Quelle
I. Eugen Richter über Bismarcks Regierungssystem (März 1890)
Die Entlassung des Reichskanzlers Fürsten Bismarck ist vollendete Tatsache. Gott sei Dank, daß er fort ist! so sagen wir heute ebenso aufrichtig, wie wir ihm gegenüber stets gewesen sind. Es wäre ein Segen für das Reich gewesen, wenn er schon viel früher beseitigt worden wäre. Nicht um der Person willen sagen wir dies, sondern wegen des Regierungssystems, welches Fürst Bismarck befolgte. […]
Es ist unsere innerste Überzeugung, daß eine Fortsetzung der bisherigen inneren Politik, wie sie namentlich seit 1877 begonnen, nach einem ebensolchen Zeitraum tatsächlich Deutschland in den Abgrund geführt haben würde. Daß bei den letzten Wahlen die deutsche Bevölkerung sich zu einem Fünftel zu einer republikanischen Partei bekannt hat, ist in der Hauptsache die Frucht des Bismarckschen Regierungssystems, welches nur zu sehr geeignet war, die Sozialdemokratie bald mittels dargereichten Zuckerbrotes, bald mittels der angewandten Peitsche künstlich großzuziehen. Dazu sind die konfessionellen Gegensätze verschärft worden, nach der einen Seite durch den mittels Polizei und Strafbestimmungen geführten kirchenpolitischen Kampf, nach der anderen Seite durch das Verhalten des Kanzlers zu der Entstehung der antisemitischen Bewegung. Das gewaltige Emporwuchern der Interessenparteien, welche rücksichtslos die Ausbeutung der Staatsgewalt auf Kosten des allgemeinen Wohles erstreben, ist zurückzuführen auf die Schutzzollpolitik und jene Schutzzollagitationen, zu welchen der Kanzler persönlich in jeder Weise aufgefordert und angereizt hat. Die Verhetzung der politischen Parteien untereinander, die Verdächtigung der Vaterlandsliebe, das Absprechen des Patriotismus für jeden politisch Andersdenkenden ist die Folge einer durch den Welfenfonds korrumpierten Presse und des Tones, welchen die Kanzlerpresse stets angeschlagen hat gegen alle, welche einmal andere Ansichten bekundeten als der Kanzler.
Nur die falsche Politik des Kanzlers hat das Anschwellen der Steuerlasten des Reiches in den letzten zehn Jahren um nahezu 400 Millionen, und zwar vorwiegend zuungunsten der minderwohlhabenden Klassen verschuldet. […]
Die Volksvertretung wurde stets in der rücksichtslosesten Weise behandelt und in ihrem Ansehen herabgewürdigt, so oft sie dem Kanzler nicht zu Gefallen stimmte. […]
Erst eine spätere Generation wird ein vollkommen gerechtes Urteil über den Fürsten Bismarck fällen. Wir sind der Meinung, die Nachwelt wird seine 28 jährige Wirksamkeit in ihrer Gesamtheit weniger in den Himmel heben, als es die Mitwelt vielfach getan hat. Vor den Augen der letzteren kam voll und ganz zur Geltung, was er für die Einheit des Vaterlandes getan; aber wie seine falsche innere Politik an dem Volksleben gesündigt, das wird in seinem ganzen Umfang erst späteren Generationen zum vollen Bewußtsein gelangen, die noch unter den Nachwirkungen dieser Politik zu leiden haben werden.
Diejenigen Staatsmänner, welche die Erbschaft anzutreten haben, sind wahrlich nicht zu beneiden. Es wird noch gar vieles anders werden müssen im deutschen Reich, wenn es gelingen soll, die bösen Folgen einer langjährigen Mißregierung zu überwinden. Aber nachdem der blinde Autoritätskultus, den man mit der Person des Fürsten Bismarck getrieben, gegenstandslos geworden, wird man hoffentlich in allen Kreisen des Volkes die Schäden jener Politik schärfer als bisher erkennen. Vor allem hoffen wir, daß nunmehr in Deutschland überall wieder ein kräftiges, selbstbewußtes, politisches Leben erwacht. Statt in stumpfer Passivität hinzuhorchen, was von oben kommen wird, muß man sich wieder überall mit dem Gedanken durchdringen, daß das Volk selbst berufen ist, an seinem Geschicke mitzuarbeiten. Auf die Dauer wird kein Volk anders regiert, wie es regiert zu werden verdient.
Quelle: Freisinnige Zeitung, Nr. 68, 20. März 1890; abgedruckt in Gerhard A. Ritter, Hrsg., Das Deutsche Kaiserreich 1817–1914. Ein historisches Lesebuch, 5. Aufl. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 1992, S. 260–62.
II. Max Weber über „ein völlig machtloses Parlament“ (1917/18)
Was war infolgedessen – für die uns hier interessierenden Seiten der Sache – Bismarcks politisches Erbe? Er hinterließ eine Nation ohne alle und jede politische Erziehung, tief unter dem Niveau, welches sie in dieser Hinsicht zwanzig Jahre vorher bereits erreicht hatte. Und vor allem eine Nation ohne allen und jeden politischen Willen, gewohnt, daß der große Staatsmann an ihrer Spitze für sie die Politik schon besorgen werde. Und ferner, als Folge der mißbräuchlichen Benutzung des monarchischen Gefühls als Deckschild eigener Machtinteressen im politischen Parteikampf, eine Nation, daran gewöhnt, unter der Firma der »monarchischen Regierung« fatalistisch über sich ergehen zu lassen, was man über sie beschloß, ohne Kritik an der politischen Qualifikation derjenigen, welche sich nunmehr auf Bismarcks leergelassenen Sessel niederließen und mit erstaunlicher Unbefangenheit die Zügel der Regierung in die Hand nahmen. An diesem Punkt lag der bei weitem schwerste Schaden. Eine politische Tradition dagegen hinterließ der große Staatsmann überhaupt nicht. Innerlich selbständige Köpfe und vollends Charaktere hatte er weder herangezogen, noch auch nur ertragen. […]
Demgegenüber nun als ein rein negatives Ergebnis seines gewaltigen Prestiges: ein völlig machtloses Parlament. Er selbst hat sich bekanntlich dessen als eines Fehlers angeklagt, als er nicht mehr im Amte war und die Konsequenzen an seinem eigenen Schicksal erfahren hatte. Jene Machtlosigkeit bedeutete aber zugleich: ein Parlament mit tief herabgedrücktem geistigen Niveau. Zwar die naive moralisierende Legende unserer unpolitischen Literaten denkt sich die ursächliche Beziehung vielmehr gerade umgekehrt: weil das Niveau des Parlamentslebens niedrig gewesen und geblieben sei, deshalb sei es, und zwar verdientermaßen, machtlos geblieben. Höchst einfache Tatsachen und Erwägungen zeigen aber den wirklichen Sachverhalt, der sich übrigens für jeden nüchtern Denkenden von selbst versteht. Denn darauf: ob große Probleme in einem Parlament nicht nur beredet, sondern maßgeblich entschieden werden, – ob also etwas und wie viel darauf ankommt, was im Parlament geschieht, oder ob es nur der widerwillig geduldete Bewilligungsapparat einer herrschenden Bürokratie ist, stellt sich die Höhe oder Tiefe seines Niveaus ein.
Quelle: Max Weber, Parlament und Regierung im neugeordneten Deutschland. Zur politischen Kritik des Beamtentums und Parteiwesens. München und Leipzig, 1918; abgedruckt in Max Weber, Gesammelte politische Schriften, Hrsg., Johannes Wickelmann. 2. erweiterte Aufl. Tübingen: Mohr (Paul Siebeck), 1958, S. 307–08; abgedruckt in Gerhard A. Ritter, Hrsg., Das Deutsche Kaiserreich 1871–1914. Ein historisches Lesebuch, 5. Auflage. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 1992, S. 262–63.