Kurzbeschreibung

Selbst Ende des 19. Jahrhunderts lebte die Mehrheit der Deutschen in Orten mit weniger als 2.000 Einwohnern; die Landwirtschaft war weiterhin ein wichtiger Arbeitgeber, besonders im Osten. Diese Passage aus einem in den 1890er Jahren veröffentlichten Reformvorschlag zeigt, dass Landarbeit trotz zunehmender Mechanisierung lange Arbeitstage bedeutete und stark vom jahreszeitlichen Rhythmus abhing. Die verschiedenen Kategorien von Landarbeitern bekamen weit divergierende Arbeits-, Lohn-, Wohn- und Versorgungsbedingungen. Dieser Reformer meinte, dass die immer seltener werdende Integration der Landarbeiter in den bäuerlichen Haushalt eine moralische Bedrohung darstelle—insbesondere bei Wanderarbeitern, die man je nach Jahreszeit jenseits der deutschen Grenzen anwarb.

Kategorien ländlicher Arbeiter am Ende des neunzehnten Jahrhunderts

  • Ernst Fiedler

Quelle

Für eine rechte Würdigung der Gesindehaltung scheint uns vor allem der Umfang des landwirtschaftlichen Betriebes von hoher Bedeutung. Das zeigt auch die Statistik. In Südwestdeutschland findet sich am meisten Gesinde und deutet so darauf hin, daß diese Arbeiterkategorie heutzutage mehr für Betriebe paßt, wo der Wirtschafter in der Regel selbst mit arbeitet, wo das Gesinde mit dem Arbeitgeber noch zu Tische sitzt. Hier hält es der Bauernsohn auch nicht für seiner unwürdig, Knechtsstellung anzunehmen. Anders beim Großgrundbesitze. Hier ist das Gesinde in die Leutestube verwiesen. Die Zubereitung der Kost wird in der Regel einer angestellten Person überlassen. Kein Zweifel, daß unter solchen Umständen die Beköstigung des Gesindes oft sehr mangelhaft sein kann und in der That auch ist. Die Beköstigung der Dienstboten macht gegen 60% ihres Gesamteinkommens aus (Krämer). Das Gesinde legt deshalb auf die Kost gerade ein Hauptgewicht. []

So ist man denn dazu geschritten, oft durch die Unbescheidenheit und Roheit des jungen Volks gezwungen, ein bestimmtes Deputat auszusetzen, nach Gegend und Sitte verschieden, und die Verpflegung im Hause einer Arbeiterfamilie zu bewirken. Auch läßt man wohl die Beköstigung des Gesindes auf dem Hofe durch einen Speisemeister (Schweizer, Schaffer, Oberknecht) gegen fixe Naturalvergütung besorgen.

Durch dieses Vorgehen kann aber die hohe soziale Bedeutung der Gesindehaltung illusorisch werden, denn gerade in den Gegenden mit mehr bäuerlicher Bevölkerung, und hier ist die Möglichkeit Gesinde zu erhalten noch am größten, ist seine Stellung nur eine soziale Übergangsstufe, soll die häusliche Erziehung des jungen Arbeiters oder Bauern ergänzen und vervollständigen. Das ist nun sehr erschwert, wenn das Gesinde außerhalb des Hofes in einer Arbeiterfamilie beköstigt wird und bis auf die wöchentlich neu aufziehende Stallwache vielleicht nicht einmal auf dem Hofe selbst wohnt.

Ist aber der junge Knecht der Fürsorge eines wohlwollenden Dienstherrn während seiner freien Zeit auf die Dauer entrückt, so bleibt, wie das auch auf den großen Gütern Norddeutschlands deutlich hervortritt, der Gesindestand nicht das, was er war und sein soll. Er verkommt in Sittenlosigkeit mehr und mehr. Es ist so auch nicht zu verwundern, daß die Dienstherrn sich immermehr mit dem, wenn auch teureren, verheirateten Gesinde behelfen oder ständige Arbeiter heranziehen. []

Hier darf darauf hingewiesen werden, daß man an jene Gegenden, wo noch von morgens 5 oder 5½ Uhr bis Sonnenuntergang gearbeitet wird, also an die östlichen Provinzen nicht den Maßstab der Verhältnisse Mitteldeutschlands legen darf. Knecht und Magd haben hier den leichtesten Dienst von allen Gutsbewohnern. Zwar pflegt man zu rechnen: 3 Uhr Aufstehen und Pferdefüttern, 5½ Uhr Ausrücken, ½ Stunde Frühstückspause, 1½ Stunde Mittagspause, wo ½ Stunde für Ab- und Aufschirren, Pferdefüttern u.s.w. nicht zu viel gerechnet ist, ½ Stunde Vesperpause und 9 Uhr abends oder noch später Einrücken, dann Abfüttern bis 10 Uhr; das macht 18-19 Stunden mit 2 Stunden Ruhe. Also 16 bis 17 Stunden Arbeit und doch der angenehmste Dienst? Aber die Feldbestellung nimmt die Arbeitskraft der Leute an sich wenig in Anspruch, viele der Ackergeräte sind mit Sitzen versehen. Bei der Ernte reitet der Knecht auf dem Sattelpferde seines Viergespannes. Bei der Größe und dem relativ extensiven Betriebe der Güter sind die Wege vom Felde zum Hofe oft sehr weit. Soll aber der Knecht im Sommer beim Mähen z. B. mithelfen, dann braucht er seine Pferde nicht zu besorgen. Endlich hört man wohl von der langen Arbeitszeit im Sommer, von der Winterarbeit aber spricht niemand. In Mitteldeutschland beginnt im Winter die Arbeit früh 6 Uhr und endet auch 6 Uhr bei 3 Stunden Eßpausen. Auf den Gütern im Osten Deutschlands wird auch in den kürzesten Tagen des Winters von Sonnenaufgang bis Sonnenuntergang, also von 7½ Uhr morgens bis 4½ Uhr abends gearbeitet und dabei fällt höchstens die Vesperpause aus. Bei alledem scheint es freilich wünschenswert, daß im Osten die Arbeitsbedingungen leichter würden, wenn es auch nur wäre, um der Sozialdemokratie mit dem 17 und 18stündigen Arbeitstage ein wirksames Agitationsmittel zu entziehen. []

Der Instmann steht unstreitig in einer Art Gesindeverhältnis zu seinem Gutsherrn. Das Instmannswesen hat sich erst seit der Aufhebung der Erbunterthänigkeit und als eine Folge der Freizügigkeit entwickelt. Das Instmannsverhältnis ist ein Kontrakt mit der ganzen Familie des Insten. Er ist nicht als persönliches Gesinde, sondern für den Hofdienst gehalten. Das Instwesen trägt noch, wie man es genannt hat, die Eierschalen der Gutsunterthänigkeit an sich, denn der Inste ist der freien Konkurrenz des Arbeitsmarktes mehr oder weniger entzogen. Seine ganze Lage ist von der persönlichen Leistungsfähigkeit und der Willkür des Gutsherrn abhängig. Bei Instenhaltung befiehlt der Herr noch in aller Interesse ohne Schaden für das persönliche Ehr- und Pflichtgefühl des einzelnen. Denn gewöhnlich hat der Inste, um ein Beispiel anzuführen, das Recht auf die Haltung von einer Kuh, von 2 Schweinen, 2 Brutgänsen und ihrer Zucht, 5-6 Hühnern u.s.w. Er hat freie Wohnung und Heizung und hat Arzt und Arznei frei. Außer einem fixen Deputate an Kartoffeln und Getreide erhält er noch etwas Garten- und Kartoffelland im Gutsfelde. Der Inste ist durch das Dreschrecht befugt, das auf dem Gute gebaute Getreide gegen einen gewissen Anteil daran zu dreschen. Nicht selten übernimmt er auch die Erntearbeiten gegen einen bestimmten Teil des Ertrages. Dafür muß aber der Inste und seine Frau tagein tagaus zur Gutsarbeit kommen. Auch muß er noch eine dritte Arbeitskraft stellen, den sogenannten Scharwerker oder Hofgänger. Meist werden dazu die eigenen konfirmierten Kinder herangezogen oder ein Bursch oder Mädchen von 14-18 Jahren dazu gemietet. []

Nachteilig ist dem Instmanne allerdings seine große Gebundenheit. Der Inste hat keine Zukunft, er kann nichts anderes werden, als was er ist, und wenn er noch so treu Jahr für Jahr auf dem Gutshofe arbeitete. Wenn er auf dem einen Gute seine Stelle kündigt, so muß er auf dem nächsten die Arbeit unter ähnlichen Bedingungen wieder aufnehmen. Wir sehen, wie ungern der junge Arbeiter als Knecht dient. Die Instwohnung bietet ihm nun Gelegenheit früh zu heiraten. Der Hofgänger kommt dem Arbeiter immer teurer zu stehen und ist oft nur noch schwer zu erlangen.

Der konfirmierte Sohn eines Landarbeiters vermietet sich lieber, wenn er kräftig genug ist, als Klein- oder Hofknecht, als daß er als Scharwerker in den schlechten Instwohnungen bei geringem Lohne und oft auch schlechter Kost mit den Frauen zusammen auf dem Gutsfelde arbeitet. So ist es denn so weit gekommen, daß sich Agenten in Berlin damit beschäftigen von dort proletarische Existenzen, junge verunglückte Kaufleute und Handwerker, den Insten aufs Land zu schicken. Wie wertlos diese Arbeitskräfte sind, wie leicht durch sie sozialdemokratische Irrlehren aufs Land verpflanzt werden, braucht nicht weiter ausgeführt zu werden.

So liegt es im Interesse der Instleute, eine möglichst große Zahl Kinder in die Welt zu setzen, um aus der eignen Familie heraus immer Ersatz für den Scharwerkerdienst zu haben. Damit werden aber gleichzeitig eine große Zahl wirtschaftlich bedenklicher Existenzen geschaffen. []

Die Wanderarbeiter oder Sachsengänger endlich sind eine der jüngsten Einrichtungen der ländlichen Arbeitsverfassung. Ihre Existenz ist in der Eigenart des landwirtschaftlichen Betriebes begründet. Mit dem Aufblühen des Zuckerrübenbaues steigt der Bedarf an Arbeitskräften im Sommer gegen den des Winters unverhältnismäßig. [] Deshalb wurden hier schon bald vom Eichsfelde, von der Neumark und aus Schlesien für den Sommer Arbeiter herangezogen. Aber je mehr sich die Zuckerrübenindustrie ausdehnte, je größer wurde der Arbeiterbedarf und so kam es, daß jetzt in jedem Frühjahre große Scharen von Arbeitern nach den rübenbauenden Gegenden wandern, um nach der Ernte wieder in ihre Heimat zurückzukehren. []

Die Wanderarbeiterzüge bestehen meist aus 50-100 Mann starken Gesellschaften, die sich in den Abwanderungsgebieten z. B. in dem Warthebruche unter einem sogenannten Vorschnitter zusammenschließen, um die Rüben- und Erntearbeiten nach einem mit dem Vorschnitter vom Rübenbauer abgeschlossenen Vertrage gewöhnlich von Anfang April bis Ende November auszuführen. Diese Vorschnitter übernehmen in der Fremde dann meist die Stellung von Aufsehern über die von ihnen geworbenen Arbeitergesellschaften. Sie haben über ihre Leute oft eine sehr große Gewalt, besonders wenn ihnen die Verteilung der Arbeiten und die Lohnauszahlung allein überlassen bleibt. []

Die Wanderarbeiter erhalten neben dem Geldlohne gewöhnlich Handgeld, freie Reise und Wohnung, Heizung und 25 Pfd. Kartoffeln pro Person und Woche geliefert. Die Köchin wird meist den Leuten von der Herrschaft gestellt. Es ist gewöhnlich die Frau des Vorschnitters, wenn nicht das Mißtrauen der Leute diese oder eine ähnliche wirtschaftlich zweckmäßige Organisation zur Befriedigung ihrer Bedürfnisse unmöglich macht. Der Lohn ist nach Gegend und örtlichen Verhältnissen verschieden. [] Im allgemeinen wird es den thatsächlichen Verhältnissen entsprechen, wenn wir [] den Verdienst der Mädchen und Frauen auf 370-420 M. und den der Männer auf 495-580 M. schätzen. Jeder Wanderarbeiter erspart davon in einem Sommer mindestens 150 M., doch giebt es auch Leute, die bei einem Tagelohne von nur 1 M. 210 M. und mehr für den Winter zurücklegen. []

Trotz der für Preußen erlassenen Vorschriften finden wir auch hier noch die ledigen Leute oft in gemeinschaftlichen Wohn- und Schlafräumen im Schnitterhause vereinigt, und in sehr vielen anderen deutschen Staaten ist das noch fast allgemein der Fall. []

Überall, wo große Scharen Wanderarbeiter den Sommer über liegen, kann man beobachten, wie niedrig diese Leute in ihren sittlichen Begriffen stehen. Oft täuschen sich auch die Sachsengänger über die Herabdrückung ihrer Lebenslage während der Sommerszeit hinweg. Denn um tüchtig zu sparen ist ihre Beköstigung, namentlich wenn sie selbst dafür sorgen, oft völlig unzulänglich. Bei der unregelmäßigen Lebensweise liegt die Versuchung zum Trunke sehr nahe. Wie leicht aber nicht nur die polnischen und russischen Wanderarbeiter dieser Versuchung erliegen, das kann man bei beiden Geschlechtern an jedem arbeitsfreien Tage beobachten. Nichts aber zerstört die sittliche Kraft eines Menschen mehr als Konkubinat und übermäßiger Alkoholgenuß.

Quelle: Ernst Fiedler, Die Arbeiterfrage auf dem Lande und Vorschläge zur Reform des ländlichen Arbeiterwesens. Leipzig, 1898, S. 19–25, 37–41; abgedruckt in Gerhard A. Ritter und Jürgen Kocka, Hrsg., Deutsche Sozialgeschichte 1870–1914. Dokumente und Skizzen, 3. Aufl. München: C. H. Beck, 1982, S. 192–95.