewissen dieser Freien die Liebe Gottes am unbedingtesten herrscht. Näher liegt dreierlei in diesem Ausspruche: 1) Bürgerliche Freiheit ist die wahre Freiheit, d. h. die Freiheit im höchsten Sinne, noch nicht. 2) Nur die Freien, in denen die Liebe Gottes am unbedingtesten herrscht, sind wahrhaft frei. 3) Diese Freiheit giebt nur der Sohn, der wahrhaft Freie.

Die bürgerliche Freiheit, spreche ich mit dem Sohne Gottes, ist die wahre Freiheit, die Freiheit im höchsten Sinne noch nicht. [] Wo auf nichts anderes der Sinn eines Volkes steht, als von den Menschen sich zu emanzipieren, da wird jener Übermut geboren, der keinerlei Bande der Abhängigkeit mehr ertragen will, die an Menschen binden, nicht die der Ehrfurcht, nicht die der Dankbarkeit, nicht die der Pietät; da sollen selbst alle Rang- und Stufen-Unterschiede unter den Menschen fallen. Der Staat ist ein Leib, ein Leib hat verschiedene Glieder, ungleich an Ehre und Würde, obwohl allzumal zum Bestehen des Leibes notwendig, herrschende und dienende, Ohr und Auge, Füße und Hand; wo aber der Übermut im Gefolge eines schwärmerischen Freiheitsdranges erwacht ist, da wollen die Glieder die Stelle nicht mehr anerkennen, die ihnen Gott am Leibe angewiesen hat, da will jedes Glied Aug und Ohr sein. Solcher Freiheitsschwindel gebiert den Übermut gegen Menschen, denn er ist selbst aus dem Übermute gegen Gott geboren. Im Brief Judä wird von gottlosen Menschen gesprochen, Träumer werden sie genannt, und wird von ihnen gesagt, daß, weil sie Gott verachten, sie auch die Herrschaften verachten und die Majestäten lästern. Unter allen Gefühlen der Ehrfurcht ist das gegen die Gottheit das älteste und ehrwürdigste. Wer aber vor göttlicher Majestät seine Kniee zu beugen aufgehört hat, wie wird der noch unter den Menschen ein Scepter anerkennen, das von Gott zu Lehn empfangen ist, und das keine Hand von Fleisch und Blut antasten darf? Und wer‘s nicht mehr anerkennen will, daß es Stirnen giebt, welche die Geburt und Natur selbst zum Diademeskranz gebildet, wie schwerlich wird der noch überhaupt vor denen, die Gott als die edleren Glieder am Leibe der Menschheit gesetzt hat, sich beugen wollen! Sehet da das Fürchterliche einer Revolution, wo wider Recht und Gesetz die Hand von unten nach dem Scepter greift, um es zu knicken, wie sogleich alle Banden der Ehrfurcht, der Pietät und des Gehorsams vom entzügelten Übermute abgeschüttelt werden. O der eine, erste Gesetzesbruch, den ein ganzes Volk heilig spricht, was für ein Heer von gebrochenen Rechten und Eiden, von übermütigen Gewaltstreichen und freventlichen Gelüsten zieht er nach sich! Das deutsche Sprichwort sagt: vom einmal angeschnittenen Brote schneiden alle lüsternen Kinder. Dieser Geist des Übermuts, er ist auch jetzt unter alt und jung ausgefahren. Jünglinge dieser Hochschule, in der weit ausgedehnten Befleckung ist euer Name unbefleckt erhalten worden; Recht und Gesetz hat in jenen verhängnisvollen Tagen euch mehr gegolten als berauschtes Zeitungslob; mit der Besonnenheit, die Männer ziert, habt ihr euch auf der zwar schmalen, aber festen und geraden Straße eines gesetzmäßigen Fortschrittes halten lassen. Ihr wißt, daß in keinem Alter mehr, als im Jünglingsalter das Unkraut des Dünkels und des Übermuts wuchert, darum wachet, wachet, und wollt ihr in diesen versuchungsvollen Zeiten lernen, vor rechtmäßigen menschlichen Autoritäten euere Kniee beugen, lernet sie beugen vor Gott! Sehet weiter die argen Früchte solcher Freiheitsschwärmerei an der Blindheit dieser Juden. „Wir sind niemals jemandes Knecht gewesen“, wagen sie zu sprechen und vergessen ihre lange Gefangenschaft und wollen‘s nicht Wort haben, daß das römische Scepter jetzt über sie gebietet. Es ist nicht zu sagen, welche Blindheit mit solchem Freiheitsschwindel Hand in Hand geht, der blindlings nur nach politischen Rechten trachtet. Wie haben nach jenen Tagen der Revolution die ersten Begriffe von Recht und Pflicht im Urteil der Menschen sich verkehrt! Zu Verbrechern gestempelt sind die Truppen worden, die heilige Eide nicht haben brechen wollen. Zu Freiheitskämpfern dagegen gestempelt diejenigen, welche, nach den bereits erteilten Freiheiten, wo nicht aus freiwilligem Gelüst, so doch aus traurigem Irrtum die Waffen des Aufruhrs erhoben haben. Und wie viele Irrtümer gröbster Verblendung, die bis auf diese Stunde unter alt und jung wuchern und geflissentlich von frevelnder Lippe selbst in die Hütten der schlichten, redlichen Arbeiter und des einfachen Landmannes getragen werden. Da soll kein Herrscher und kein Diener mehr sein, während es vor aller Augen offenbar ist, daß Natur selbst zum Sceptergriff die eine Hand geschaffen hat, zu Pflug und Spaten die andere; da soll nur losgebunden, nur freigemacht werden alles und in allen Verhältnissen, während doch dem einfachsten Blick offenbar ist, daß Freiwerden das Glück des Menschen noch nicht macht, sondern Freiheit gebrauchen können. Wenn ihr dem zehnjährigen Kinde die Freiheit gebet, und es hinstellt und sprechet: „Mein Kind, du bist frei“, ist denn das sein Glück? Doch Bildung und immer wieder nur Bildung, das soll das Zaubermittel sein, das den Gebrauch der Freiheit lehren soll, ob es gleich tausendmal die Geschichte gepredigt hat, was für eine weite Kluft zwischen Kopf und Herz im Menschen befestigt ist, und daß der aufgeklärte und gebildete Kopf im Dienste eines bösen, gottvergessenen Herzens zu nichts anderem dient, als ihm die Schleichwege anzuzeigen, die Gelüste seines Herzens zu beschönigen. Aber jenes allein zureichende Mittel, das Herz des Menschen umzubilden, die Religion, die soll ja aus der Schule ausgetrieben werden. Während die Geschichte lehrt, wie in der Kindheit der Menschheit Religion der heilige Same gewesen ist, aus dem alle Bildung des Menschen hervorgegangen, während die Erfahrung von Jahrtausenden lehrt, daß gerade die Kinderherzen vor allen andern für die Religion empfänglich sind, während Christus, der Heiland, ruft: „Lasset die Kindlein zu mir kommen, denn solcher ist das Himmelreich“, und mit dieser Überschrift alle Schulstätten zu Pflanzstätten der Kirche weiht, soll nun die Religion wie ein überflüssiges Möbel aus der Schule ausgetrieben werden. Aber frei! frei! lautet nun einmal die Losung, und mit gebundenem Auge wird gelöst und getrennt, was mit wachem Auge, wenn der Taumel vorüber ist, vielleicht keiner wieder wird zusammenbinden können. Im Anfang ist ein gut Behagen, doch die Last, die muß das Ende tragen. Schon aus jenem Übermute und dieser Blindheit nehmt es ab, daß ein Volk sein wahres Glück verscherzt, das nach keiner andern Freiheit strebt als nach der bürgerlichen.

Nur die Freien, in deren Gewissen die Liebe Gottes am unbedingtesten herrscht, sind wahrhaft frei. Das ist‘s, was der Ausspruch sagt: wer Sünde thut, der ist der Sünde Knecht. Eine Freiheit, die den Menschen wahrhaft frei und wahrhaft glücklich macht, giebt‘s in dem Maße nur, als die Sünde stirbt, und wahrhaft absterben kann die Sünde nur, wo Gottes Liebe zu Kräften kommt. Gott dienen ist die höchste Freiheit, in dem Worte des Kirchenvaters Augustin habt ihr das Geheimnis der wahren Freiheit aufgeschlossen. Wann nämlich ist ein Mensch frei? Werdet ihr nicht sagen müssen: wenn nichts ihn hemmt, seine wahre Bestimmung zu erreichen. Ist nun das die Freiheit im höchsten Sinn — was auch immer politische Freiheit dem Menschen gewähren kann, der tiefste Grund, warum wir Knechte bleiben, liegt da nicht. Es ist wahr und offenbar, daß es auch Schranken des bürgerlichen Lebens giebt, verkehrte Einrichtungen und Gesetze der Gesellschaft, welche die von Gott verliehenen Kräfte binden, statt sie zu lösen, den Menschen niederdrücken, statt ihn zu heben. Von solchen bürgerlichen Fesseln die Freiheit zu erringen, heißen wir darum ein Gut. Wenn die, welche Pietisten geschmäht werden, bloß weil sie Christen sind, das Evangelium recht verstehen, so sind sie wahrhaftig keine Freiheitsverächter; wißt ihr nicht, was Paulus den Korinthern zuruft: „Ihr seid teuer erkauft, werdet nicht der Menschen Knechte.“ Ein bürgerliches Gemeindewesen hat nämlich die Aufgabe, die Erfüllung menschlicher Bestimmung auf alle Weise zu fördern. Dazu haben Menschen Staaten gegründet; Staaten sind Leiber, und am Leibe dient jedes einzelne Glied dem andern zu seinem Bestande, zu seiner Wirksamkeit, zu seinem Wohlsein. So soll ein bürgerlicher Gemeindesinn dazu mithelfen — ich sage nur mithelfen, denn der gute Wille aller einzelnen gehört mit dazu — jedem, der arbeiten will, seinen Unterhalt zu verschaffen, denn, wo der Leib darben und siechen muß, kann der Geist nicht aufleben. Und dem Leibe soll seine Notdurft geschafft werden, damit der Geist die von Gott in ihn gelegten Triebe und Kräfte entwickele, auch das sollen die bürgerlichen Einrichtungen nach Kräften fördern. Und da endlich aller von Gott in uns gepflanzten Triebe höchster der Trieb nach Gott ist, und alle menschliche Bestimmung ihre Spitze darin erreicht, ein Mensch Gottes zu sein, so kann auch ein Staat keine höhere Aufgabe und kein höheres Ziel für sich erkennen, als die Religion unter seinen Bürgern zu pflegen und zu pflanzen. Zu den Freiheitslosungen dieser Zeit, die von einem Munde zum andern sich fortpflanzen, gehört freilich auch die von Trennung von Kirche und Staat, und wir wissen es, daß manche von den Herzen, die für Christum am wärmsten schlagen, nach ihr verlangen. Soll nun damit nichts anderes gemeint sein, als die Unabhängigkeit der Kirche von weltlichem Regiment, so wollen wir eine solche wohl willkommen heißen, zumal jemehr eine Kirche schon gekräftigt genug ist, im Geiste des Herrn sich selbst zu erbauen. Wo es aber die Gleichgültigkeit meint des Staats gegen die Äußerung des edelsten der menschlichen Triebe, gegen die Religion, da ist es ein Verrat an der edelsten seiner Aufgaben. Geradezu kämpfen darum müßten gute Bürger, daß der Staat, der Ackerbau pflegt und Schiffahrt, Kunst und Wissenschaft, doch die Pflege des Gutes nicht vergesse, das höher ist als sie alle, der Religion. So ist denn — das wollten wir nur aussprechen — bürgerliche Freiheit zu erlangen allerdings ein Gut, wo bürgerliche Einrichtungen so beschaffen sind, daß sie den Menschen hemmen und beschränken, seine wahre Freiheit zu erlangen. Ist aber der Gipfel aller menschlichen Bestimmung darein gefaßt, ein Mensch Gottes zu werden, o sagt, wie sollte unsere wahre Freiheit schon damit erlangt werden, daß alle äußeren Schranken und Hemmnisse fallen? Was wir aber besonders fürchten, daß gerade, indem jetzt die Blicke sich auf keine andere Freiheit richten, als auf die von bürgerlichen Schranken, die Freiheit nur desto mehr aus den Augen verloren werde, welche der Sohn Gottes uns im Worte seiner Wahrheit geben will. Schon vertritt für große Haufen die Rednerbühne die Stelle der Kanzel, Volksversammlungen sind ihre Gottesdienste geworden, und der Staat der Götze, vor dem sie ihre Kniee beugen. Fort mit dem Gotte über uns und den Jenseitigkeiten vor uns! So wohl muß es dem Volke noch im Staate auf Erden gemacht werden, daß es keinen Himmel mehr zur Seligkeit braucht. Ihr Thoren! Disteln säet ihr und wollt Feigen ernten, Basiliskeneier brütet ihr und wollt euch wundern, wenn die Ottern euch anzischen? Baut nur, baut eueren gottvergessenen Staat! Was Gott nicht baut, das geht zugrund, wenn‘s gleich auf eh‘rnen Mauern stund. Ein solcher Staat ohne Gottesfurcht kann nicht heilsam bestehen. Er ist ohne Demut, und wo keine Demut, da keine Unterordnung, und ohne Unterordnung keine Ordnung. Wo keine Gottesliebe, da ist keine reine Menschenliebe, und wo die nicht ist, da ist Egoismus. Dünkel und Eigennutz, Wind haben sie gesäet, Sturm werden sie ernten. Wo Gottes Liebe nicht im Menschen herrscht, da herrscht die Sünde, und wer der Sünde dient, der ist der Sünde Knecht. Könige haben sie mit Ruten gezüchtigt, Diktatoren und Despoten, vom Dünkel und eignen Vorteil getrieben, werden an ihre Stelle treten und sie mit Skorpionen geißeln. Thoren, wenn nur die bürgerlichen Einrichtungen besser werden, dann, meint ihr, soll die Erde zum Paradiese werden? Das ist die Thorheit des Fieberkranken, der den innern Brand loszuwerden hofft, wenn man ihn nur an eine kühlere Stelle legte. Doch wäre es auch, daß ihr euch hier auf Erden ein Haus gebaut hättet, ganz nach eueren Wünschen, vergängliche Häuser sind doch alle irdischen Staaten und Ordnungen; in einem Paradiese, das vergänglich ist, kann aber des Menschen Herz nicht satt und voll werden. []

Quelle: A. Tholuck’s Ausgewählte Predigten, herausgegeben von Leopold Witte. Gotha: Friedrich Andreas Perthes, 1881, S. 230–33, 240–43, 273–75, 276–83.