Kurzbeschreibung

In seiner 1834 verfassten Analyse der Wirtschaftsprobleme in Deutschland sprach sich der Leipziger Staatswissenschaftler Friedrich Bühlau (1805–1859) für Freihandelslösungen statt Regierungsinterventionen zur Behebung von Stagnation, Armut und Produktivitätsdefiziten aus. Damit widersprach er insbesondere dem ärmeren Teil der Bevölkerung, der gegen den Abbau staatlicher Wirtschaftskontrollen war.

Friedrich Bülaus Ruf nach einer marktorientierten Lösung des Armutsproblems in Deutschland (1834)

  • Friedrich Bülau

Quelle

Übervölkerung und Nahrungslosigkeit

Malthus nahm an, daß die Masse der Subsistenzmittel der Bevölkerung nur bis zu einem gewissen Punkte und nur in einem untergeordneten Maße, die Bevölkerung selbst aber in einem viel schnelleren Grade einer Vervielfältigung fähig sei, folglich über kurz oder lang, sobald nicht widernatürliche Hindernisse der Bevölkerung entgegenwirken, in jedem Lande und zuletzt auf dem gesamten Erdboden ein Mißverhältnis zwischen diesen beiden Elementen, der Bevölkerung und der Produktion, stattfinden müsse. Nun leugnete er zwar nicht, daß die Natur den traurigen Folgen dieses Gesetzes der Verhältnisse Heilmittel entgegengestellt habe. Aber wie er die Erscheinung selbst mit den schwärzesten Farben malte, so erkannte er auch die Hilfe nur in unheilvollen Momenten. Des Gewitters, des Sturmes bedarf es, um die mit verderblichen Dünsten geschwängerte Luft zu reinigen. Not, Elend, Laster und Krankheiten wirken der allzu raschen Zunahme der Bevölkerung entgegen. Dem Übermaß hilft die Natur durch pestartige Seuchen, durch verheerende Kriege, durch Erdbeben, Überschwemmungen, Orkane, kurz durch furchtbare Umwälzungen, die in ihrem Charakter schrecklich und nur in ihren Folgen wohltätig sind, ab. Der Natur diese traurige Mühe zu ersparen und auf friedlicherem Wege das von ihr gewünschte Gleichgewicht zu erhalten, dazu schlug Malthus wohl Mittel vor, aber Mittel, von denen er wohl selbst kaum eine ausreichende Wirkung erwartete und gegen deren Rechtlichkeit und Zweckmäßigkeit triftige Einwendungen nicht fern liegen. Er wollte eine moralische Kraft dem physischen Triebe entgegensetzen, die Vernunft und den Egoismus zu dem freiwilligen Entschlusse vereinigen, einer unbedachten Vermehrung ihres Geschlechts zu entsagen. Gegen die Ehen der Armen waren seine Vorschläge gerichtet. Zwar — und hier sprach der Brite — sollte keinem die Eingehung einer Ehe versagt sein, aber der Schließung jedes ehelichen Bundes eine feierliche Darstellung der bedenklichen Aussicht, die sich für die Sprößlinge leichtsinniger Ehen eröffne, und die Erklärung vorausgehen, daß die aus einem solchen, nach vorgängiger Warnung eingegangenen Bündnisse erzeugten Kinder keinen Anspruch auf eine Unterstützung von seiten des Staats im Falle ihrer Verarmung erheben dürften. Eine Warnung, die leichtsinnige Personen nicht abschrecken wird. Hielte sie auch, in einem ernsten Augenblicke eindringlicher wirkend, von dem ehelichen Bündnisse ab, schwerlich würden die Liebenden in den unbedachten Stunden der Versuchung jenes Momentes gedenken, und die Folge wäre dann, daß man das geordnete und ebendeshalb immer noch am mindesten schädliche Verhältnis der Ehe nur verhindert hätte, um die gleichen Folgen zu größerem Nachteile aus einer unehelichen Verbindung hervorgehen zu sehen. Wer ferner sieht vor die unerwarteten Schläge des Schicksals? Mit leidlichen Aussichten trat das junge Ehepaar an den Altar. Kenntnis, Fleiß und Gesundheit verbürgten ihm die Mittel, ein mäßiges Glück zu gründen. Eine ungünstige Konjunktur der Zeitumstände raubt die Gelegenheit, eine langwierige Krankheit die Kraft zur Arbeit, und der Verarmung preisgegeben sehen sie ihre Kinder von den harten Folgen eines Schrittes betroffen, den sie in gutem Glauben gewagt hatten! Was soll endlich eine Drohung, deren Verwirklichung moralisch unmöglich ist? Solange noch ein Gefühl für Humanität in der Menschenbrust lebt, solange man noch selbst dem verschuldeten, geschweige denn dem unverschuldeten Unglück Mitleid schenkt und hilft, wo man helfen kann, werden die unglücklichen Kinder der Natur nicht von der Menschheit ausgestoßen, verlassen, dem Hungertode preisgegeben, werden die unglücklichen Geschöpfe fremden Leichtsinns oder fremden Unglücks nicht für die Fehler oder das Mißgeschick ihrer Eltern bestraft werden. Sind die Kinder einmal da, so kann sie der Staat auch nicht verhungern lassen. []

In unsern Tagen ist eine plötzliche Angst unter die Reichen gekommen, und sie möchten sich um jeden Preis gegen die Gefahren sichern, die sie von dem wachsenden Elende der Armen fürchten. Ergriffen sie hier das natürlichste Mittel und erleichterten sie es den Armen, sich durch eigne Anstrengung auf eine höhere Stufe sinnlicher und geistiger Wohlfahrt zu heben, so wäre ihnen und dem Ganzen geholfen. So aber wollen sie bloß sich auf Kosten der Armen helfen und glauben, die Gefahr entfernt zu haben, wenn sie sich durch neue Beschränkungen der arbeitenden Klassen gegen diese verschanzt, folglich den Grund der Gefahr verstärkt haben. Aus diesem Geiste sind die Vorschläge zu Gesetzen geflossen, welche die Verheiratung sogenannter nahrungsloser Personen verhindern sollen. Als nahrungslos betrachtet man dabei nicht etwa diejenigen, die ohne Einkommen und zugleich unfähig zur Arbeit sind, z. B. vornehme Verschwender, die nichts gelernt haben, sondern der gilt für nahrungslos, der in seinen natürlichen Kräften ein Wertkapital besitzt, dessen Zinsen ihn nähren könnten, der auch den Willen hat, diese Kräfte mit unermüdlichem Fleiße zu seinem und der Seinigen Unterhalt und des gemeinen Wesens Frommen anzustrengen, dem aber die bürgerlichen Einrichtungen selbst, dem die Gesetze der Reichen, die Zunftartikel, die Privilegien der Städte, die Zollgesetze des Staats die Gelegenheit genommen haben, sich sein Brot auf ehrliche Weise zu verdienen. Wenn man einem armen Schuhmacher auf dem Lande, der ein Paar Stiefel nicht geflickt, sondern gefertigt hat, das Handwerkszeug wegnimmt und wir seine Frau und seine sechs Kinder beklagen, die er bis dahin redlich ernährt und treu erzogen hatte, so antwortet man wohl mit der moralischen Indignation des Glücklichen: warum mußte der Mensch heiraten und Kinder in die Welt setzen? Warum? Weil auch er der Liebe empfänglich und in seiner gedrückten Lage ihrer doppelt bedürftig ist. Weil er eine Genossin seiner Arbeit, eine Teilnehmerin seiner Beschwerden braucht. Weil er ein Mensch ist und weil er noch glaubt, die Ehe sei ein sittliches Verhältnis und für jeden, dem sie irgend möglich, Pflicht. Verbietet ihr den Armen die Ehe, so habt ihr die Menschenwürde durch den insolentesten Übermut beleidigt, der natürlichen Gleichheit furchtbaren Hohn gesprochen, die heiligsten Gefühle zerrissen, eurem Mitmenschen und Mitbürger die letzte Quelle unschuldiger Freuden, das Band, was ihn in manchen Momenten der Stufe höher denkender Menschen näherte, was ihn an seinen Herd, an seine Gemeinde, sein Land fesselte, was ihm die Religion ehrwürdig und die bürgerliche Gesellschaft teuer, was ihm die Gegenwart wert und die Zukunft wichtig macht — diese Quelle habt ihr ihm verstopft, dieses Band entzogen, ihm alles geraubt, was über den gemeinsten Egoismus hinausgeht! Und dann noch verlangt ihr, er solle ein fleißiger und genügsamer Arbeiter, ein guter, sittlicher und rechtlicher Mensch, ein treuer, ruhiger und dankbarer Bürger sein. Es sind ja so rein menschliche Gefühle: die eheliche Zärtlichkeit, die Vater-, die Mutterliebe; es ist ja so wenig und doch so viel, was der Arme in ihnen hat. Uns ersetzt das Vaterland, die Wissenschaft, das Geschäft jene Genüsse, der Arme und Unglückliche hat nichts als sie. Macht ihr es ihm unmöglich, den Naturtrieb in sittlicher Form zu befriedigen, so müßt ihr den unehelichen privilegieren, so mietet Straßendirnen und gebt sie gratis dem Volke preis, baut Findelhäuser und seht dann, was für eine Generation ihr hervorgerufen habt. Freilich wird die Bevölkerung nicht so bedenklich wachsen, denn von den Geschöpfen unehelicher Verbindungen kommen zum Glück die meisten nicht auf! Es ist schwer, über diesen Gegenstand ruhig zu schreiben. Recht, Moral, Religion und Politik lehnen sich gleichmäßig gegen jene Vorschläge auf. []

In neuerer Zeit ist man zu dem von den Alten versuchten Mittel zurückgekehrt und empfiehlt die Auswanderungen als den einzigen Weg, die überflüssige Bevölkerung auf eine für beide Teile wohltätige Weise loszuwerden. Wenigstens bekommen unsre ängstlichen Reichen bei dieser Gelegenheit die Armen aus dem Gesichte! Allerdings soll Freiheit der Auswanderung bestehen, weil ohne diese der Staat ein Kerker wäre. Der Entschluß jedoch, die Heimat seiner Väter zu verlassen, die Stätte, auf der man seinen Jugendtraum geträumt und auf der doch jeder wenigstens einige Momente des Glücks genossen, wenigstens etwas gefunden hat, das ihm teuer und wert war, ist ein großer Entschluß, und es steht nicht zu erwarten, daß ihn viele freiwillig ergreifen werden. Auch würde es wenigstens des Staates unwürdig sein, wenn er durch seine Einrichtungen nur darauf hinwirken wollte, einen Teil der Bevölkerung aus dem Lande zu treiben, gleichviel was das Geschick desselben in der Ferne sein werde. Günstig kann dieses, besondere Glücksfälle ausgenommen, nur sein, wenn der Auswandernde Anlagskapitalien oder Fertigkeiten besitzt, die er in der Heimat nicht, wohl aber im Auslande verwerten kann. Die Inhaber der ersteren sieht niemand gern auswandern. In bezug auf die letzteren dürfte es doch dem Staate obliegen, vorher lieber im Inlande Gelegenheiten zur nützlichen Ausübung derselben zu eröffnen. Soll der Staat zu Auswanderungen aufmuntern, die Auswandernden unterstützen, sie mit Mitteln versehen? Abgesehen davon, daß dies ein beschämendes Geständnis enthielte, so dürfte es leicht Summen in Anspruch nehmen, durch deren Verwendung im Inlande sich dasselbe Ziel erreichen ließe. []

Übervölkert kann man nur dann ein Land nennen, wenn es mehr Einwohner besitzt als es, unter vollständiger Entwicklung aller in der Natur und der Menschenkraft liegenden Hilfsmittel, zu ernähren vermag. Und ernährt ist die Bevölkerung, wenn es jedem möglich ist, bei angestrengtem Fleiße seine vernünftigen Bedürfnisse zu befriedigen. Wenn dies letztere nicht der Fall ist, wenn viele im Volke auf allerdings vernünftige Bedürfnisse, z. B. auf eine gesunde, kräftige Nahrung, eine bequeme, warme und zweckmäßige Kleidung, eine geräumige Wohnung, eine wahrhaft bildende Erziehung, verzichten müssen, ja wenn sie in Not und Elend schmachten und in der Verzweiflung selbst zu Verbrechen schreiten, so ist dies alles noch kein Beweis einer Übervölkerung, solange in der Tat die Nachweisung noch nicht geführt ist, daß alle dem Lande zu Gebote stehenden Hilfsmittel erschöpft seien oder daß die Not der vielen ihren Grund nicht in dem Überflusse der wenigen habe. Denn von dem Zustande der Übervölkerung unterscheidet sich der Zustand der Nahrungslosigkeit wesentlich, in welchem die Bevölkerung — die gesamte oder ein einzelner Teil derselben — außerstand ist, sich zu ernähren, weil sie nicht alle ihr zu Gebote stehenden Hilfsmittel entfalten kann. Beide Zustände sind in ihren Symptomen und Folgen ähnlich, in ihren Ursachen und folglich auch in ihren Heilmitteln unendlich verschieden. []

Aber die Not, die [] jetzt sich zeigt? Die Armut, die so weit verbreitet ist? Was können, so sagt man, alle deine Theoreme gegen den Augenschein, gegen die Erfahrung beweisen? Der Notstand unsrer Zeit soll also aus einem Mißverhältnisse der Bevölkerung und der Produktion entspringen. Es soll Übervölkerung da oder nahe sein. Wäre dieses der Fall, so müßte es doch zuvörderst sich in den steigenden Preisen der Lebensmittel zeigen. Aber im Gegenteile sind diese fortwährend im Sinken, und ängstliche Landwirte meinen schon: es werde durch die verbesserten Agrikultursysteme zuviel produziert, und die Bevölkerung sei nicht imstande, die jährlich erbauten Früchte zu verzehren. Es ist also Überfluß da an Lebensmitteln und doch sollen zuviel Menschen sein. Darin liegt ein offener Widerspruch. Ja, entgegnet man, der Mensch braucht mehr als Brot, und der Arme kann sich bei allem Überflusse und allen wohlfeilen Preisen oft doch nicht das Notdürftigste verschaffen. So kommen wir also auf zwei ganz andre Ursachen des Notstandes: auf die größeren künstlichen Bedürfnisse der Jetztwelt und auf den geringen Verdienst eines Teils der Bevölkerung.

Bei allen den Räsonnements über das Elend der Gegenwart hat man eine Ursache nur wenig hervorgehoben, die die Erscheinung in einem ganz andern Lichte erblicken läßt: daß nämlich nicht nur die Bevölkerung zugenommen hat, sondern auch der größte Teil derselben erst in der neueren Zeit gewissermaßen auf den vollen Standpunkt natürlicher Konsumtion hinaufgerückt ist. []

Vergleiche man den Standpunkt eines Landmannes oder eines Bürgers und Handwerkers in unsern Tagen mit der Lage derjenigen, die seine Arbeit bei unsern Vorfahren verrichteten, und bald wird man erkennen, daß damals die kleinere Anzahl bequemer leben konnte, weil die größere Anzahl unter den Standpunkt der Genüsse hinabgedrückt war, deren Befriedigung der Mensch als Mensch zu fordern berechtigt ist. Vergleiche man das Einst und Jetzt und man wird aufhören, über eine neu entstandene Armut dieser Klassen zu klagen und ihren Grund in einer zu großen Menschenmenge zu finden; man wird vielmehr über die Masse und über die unendliche Vermehrung der Bedürfnisse staunen, denen die Produktion zu genügen vermag. Ich bemerke aber schon hier, als einen Vorklang des Kommenden, daß die Möglichkeit, die Mehrzahl des Volks in ihre natürlichen Rechte einzusetzen, eben durch ihre Einsetzung in diese natürlichen Rechte selbst bedingt ward; daß auch hier eine Wechselwirkung stattfand, auch hier das gerechteste Verfahren das nützlichste, die Freiheit das Heil war. Sklavenarbeit bleibt Sklavenarbeit; sie kann unter gewissen Bedingungen ihrem Herrn einen größeren Reinertrag abwerfen, der Gesellschaft liefert sie eine geringere Bruttomasse. Freie Arbeit ernährt eine größere Bevölkerung. Eigentum weckt den Eifer zur Verbesserung. Die Gewißheit, seinen Nachkommen die Früchte seiner Arbeit zu hinterlassen, leitet zur Sparsamkeit, und der schimmernde Reichtum, der bei einem Sklavenvolke sich in den Händen weniger Reichen zusammendrängt, ist nichts gegen die Masse der Kapitalien, die sich in weiter Verteilung bei einem freien, arbeitsamen und industriösen Volke bilden. []

Aber nicht bloß daß die Bevölkerung zugenommen hat, nicht bloß daß die Mehrzahl des Volks auf eine freiere und ebendeshalb bedürfnisreichere Stufe hinaufgerückt ist, die Bedürfnisse aller haben sich vermehrt, und für den Ärmsten ist jetzt Bedürfnis, was es früher für den Reichsten nicht war. Vergleichen wir die Haushaltung eines Tagelöhners unsrer Tage mit der eines Fürsten des Mittelalters und wir finden, daß der erstere im Besitze vieler Vorteile ist, die wesentlich dazu beitragen, die Annehmlichkeiten des Lebens zu erhöhen, während der letztere nur einen Überfluß an Gegenständen voraushat, bei denen der Überfluß ohne Wert ist. Die Tische und Stühle in der elendesten Hütte sind bequemer als die Thronsessel unserer Vorfahren; Fenster und Spiegel waren vor wenigen Jahrhunderten nur ein seltener Prunk der Reichen; Hemden ein Luxus; mit Binsen wurden noch vor drittehalbhundert Jahren die Zimmer der Königin Elisabeth von England gestreut; selbst die nützlichen Werkzeuge, die Messer und Äxte der Vorzeit, wie roh und unbeholfen, wie unzweckmäßig waren sie nicht; nur in Waffen war Kunst und doch, was sind die Waffen des Mittelalters gegen die unsrigen, sobald wir auf den Gebrauch achten? Überfluß an Gegenständen der Urproduktion, an Speise und Trank und kunstlosen Kleiderstoffen war der Luxus des Mittelalters. Es bedarf keines Beweises, daß gegenwärtig eine größere Genußsumme, eine größere Masse von Vorzügen, Annehmlichkeiten und Vorteilen des Lebens über Europa verbreitet und ungleich weiter verteilt ist, als es zu irgendeiner Periode seiner Geschichte der Fall war. Dabei ist nicht zu vergessen, daß eine größere Sparsamkeit im Genusse der Urprodukte, also des Notwendigsten, nicht infolge der Not, sondern als natürliche Begleiterin der Kultur und des erweiterten Genußkreises eingetreten ist.

„Aber eben jene künstlichen, neu entstandenen Bedürfnisse, wie soll sie der Arme befriedigen; wie können sie für die immer wachsende Anzahl des Volkes in erforderlicher Masse geschafft werden?“ Also ihr glaubt, dem Volke die einmal — und nicht zum Schaden der Menschheit — zum Bedürfnis gewordene Befriedigung zu erleichtern, wenn ihr die Kräfte vermindert, die sie schaffen? Wird denn nicht mit der Zunahme der Bevölkerung auch die Produktion, und bei diesen künstlichen Fabrikaten in einem die Progression der Volkszahl unendlich übersteigendem Verhältnisse erweitert? Werden nicht täglich neue Erleichterungen, neue und vollkommnere Hilfsmittel entdeckt und mit reißender Schnelligkeit verbreitet? Hat nicht die Naturkraft, indem sie in künstlichen Maschinen gefesselt ward, ein neues Bündnis mit dem Menschen geschlossen und ihm ihre Dienste in einer Art gelobt, in der sie sie früher ihm nicht zollte? Der Gedanke ist produktiv geworden; er wirkt in den Rädern der Dampfmaschine, und unermeßliche Gütermassen finden in theoretischer Spekulation ihre Quelle. Und klagt man wohl über Mangel und Teurung, klagt man nicht über Überfluß und Wertlosigkeit der Waren? Die Bevölkerung scheint der Produktion nicht gefolgt, die letztere scheint rascher vorgeschritten zu sein als die erstere. Jedenfalls hat auch hier das analoge Gesetz gewaltet: es ist mehr produziert worden, weil mehr gebraucht ward, und weil mehr produziert ward, wurde mehr gebraucht.

Also schon der jetzige Ertrag des Bodens an Konsumtibilien reicht zur Ernährung der Bevölkerung, wie die geringen Getreidepreise beweisen, mehr als hin; dieser Ertrag ist einer außerordentlichen Vermehrung fähig; die Konsumtion desselben ist verhältnismäßig geringer geworden; die Erzeugnisse des Auslandes werden noch immer der Lohn unseres Fleißes und werden es stets sein; die künstlichen Bedürfnisse finden täglich eine leichtere Befriedigung, und gleichwohl soll Europa seine Kinder nicht ernähren können, weil ihrer zuviel sind. Eine Übervölkerung sollte da oder nahe sein? Eine Übervölkerung, wo Boden und Menschenhand mehr produzieren, als gebraucht wird? Nimmermehr kann man mit solchen Widersprüchen sich vereinigen.

„Aber mit dem allen erklärst du dies Elend und die Armut nicht, die du abzuleugnen außerstand bist!“ Das will ich auch damit nicht, sondern beweisen, daß nicht die Überzahl der Bevölkerung der Grund des Übels sein kann. Sie kann es nicht sein, weil noch viel daran fehlt, daß alle Hilfsquellen erschöpft, daß nur alle in höchst möglicher Ausdehnung in Anspruch genommen, ja, daß nur alle zugänglich gemacht wären. Folglich läßt sich der bedenkliche Zustand, über den wir alle klagen, nicht als der Zustand der Übervölkerung, sondern als Nahrungslosigkeit bezeichnen. Das ist nicht ein andrer Name für dieselbe Sache, das macht einen sehr großen Unterschied; von dem Augenblicke an, wo wir den Zustand als einen solchen erkennen, sind wir von der furchtbaren und kaum zu lösenden Aufgabe befreit, auf eine Verminderung der Bevölkerung hinwirken oder doch ihre Zunahme möglichst verhindern zu müssen. Vielmehr haben wir es nur mit der Aufsuchung der Verhältnisse zu tun, die die vorhandene, die noch zu geringe Bevölkerung verhindern, alle ihr zu Gebote stehenden Kräfte in voller und erfolgreicher Ausdehnung zu entwickeln. Um einem Übel abzuhelfen, muß man zuvörderst seinen Grund kennenlernen. Um der Nahrungslosigkeit zu steuern, muß man ihre Quellen gefunden haben. Und wahrlich, man braucht auch in unsern hochkultivierten Staaten nicht weit zu suchen, um wirkende Ursachen zu erkennen, welche die Verarmung zahlreicher Volksklassen weit sicherer bewirken, als es die Zunahme der Volksmenge tut. Nicht daß die Armut vorhanden, daß sie nicht größer ist, ist zu verwundern.

Es ist oben erwähnt worden, daß der Landbau fast noch in keinem europäischen Staate auf der Höhe steht, zu der sich emporzuschwingen er von der Natur bestimmt ist. Dieselben Verhältnisse aber, die größtenteils die Schuld dieses Übels tragen, bewirken zugleich, daß ein großer Teil der auch jetzt aus dem Landbaue erwachsenden Vorteile nicht der zahlreichen und achtbaren Klasse der eigentlichen Landbauer zugute geht und nicht auf produktive Unternehmungen verwendet wird. Alle die Verhältnisse, welche die Geschlossenheit der Güter bewirken, den Boden dem freien Verkehre entrücken, sowie die Grundlasten, die mit bleiernem Gewichte auf ihm ruhen, alles was in das Verhältnis des Menschen zum Grund und Boden andre Rücksichten bringt als die seiner bestmöglichen Benutzung, alles was diese selbst zurückhält, trägt auch dazu bei, daß weder der Landbau so viele Vorteile bringt als er könnte, noch an seinen Vorteilen so viele Anteil nehmen, als darauf Anspruch zu machen berechtigt sind. Der gefesselte Zustand des Landbaues hat einen großen Teil der Bevölkerung den Gewerben zugedrängt, der in dem Landbau, wenn dieser frei von Lasten und Beschränkungen gewesen wäre, einen sichreren Lebensberuf gefunden haben würde. Nicht in den landbautreibenden Dörfern, sondern in den Fabrikorten, den Städten und deren Umgebungen treten die traurigen Erscheinungen der Nahrungslosigkeit am sichtlichsten hervor.

Wie aber in den Gewerben selbst oder vielmehr in den ihren Betrieb betreffenden Einrichtungen der Ursachen nur allzu viele liegen, die es bewirken, daß die aus ihnen erwachsenden Vorteile weder so hoch sind, noch in so weiter Ausdehnung sich verteilen, als es bei besserer Anordnung möglich wäre, darüber wird auf den folgenden Seiten dieser Schrift noch manches gehandelt werden. Wenn man darüber klagt, daß so viele Kräfte keinen Lohn finden, so sollte man nicht damit anfangen, die Entfernung dieser Kräfte zu betreiben — geschweige denn gar diese Kräfte zu fesseln —, sondern man sollte erst untersuchen, ob sich ihnen nicht ein lohnenderer Wirkungskreis eröffnen ließe. Und das letztere muß man so lange annehmen, als noch Einrichtungen vorhanden sind, die viele Glieder des Volks verhindern, ihre Kräfte anzuwenden, wie und wo sie am leichtesten es vermögen. Der Schluß dieser Blätter wird zugleich zeigen, wie unsre Armenpflege, deren Zusammenhang mit den vorhergehenden Materien er nachweisen wird, noch weit davon entfernt ist, auf richtigem Wege ihrem Hauptziele nachzustreben: nämlich sich selbst überflüssig zu machen. Es wird erkannt werden, daß in einer übel geleiteten Wohltätigkeit der edelste, aber nicht der unschädlichste Fehler der Zeit besteht.

Landbau und Gewerbe also sind noch weit davon entfernt, „den meisten Menschen das meiste Gute zu leisten“. Der Handel aber? Bedarf es wohl eines Beweises, daß sowohl den inneren Handel als den Welthandel tausend künstliche Hindernisse und Beschränkungen hemmen, die nur sein stetes Ringen nach Freiheit und die ihm eigentümliche wunderbare Schmiegsamkeit einigermaßen zu neutralisieren vermocht hat? Das Prohibitivsystem ist die Grundlage der Handelspolitik vieler Staaten, und man wundert sich über Stockung und Verarmung? Doch über diesen Gegenstand liefern hundert Werke, es liefert die Erfahrung die besten Kommentare darüber. Hier nur die Bemerkung, daß, auch die künstlichen Hindernisse abgerechnet, noch viel daran fehlt, daß der Handel die natürlichen Hemmungen so siegreich überwunden hätte, wie die neueren Triumphe des Erfindungsgeistes es möglich machen. Die durch Dampfwagen vermittelte größere Schnelligkeit, die durch sie erst geschaffene Möglichkeit vieler Handelsverbindungen wird allein schon hinreichen, die Wohltaten des Handels an sich und in seinen Nachwirkungen auf Landbau und Gewerbe und auf den Zustand der Bevölkerung unendlich zu vervielfachen.

Quelle: Friedrich Bülau, Der Staat und die Industrie. Beiträge zur Gewerbspolitik und Armenpolizei. Leipzig: Göschen, 1834, S. 22–56; abgedruckt in Carl Jantke und Dietrich Hilger, Hrsg., Die Eigentumslosen. Freiburg und München: Verlag Karl Alber, 1965, S. 256–65. Wiedergabe der Auszüge auf dieser Website mit freundlicher Genehmigung des Verlags Karl Alber, Freiburg und München.