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Der politische Horizont, der nach der Revolution im März so rosig aussah, verdunkelte sich bald. In Süddeutschland, wo sich die Auffassung verbreitete, die Revolution hätte nicht „vor den Thronen“ haltmachen sollen, ereignete sich ein republikanischer Aufstand unter der Führung des brillianten und ungestümen Hecker, der jedoch rasch mit Waffengewalt niedergeschlagen wurde. Zunächst stießen solche Versuche im ganzen Land auf wenig Verständnis. Der Großteil der Liberalen verlangte nichts weiter als die Herstellung der nationalen Einheit und einer konstitutionellen Monarchie „auf breiter demokratischer Grundlage“. Aber die republikanische Gesinnung verbreitete sich und nahm noch zu, als die „Reaktion“ immer bedrohlichere Formen annahm.
Die im Frühjahr gewählte Frankfurter Nationalversammlung, die die Souveränität des deutschen Volkes im weitesten Sinne symbolisieren und für die vereinigte deutsche Nation eine nationale Regierung abgeben sollte, wies unter ihren Mitgliedern sehr viele Männer auf, die sich weniger im Bereich der Politik, als in dem der Wissenschaft und der Literatur hervorgetan hatten. Rasch zeigte sich eine gefährliche Tendenz, die meiste Zeit, die für umgehende und entschlossene Schritte nötig war, wenn die legitimen Errungenschaften der Revolution vor feindlichen Kräften geschützt werden sollten, in brillianten, aber mehr oder weniger fruchtlosen Debatten zu vergeuden.
Aber unsere Blicke waren noch besorgter auf Berlin gerichtet. Preußen war bei weitem der stärkste unter den rein deutschen Staaten. Österreich-Ungarn war ein Konglomerat verschiedener Nationen – Deutsche, Ungarn, Slawen und Italiener. Die deutsche Bevölkerung, der die Dynastie und die politische Hauptstadt angehörten, war bisher dominierend gewesen. Obwohl sie in der Minderheit war, wies sie den höchsten Entwicklungsstand auf, was Kultur und Wohlstand betraf. Angestachelt von den revolutionären Bewegungen des Jahres 1848 strebten aber die Slawen, die Ungarn und die Italiener nach nationaler Autonomie, und obwohl Österreich in der Spätphase des ehemaligen Heiligen Römischen Reiches und dann nach den Napoleonischen Kriegen im Deutschen Bund den höchsten Rang innegehabt hatte, schien es zweifelhaft, ob ihm seine großen außerdeutschen Interessen jetzt gestatten würden, eine führende Rolle bei der politischen Einigung Deutschlands unter einer konstitutionellen Regierung einzunehmen. In der Tat stellte es sich in der Folge heraus, daß die gegenseitigen Eifersüchteleien der verschiedenen Rassen die österreichische Zentralregierung in den Stand versetzten, sie trotz des hoffnungsvollen Revolutionsbeginns eine nach der anderen ihrer despotischen Herrschaft zu unterwerfen, und daß in der Politik Österreichs und der Dynastie die außerdeutschen Interessen bestimmend waren. Preußen hingegen war, abgesehen von einem vergleichsweise kleinen polnischen Gebiet, ein rein deutsches Land, und gemessen an seiner Bevölkerung, der allgemeinen Bildung, der wirtschaftlichen Aktivität und insbesondere seiner militärischen Macht bei weitem der mächtigsten unter den deutschen Staaten. Allgemein herrschte daher die Meinung vor, daß die Haltung Preußens über das Schicksal der Revolution entscheiden würde.
Eine Zeit lang schien dem preußischen König Friedrich Wilhelm IV. seine Rolle als Führer der nationalen Bewegung, die ihm die Revolution hatte zukommen lassen, zuzusagen. Sein unbeständiger Charakter schien von neuer Begeisterung entflammt zu sein. Er ging auf den Straßen spazieren und sprach offen mit dem Volk. Er redete von konstitutionellen Regierungsprinzipien, die selbstverständlich eingeführt werden sollten. Lauthals pries er die edle Großherzigkeit, die ihm die Berliner in der Stunde der Bedrängnis erwiesen hatten. Er befahl der Armee, die schwarz-rot-goldene Kokarde zusammen mit der preußischen zu tragen. Auf dem Potsdamer Exerzierfeld erklärte er den beleidigten Gardeoffizieren, „daß er sich selbst gänzlich sicher, frei und glücklich mitten unter den Berliner Bürgern fühle; daß alle von ihm gemachten Zugeständnisse aus seinem eigenen freien Willen und seiner eigenen Überzeugung heraus gemacht worden seien und daß keiner es wagen solle, dies in Frage zu stellen.“ Aber als die preußische gesetzgebende Versammlung in Berlin zusammentrat und damit begann, Gesetze zu verabschieden, verfassungsmäßige Vorschriften zu entwerfen und im Geist der Revolution in das politische Tagesgeschäft eingriff, wurde die Gesinnung des Königs allmählich offen für andere Einflüsse. Diese Einflüsse gewannen Zugang zu ihm und hatten es um so leichter, ihn abzuschirmen, nachdem er seine Residenz von Berlin in sein Schloß nach Potsdam, eine kleine, in erster Linie von Höflingen, Soldaten und anderen Regierungsabhängigen bewohnte Stadt, verlegt hatte. Auf diese Weise wurde der direkte Kontakt des Königs zum Volk abgebrochen, seine Beratungen mit den neuernannten liberalen Ministern wurden auf kurze, formelle „Audienzen“ beschränkt, und die Stimmen, die die alten Sympathien, Voreingenommenheiten und Parteilichkeiten ansprachen, waren seinem Ohr stets am nächsten.
Da gab es die Armee, traditionsgemäß das Schoßhündchen der Hohenzollern, die unter „entehrenden“ Abzug aus Berlin nach den Straßenkämpfen litt und auf Rache und die Wiederherstellung ihres Ruhmes brannte. Da gab es den Hofadel, dessen Aufgabe seit jeher darin bestand, die Person des Königs zu bejubeln und ihr zu schmeicheln. Da gab es den Landadel, das Junkertum, dem seine feudalen Privilegien theoretisch im Geist der Revolution verweigert und praktisch durch die Gesetzgebung der Volksvertreter beschnitten worden waren und der geschickt den Stolz des Königs anstachelte. Da gab es die alte Bürokratie, deren Macht die Revolution gebrochen hatte, obwohl ihr Personal kaum verändert worden war, und die versuchte, ihren früheren Einfluß wiederzuerlangen. Da gab es den „alten preußischen“ Geist, dem jede nationale Bestrebung zuwider war, die die Bedeutung und die Selbstgefälligkeit des spezifischen Preußentums zu überlagern drohte und der in der unmittelbaren Umgebung Berlins und in einigen der östlichen Provinzen immer noch mächtig war. Alle diese Kräfte, die im Volksmund mit dem allgemeinen Begriff „die Reaktion“ bezeichnet wurden, arbeiteten zusammen, um den König von dem Weg abzubringen, den er direkt nach der Märzrevolution angeblich eingeschlagen hatte. Sie hofften, ihn für die weitestgehende Wiederherstellung der alten Ordnung benutzen zu können, wohl wissend, daß sie durch ihn die Armee und damit eine riesige, womöglich entscheidende Kraft in bevorstehenden Konflikten kontrollieren konnte. Und diese Reaktion wurde außerordentlich gestärkt durch die geschickte Ausnutzung einiger heftiger Straßenkämpfe, die in Berlin stattfanden, in einer exzessiven Form, die in einem freien Land wie England in der Tat vielleicht auch ein paar harte Repressionsmaßnahmen seitens der Polizei zur Folge gehabt hätten, aber mit Sicherheit niemanden dazu veranlaßt hätten, die Anwendbarkeit der bürgerlichen Freiheit und die konstitutionellen Regierungsprinzipien in Frage zu stellen. Aber diese Vorfälle wurden in Preußen mit beträchtlichem Erfolg dazu benutzt, der ängstlichen Bourgeoise das Gespenst allgemeiner Anarchie an die Wand zu malen und den König zu überzeugen, daß letzten Endes die Wiederherstellung uneingeschränkter königlicher Macht für die Aufrecherhaltung von Recht und Ordnung notwendig war.
Andererseits hatte die sichtbare Zunahme der Reaktion zur Folge, bei denjenigen, die ernsthaft für die nationale Einheit und eine konstitutionelle Regierung eintraten, eine Gesinnung hervorzurufen, die radikalen Tendenzen gegenüber aufgeschlossener war. Die Schnelligkeit dieser Entwicklungen war in meinem eigenen Umfeld deutlich zu spüren. Unser demokratischer Club setzte sich fast zu gleichen Teilen aus Studenten und Bürgern zusammen, unter denen sich viele exzellenten Charakters, einigen Vermögens, hohen Ansehens und gemäßigter Ansichten fanden, während ein paar andere sich in eine Gesinnung gesteigert hatten, ähnlich derjenigen der Terroristen in der Französischen Revolution. Kinkel war anerkanntermaßen der Anführer des Clubs, und ich wurde bald Mitglied des Vorstands. Zunächst hätte uns noch die Bildung einer konstitutionellen Monarchie mit allgemeinem Wahlrecht und gesicherten Bürgerrechten zufrieden gestellt. Aber die Reaktion, deren bedrohlichen Aufstieg wir beobachteten, ließ in vielen von uns allmählich die Überzeugung reifen, daß die Freiheit des Volkes nur in einer Republik gesichert war. Von hier aus war es nur ein Schritt zu der Schlußfolgerung, daß in einer Republik, und zwar nur in einer Republik, alle Übel der Gesellschaft geheilt werden könnten und die Lösung aller politischen Probleme möglich wäre. Den Idealismus, der in dem republikanischen Bürger die höchste Verkörperung menschlicher Würde sah, hatten wir durch unsere Studien der klassischen Antike gewonnen, und die Geschichte der Französischen Revolution bestätigte uns darin, daß auch in Deutschland eine Republik gegründet werden und im europäischen Staatensystem bestehen könnte. In dieser Geschichte entdeckten wir eindrucksvolle Beispiele für die Möglichkeit, das scheinbar Unmögliche zu erreichen, wenn nur die gesamte Kraft, die in einer großen Nation schlummerte, geweckt und mit unbeirrbarer Unerschrockenheit gelenkt wurde. Die meisten unter uns schreckten natürlich vor den wilden Exzessen zurück, die den nationalen Aufstand in Frankreich während der Schreckensherrschaft mit Strömen unschuldigen Blutes besudelt hatten, aber wir hofften, die nationalen Kräfte ohne derartigen Terrorismus entfachen zu können. In jedem Fall lieferte uns die Geschichte der Französischen Revolution eine Fülle von Vorbildern, die unsere Vorstellungskraft aufs äußerste erregten. Wie gefährlich und verführerisch ein solches Gedankenspiel ist, war uns damals natürlich nicht bewußt.
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Quelle: Carl Schurz, The Reminiscences of Carl Schurz, 3 Bde. New York: Doubleday, Page & Company, 1913, Band 1, S. 133–37.