Kurzbeschreibung

Vor der Einführung der Kranken-, Unfall, Invaliditäts- und Altersversicherung durch Bismarck in den 1880er Jahren konnten plötzliche Unglücksfälle unmittelbares Elend—und möglicherweise langfristig den sozialen Abstieg—für die Arbeiter und ihre Familien bedeuten. Der folgende Briefwechsel befasst sich mit den Folgen eines Arbeitsunfalls für einen Hamburger Schuhmacher. Er unterstreicht die psychischen und materiellen Folgen, die sich aus der Notwendigkeit ergaben, bei einem örtlichen Würdenträger um eine niedere Arbeit zu bitten, die dem Schuhmacher viel weniger als sein früheres Einkommen einbrachte, für die Familie aber dennoch lebensnotwendig war.

Ein Arbeitsunfall: Das Hilfegesuch eines Hamburger Schuhmachers und die Antwort eines Senators (1883/84)

  • W. Huthmann
  • Herr Versmann

Quelle

22. August 1883

An den Hochedlen und Hochweisen Herrn Senator Versmann,

Da meine Frau bei dem Herrn Senator gewesen ist und hat mit dem Hochweisen Herrn Senator gesprochen wegen meiner Angelegenheit, nämlich um einen kleinen Posten oder eine kleine Anstellung möchte ich dem Herrn Hochweisen Senator darum ersuchen und herzlich darum bitten. Denn ich habe bereits ein ganzes Jahr auf dem Krankenhaus zugebracht und erst Weinacht wieder bei meiner Familie nun ist meine Kundschaft gänzlich etwas abhanden gekommen so daß ich in der größten Noth bin. Deshalb lege ich mich ganz in dem Hochweisen Herrn Senator in die Hände und hoffe auf des Herrn Senators Gutheit und bitte recht herzlich den Hochweisen Herrn Senator um eine kleine Stellung so daß ich so eben meine Familie ernähren kann.

Es bittet Ergebenst,
W. Huthmann

Ergebnis der behördlichen Erkundigungen. Aufzeichnung vom 22. August 1883

Der ergebenst Unterzeichnete [ein Schutzmann der Kriminalpolizei] begab sich heute Nachmittag in die Wohnung des Petenten Huthmann und erfuhr über die persönlichen Verhältnisse desselben das folgende:

Huthmann, welcher das umstehende Gesuch selbst verfaßt und geschrieben hat, ist geborener Hamburger, 53 Jahre alt, seit 31 Jahren Bürger, verheirathet und hat eine Tochter von 16 Jahren. Er ist gelernter Schuhmacher, hat aber 18 Jahre als Arbeitsmann1 in der Lauensteinschen Wagenfabrik gearbeitet. Hier trug er in Folge eines Unglücksfalls eine schwere Verletzung am Bein davon, die ihn für die Zeit eines Jahres, bis letzten Weihnachten auf das Krankenlager warf. Seitdem er wieder arbeitsfähig ist, ist er zu seinem alten Gewerbe, der Schuhmacherei, zurückgekehrt und erwirbt den Unterhalt für seine Familie kümmerlich durch Flickarbeit, die er von einem anderen Schuhmacher zugewiesen erhält. Sein Gesundheitszustand ist jetzt sehr gut, das beschädigte Bein hat eine geringe Verunstaltung davon getragen, die ihn aber nicht am Gehen hindert.

Bei Lauenstein hat er einen Wochenlohn von 12-15 M verdient, und hofft, durch die erbetene Anstellung auf einen wöchentlichen Verdienst von 12-14 M. Auf die Frage, wie oder wo er sich eine solche Anstellung denke, vermochte er keine klare Antwort zu ertheilen. Eine Unterstützung aus öffentlichen Mitteln hat er nie in Anspruch genommen.

Die Frau des Huthmann trägt ein Geringes durch Reinmachen zum Familienunterhalt bei; die Tochter ist bei fremden Leuten.

Die kleine Wohnung der Familie Huthmann kostet M 140 jährlicher Miethe; die Bewohner machen den Eindruck ordentlicher Leute.

[Versmann, der am 22. August 1883 die Erkundigungen angeordnet hatte, regte am folgenden Tag Huthmanns Beschäftigung als „Veteran der Baudeputation“ an – von der Armenverwaltung ausgewählte alte oder körperbehinderte Männer, die von der Bauverwaltung mit leichter Arbeit beschäftigt wurden und 1886 einen Tagelohn von 1,20 M. erhielten. Wohl wegen dieses niedrigen Lohns erklärte Huthmann im September „sich die Sache überlegen zu wollen.“ Am 17. November 1883 fragte der zuständige Oberingenieur F. Andreas Meyer bei Versmann an, „ob Sie etwa noch für den alten Mann, der sich nicht wieder sistiert hat, aber doch sehr nothleidend zu sein scheint, etwas thun wollen, da wir ihn gern unter die Veteranen aufnehmen wollen.“ Am 18. November 1883 ordnete Versmann an, die Angelegenheit ruhen zu lassen, bis sich Huthmann wieder melde[1].]

28. Februar 1884

Herrn Senator Versmann,

Sie müssen mir Entschuldigen da ich sie nochmals belästige da sie mir 1883 die Stellung zum fegen haben zu kommen lassen, da befiel ich wieder mit mein Bein so daß ich stille daniederlag. Und jetzt bin ich so gut mit das Bein daß ich gut laufen kann Und habe mich jetzt 1884 gemeldet bei Herrn Vorsteher und bin auch zu der Versammlung gewesen nämlich für die Herren da wurde mir gesagt wie alt ich war da gab ich sie zu Antwort 55 Jahre da sagen sie da wäre noch viel zu jung das wäre ein Posten der Leute die über 60 Jahre wären als so bin ich gänzlich abgewiesen geworden nun möchte ich den Herrn Senator bitten um Recht und Beistand, da ich den ganzen Winter nichts zu thun habe und meine Frau hat auch nichts so daß wir manchen Tag nichts zu Essen gehabt haben.

Es bittet und ersucht den Herrn Senator,
Ergebenst W. Huthmann.

[Versmann empfahl am 10. März 1884 die Berücksichtigung des Antrags, worauf offenbar Huthmanns Anstellung erfolgte[2].]

Anmerkungen

[1] Kommentar aus Jens Flemming, Klaus Saul und Peter-Christian Witt, Hrsg., Quellen zur Alltagsgeschichte der Deutschen 1871–1914. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft, 1977, S. 172.
[2] Kommentar aus Flemming, Saul und Witt, Hrsg., S. 173.

Quelle: Staatsarchiv Hamburg, Baudeputation, B 284; abgedruckt in Jens Flemming, Klaus Saul und Peter-Christian Witt, Hrsg., Quellen zur Alltagsgeschichte der Deutschen 1871–1914. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft, 1977, S. 171–73.

Ein Arbeitsunfall: Das Hilfegesuch eines Hamburger Schuhmachers und die Antwort eines Senators (1883/84), veröffentlicht in: German History in Documents and Images, <https://germanhistorydocs.org/de/reichsgruendung-bismarcks-deutschland-1866-1890/ghdi:document-584> [07.11.2024].