Quelle
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Unmittelbar an diese Hochzeitsfeier reiht sich in meinem Erinnern das entscheidende und abschließende Ereignis dieser ersten Epoche.
Vater ist verreist. Er fährt manchmal zu Trauungen und Beerdigungen in kleine Nachbarorte, ist aber immer abends zurück. Diesmal soll er drei Tage fort sein, seine Abreise ist mit Geheimnis und Erregung umgeben, und Mutter bleibt in einer deutlichen Beklommenheit zurück. Dann kommt ein Telegramm, wird mit höchster Spannung aufgerissen, mit Entzücken verlesen. Die fünf Worte haften in mir für immer wie ein Schicksalsspruch: „Ging gottlob alles gut. Wilhelm.“
Das wichtigste der fünf ist „gottlob.“ Es hat Zeiten gegeben, in denen ich es für eine bis zur Gedankenlosigkeit mechanisierte Interjektion des Absenders hielt, auch aufrührerische Zeiten, in denen ich es als eine in Fleisch und Blut übergegangene Heuchelei auffaßte. Beides ist bestimmt unrichtig. Sicherlich hatten eigenes Denken und die positivistische Zeitströmung, dazu die sarkastische Skepsis seiner ältesten Söhne den Kinderglauben meines Vaters schon damals angetastet: Eine individuelle Unsterblichkeit, ein irdisch dekoriertes Jenseits wird es kaum noch für ihn gegeben haben. Doch ebenso gewiß ist das vermenschlichte Bild des persönlichen Schöpfers, des unbegreiflichen und strengen, im Grunde aber doch gütigen alten Herrn irgendwo über den Wolken niemals aus der Vorstellung seines Herzens verdrängt worden und hat ihn immer getröstet. Freilich – und das gibt erst dem frommen Stoßseufzer seines Telegramms die volle Berechtigung – freilich war sein religiöses Credo, gleich dem der gemäßigten Rationalisten unter den Aufklärern des achtzehnten Jahrhunderts, mit diesem einen Punkt des Glaubens an den persönlichen Gott völlig erschöpft. Die jüdische Religion war ihm lieb, weil sie keinen Wunderglauben von ihm forderte. Was sie ihm aber an äußeren Bindungen, als Festriten und Speisegesetze, auferlegte, das empfand er als sinnlos gewordene Überbleibsel eines früheren Menschheitsstadiums und als lästige Fessel. Und diese Fessel mußte ihn in Bromberg ungleich ärger scheuern als vordem in Landsberg. Landsberg lag in der Provinz Brandenburg, dort war er der „Prediger Dr. Klemperer“ gewesen. Bromberg lag in der Provinz Posen, es hatte wesentlich östlichere Verhältnisse. Hier war er der Rabbiner einer polnisch angehauchten Gemeinde, von den deutschen Mitbürgern abgetrennt, von den Mitgliedern seiner Gemeinde zur Orthodoxie gezwungen und in seiner Orthodoxie überwacht. Ich sehe Vater in der Küche, mit der linken Hand hält er einen Gänsemagen dicht unter die kurzsichtigen Augen, mit der rechten ein stocherndes Taschenmesser, das gewöhnlich zum Köpfen der Zigarren dient. In dem Magen steckt ein Nagel, deutlich blinkt die Spitze durch die Außenwand. Ist der Magen durchbohrt, so gilt die Gans als unrein und darf nicht gegessen werden. Eine armselige Frau wartet ängstlich auf die Entscheidung des Rabbiners. Vater stochert, er besieht den Magen, er besieht die Frau, er entfernt den Nagel, er scheint sehr tief nachzudenken, er entscheidet mit tiefstem Ernst: „Sie dürfen die Gans ruhig auf den Tisch bringen, liebe Frau, Gott hat nichts dagegen.“ Und die Frau zieht beglückt ab. Das ist mir eine liebe Erinnerung. Weniger lieb ist mir eine andere. Den ganzen Versöhnungstag über hat der strenggläubige Jude zu fasten, nicht nur behaglich bei Fisch und Mehlspeise wie der Katholik, sondern wirklich zu fasten, ohne einen Bissen noch einen Tropfen. Wenn er den ganzen Tag über betend im Gotteshaus verharrt, wird er am ehesten mit seinem Hunger fertig. Vater ist ein kräftiger Mann, ein starker Esser. Er hat an diesem Tag zweimal zu predigen, er hat viele Gebete laut zu sprechen; soll er seine Aufgabe mit wirkungsvoller Eindringlichkeit zu entschiedener Erbauung der Gemeinde durchführen, so muß er gut beisammen, oder um es ganz deutlich zu sagen, so muß er in Form sein. Er nimmt also am Morgen im verschlossenen Zimmer ein nachhaltiges Frühstück zu sich. Nur Mutter darf das wissen – aber natürlich wissen es die Kinder auch. Wie oft habe ich mich in früheren Jahren hierüber sittlich entrüstet! Ich bringe diese Entrüstung längst nicht mehr auf; ich wünschte, ich brauchte keinem Menschen schlimmere Sünden nachzusagen als meinem Vater. Die Orthodoxie der Gemeinde aber bedeutet für ihn nicht nur eine Fessel und innere Qual, sondern auch in steigendem Maße eine Gefahr. Er ist des Liberalismus verdächtig, und seine Söhne, für deren Erziehung er verantwortlich ist, führen in Berlin – das weiß man natürlich – kein frommes Leben. Die Vita vor Georgs Doktordissertation beginnt mit den Worten: „Ich bin als Sohn eines Landgeistlichen geboren.“ Das ist eine Verschleierung des Judentums und läßt Schlimmes erwarten. Noch nehmen die Söhne auf Vaters Stellung einige Rücksicht; aber wie lange wird man sich in Bromberg mit dieser bloßen und fadenscheinigen Rücksichtnahme begnügen?
Und nun hatte sich für Vater eine Möglichkeit aufgetan, der äußeren und inneren Bedrängnis zu entkommen. Eine blendende Möglichkeit, aber auch die gefährlichste. In Berlin gab es eine in Deutschland und, wenn ich nicht irre, in der Welt einzigartige jüdische Kultgemeinschaft. Das war die seit 1840 bestehende jüdische Reformgemeinde, von ihren Mitgliedern und ihren Gegnern meist kurz „die Reform“ genannt. Hier hat der Wille zum Deutschtum seinen radikalsten Ausdruck gefunden, hier ist nur der religiöse Kern des Judentums bewahrt, er ganz allein – die Strenggläubigen sagen, hier ist das Judentum vernichtet. Der Gottesdienst findet bis auf wenige Worte in deutscher Sprache, er findet am Sonntag, nicht am Sonnabend statt, die Gebete sind alle deutsch, die Orgel spielt zum deutschen Chorgesang. Die Betenden sitzen ohne Kopfbedeckung, Männer und Frauen beisammen. Der Knabe wird nicht mit dreizehn Jahren unter die Männer der Gemeinde aufgenommen, sondern Mädchen und Knaben werden als Fünfzehn-, Sechzehnjährige gemeinsam am Ostersonntag eingesegnet. Das Fahr- und Schreibverbot der Sabbatheiligung und alle Speisegesetze fallen fort. In nichts, wirklich in gar nichts will man von deutscher Sitte abweichen. Die Reformgemeinde war nur klein, aber sie bestand fast ganz aus Angehörigen der Oberschicht, reichen und gebildeten Großkaufleuten, Ärzten, Anwälten, Wissenschaftlern aller Fächer. Die Gemeinde mußte auch notwendigerweise klein bleiben, ja ich frage mich, wie sie überhaupt ein Jahrhundert existieren konnte, bis sie im Dritten Reich sinnlos wurde und zusammenbrach. Denn es fehlte ihr am natürlichen Nachwuchs, weil die Kinder ihrer Mitglieder sich gar zu oft mit Christen verheirateten oder selber zum Christentum übertraten. So versteht es sich, daß die Reform allen orthodoxen Juden als eine Ketzergemeinschaft erschien; wahrhaftig klaffte ja der Spalt zwischen ihnen und diesen Abtrünnigen breiter als zwischen Protestanten und Katholiken. Offiziell und in einigen administrativen Punkten mochte die Reform ein selbständiger Annex der „Großen jüdischen Gemeinde“ in Berlin sein, in Wahrheit war sie doch ein ganz isoliertes Gebilde, das von den übrigen Juden im günstigsten Fall mit Achselzucken betrachtet wurde. Auf dem allgemeinen jüdischen Friedhof im nördlichen Vorort Weißensee gibt es eine Ehrenreihe für die Gräber der Geistlichen: in diese Reihe wurden die Prediger der Reform nicht aufgenommen. Und wenn sie bei Lebzeiten ihr Amt hätten verlassen wollen, so hätten sie nie eine andere Kanzel gefunden.
Bei dieser Kultgemeinschaft also mit dem rein deutschen Kult hatte sich Vater um die Stelle des zweiten Predigers beworben. Bekam er sie, so war sie für ihn die Erlösung aus aller Not und die reine Seligkeit – mindestens konnte er damals nicht wissen, daß es die reine Seligkeit nun doch nicht sein würde; bekam er sie nicht, so war er geächtet und mochte sehen, wie und wo er sich eine neue Existenz aufbaute. Er war aber damals schon über fünfzig Jahre alt, paßte in keinen andern Beruf als den seinen und trug noch Verantwortung für fünf unversorgte Kinder. Sein Leben lang ist mir Vater als ein schwankender, oft allzu opportunistischer Charakter erschienen. Heute weiß ich, wie tapfer er um seines Ideals willen im entscheidenden Augenblick seine bürgerliche Existenz aufs Spiel gesetzt hat. Ich habe in meinem eigenen Leben trotz des bißchen Flandern nichts Ähnliches aufzuweisen. Ich habe im Jahre 1933 unter sophistischer Beruhigung meines klarsehenden Gewissens der Regierung Hitler den Treueid geschworen, ich habe an meinem gemein gewordenen Amt geklebt, bis man mich hinausgeworfen hat – und ich sollte über Vaters Frühstück am Versöhnungstag zu Gericht sitzen?
Er war, wie gesagt, von stattlicher Erscheinung, er war ein prachtvoller Kanzelredner gerade für ein gebildetes Publikum, reich, wenn nicht an eigenen Gedanken, so doch an ungemeiner, geschmackvoll verwendeter Belesenheit, die Worte strömten ihm mühelos, sein tragendes Organ war biegsam und umfassend: So wurde er denn gewählt und telegraphierte sein „Gottlob“ aus tiefstem Herzen.
Ist mir dies alles erst nach Jahrzehnten klar geworden, so wurde mir noch am Abend des Telegrammes die Wendung in unserm Leben auf sehr eindringliche Weise verdeutlicht, auf die eindringlichste für ein Kind und wohl auch für die meisten Erwachsenen. Wir gingen, wenn ich Mutter bei ihren Einkäufen begleitete, regelmäßig auch zum Fleischer mit den hebräischen Buchstaben am Schaufenster. Es war ein großer, sauberer Laden; Frau Bukofzer, eine dicke, blasse junge Frau mit herzkrank vorquellenden, übergroßen dunklen Augen, hatte beim Bedienen immer ein freundliches Lächeln für mich, das Fleisch und die Wurst von Bukofzers schmeckten ausgezeichnet. Dennoch verband sich für mich mit diesem Laden ein ständig auftauchendes peinliches Bild aus den ersten Bromberger Tagen. Damals war ich durch einen Zufall für einen Moment in den Hof des Gemeindehauses geraten, als der Kultusbeamte gerade ein paar Hühner schlachtete. Er hob die Tiere hoch, schnitt sie rasch in die Kehle und ließ sie fallen; sie liefen schwankend, flatternd, blutend ein paar Schritte, kippten um, zuckten mit den Flügeln, lagen still, zuckten noch einmal mit den Krallen und lagen endgültig still. Es ging sehr rasch. Ich habe später ganz ähnliches Geflügelschlachten auf einem Bauernhof gesehen, es ist mir auch oft erklärt worden, daß alles Schächten kein grausameres Töten bedeute als das christliche Schlachten. Trotzdem verbindet sich mir von jenem ersten und einzigen Anblick rituellen Schlachtens an mit dem Begriff des Schächtens etwas besonders Widerwärtiges, und darunter litt denn auch ein wenig Bukofzers Geschäft. (Während mir die bluttropfend hängenden Rebhühner und Hasen und die armen Teufel der jämmerlich durcheinanderkrabbelnden Hummer bei Emil Mazur nicht den geringsten Schauder einflößten.) Am Spätnachmittag des Telegrammtages nun – es war schon ganz dunkel – gingen wir nicht wie sonst zu Bukofzer, sondern in eine fremde Straße, in einen fremden Schlächterladen ohne hebräische Buchstaben. Mutter sah sich vorsichtig um, ehe sie eintrat, sie verlangte mit etwas gezwungener Haltung, etwas erregter, deutlich beherrschter Stimme „gemischten Aufschnitt, von jeder Sorte ein bißchen“, sie ging stolz und eilig hinaus. Gleich beim Auspacken in der Küche aß sie ein Stückchen aus dem Paket und gab auch mir davon zu kosten. Es schmeckte kaum anders, weder besser noch schlechter als die gewohnte Wurst. Aber Mutter nahm den Bissen mit einer gewissen Verklärtheit in den Mund. „Das essen die andern“, sagte sie, „und das dürfen wir nun auch essen.“ Es war wohl viel bloße Neugier im Spiel, auch Freude am bisher Verbotenen, Trotz und Eitelkeit; aber darunter war es gewiß auch etwas Größeres, was sie damals empfand.
Quelle: S. 38–44 (in
Auszügen)
aus: Victor Klemperer.
Curriculum vitae. Erinnerungen
1881–1918. Hrsg. von Walter
Nowojski. Band 1. Aufbau-Verlag, Berlin 1996
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