Kurzbeschreibung

In den 1870er Jahren war in den meisten ländlichen Gebieten Deutschlands die Mechanisierung noch wenig entwickelt; daher folgte die Landarbeit weiterhin sehr eng dem Jahreszyklus: lange Arbeitstage auf dem Feld im Sommer wechselten sich mit Arbeiten im Haus während der Wintermonate ab. Der Anbau und die Verarbeitung von Flachs spielte eine bedeutende Rolle als bäuerlicher Zusatzverdienst und zur Sicherung einer ständigen Beschäftigung der Landarbeiterinnen. Die Schilderung zeigt, wie Arbeit und Freizeit in vielen ländlichen Haushalten ihren festen Stellenwert hatten.

Flachsanbau in der Lüneburger Heide (1870er Jahre)

  • Heinrich Lange

Quelle

Maschinen gab es damals in der Landwirtschaft noch nicht oder nur vereinzelt. Um Arbeitskräfte für den Sommer zu haben, mußten sie auch im Winter beschäftigt werden, und das war möglich, da man nicht nur für das Essen zu sorgen hatte, sondern auch für die Kleidung. Der Flachs und seine Bearbeitung spielte im Kreislauf des Jahres eine bedeutende Rolle. Im Frühjahr wurde der Leinsamen gesät; auch jede Vollmagd erhielt ihr Spinnt, ein Hohlmaß, mit ausgesäet als einen Teil des Lohnes. Kaum ist er aufgegangen, so wird das Unkraut ausgejätet, in der Regel zweimal. Der hochgewachsene Stengel trägt kleine blaue Blümchen, aus denen sich die runden Fruchtkapseln entwickeln. Gereift wird der Flachs aufgezogen, mit den Wurzeln in Bünde gebunden und eingefahren. []

Der feine Flachs [] wurde mit dem doppelten Spinnrad, dem zweispilligen, gesponnen, wo jede Hand einen Faden zu führen hatte, dann gespult und auf dem Scherrahmen als Aufzug oder Kette vorbereitet, zum Teil auch die Fäden auf kleine Spülchen gespult und als Schuß oder Einschlag beim Weben verwendet. Es wurde aber auch Wolle oder Baumwolle als Einschlag benutzt, je nachdem Leinwand, Dreikamm oder Fünfkamm zur Kleidung hergestellt werden sollte. Der Schneider kam mit seinem Gesellen oder Lehrling ins Haus und fertigte daraus die Anzüge. Ein altes Sprichwort heißt: „Selbstgewonnen, selbstgesponnen ist die beste Bauerntracht.“ Damals hatten selbst große Bauern selten mehr als einen „lakenschen“, d. h. Tuchanzug, der nur angezogen wurde, wenn sie mit ihren Frauen zum Nachtmahl oder Abendmahl gingen. []

In den alten bemalten Truhen und Laden aber lag der Stolz der Hausfrau, „dat wiete Linnen“ und „der brömmelken Drell“ (Drillich mit Brommbeermuster). Der Wert eines Mädchens wurde geschätzt nach der gerollten Leinwand, die es im Koffer hatte; wurde doch ihre Leinaussaat mit dem der Hausmutter im Laufe des Jahres gemeinsam mit verarbeitet. So durchzog die Arbeit mit dem Flachs die Tätigkeit im ganzen Jahre. In einem ordentlichen Bauernhause mußte man zu Weihnachten mit dem Spinnen fertig sein, und zu Ostern mußten die Webtaue aus der Stube und Linnen auf die Bleiche kommen. Dann begann der Kreislauf mit der Aussaat des Leinsamens von vorne. []

Die Drechsler hatten dazu die Spinnräder, Haspel, Garnwinden, Spulen und Spülchen zu machen, waren also mit dem Werdegang der Leinwand in den Bauernstuben aufs engste verbunden, und gute Spinnräder zu machen ist schwieriger, als Säulen und Vasen zu formen. Die Bauerfrauen oder die Großmägde kamen deshalb alle persönlich in die Werkstatt, um ihre Wünsche, besonders bei Reparaturen, vorzubringen; hing doch ihre Leistungsfähigkeit sehr von der Beschaffenheit des Rades ab.

Kam der Herbst und die Kartoffeln und Rüben waren eingebracht, dann hieß es für die Knechte:

Bartolomäus ist gekommen,
Hat Vesper weggenommen,
Hat Dreschflegel mitgebracht,
Nun sollst du dreschen Tag und Nacht.

Für die Mädchen aber wurden die Spinnräder aus der Bodenkammer geholt, und nun ging es ans Spinnen. Großmutter und Jungmägde spannen Hede (Werg) mit einspilligen Rädern, jede Vollmagd aber und junge Frau spann Flachs mit dem Zweispilligen. Karl Marx sagt zwar im ersten Bande des Kapitals: „Menschen, die mit zwei Händen hätten spinnen können, habe es ebensowenig gegeben wie Menschen mit zwei Köpfen.“ In diesem Falle hat er aber nicht recht. Eine Magd, die nicht mit zwei Händen, d.h. mit zwei Spindeln hätte spinnen können, wäre bei keinem Bauern in Dienst genommen worden. Abends kamen die jungen Mädchen mit ihren Rädern reihum bei einem Bauer zusammen. Die sogenannten Spinnstuben waren etwas Schönes, es wurde dabei mancher lose Scherz ausgeheckt, aber auch manches gute Wort gesprochen und guter Rat erteilt, viel wurde gesungen. Beim Abfüttern des Viehes auf der Hausdiele wurden Pfänderspiele gemacht oder auch ein Tänzchen zur Ziehharmonika.

Quelle: Heinrich Lange, Aus einer alten Handwerksburschenmappe. Leipzig, 1925, S. 44–48; abgedruckt in Gerhard A. Ritter und Jürgen Kocka, Hrsg., Deutsche Sozialgeschichte 1870–1914. Dokumente und Skizzen. 3. Auflage. München: C. H. Beck, 1982, S. 183–85.

Flachsanbau in der Lüneburger Heide (1870er Jahre), veröffentlicht in: German History in Documents and Images, <https://germanhistorydocs.org/de/reichsgruendung-bismarcks-deutschland-1866-1890/ghdi:document-540> [07.11.2024].