Kurzbeschreibung

Der Schullehrer und berühmte Vertreter fortschrittlicher Pädagogik Friedrich Adolf Diesterweg (1790–1866) kritisiert in seinem Essay mit dem symbolischen Titel „Pädagogisches Krebsbüchlein“ die Rückwärtsgewandtheit von Vertretern traditioneller Lehrmethoden. Diese beißende Satire führt die „besten“ Methoden vor, durch die angehende Lehrer so manipuliert werden können, dass sie zu rückständigen, unselbständigen und unqualifizierten Marionetten des Erzkonservatismus werden.

Friedrich Diesterweg, „Pädagogisches Krebsbüchlein“ (1856)

  • Friedrich Adolf Diesterweg

Quelle

Pädagogisches Krebsbüchlein,
in Rezepten für alte und junge Krebse der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts

1. Regeln für die Erziehung zur Abhängigkeit

1. Dringe stets, auch wenn der Zögling heranwächst, auf unbedingten, stummen Gehorsam gegen Deine Befehle!
2. Gewöhne ihn an die Regel der Willkür: tel est mon bon plaisir.
3. Nenne ihm nie einen Grund Deines Beliebens! Behandle ihn stets als „dummen Jungen“!
4. Gewöhne ihn an rein äußerliches, mechanisches Lernen und Üben!
5. Überlaß die höheren Kräfte: Verstand, Urteilskraft, Vernunft, ihrem Schlummer; belaste dagegen das Wortgedächtnis mit schweren, unverständlichen Stoffen und toten Lernmassen zur mechanischen Übung!
6. Lege auch auf die Entwicklung der Zunge zur geläufigen Rede gar keinen Wert!
7. Durch öftere Wiederholung rede ihm den Glauben an seine Dummheit ein und an die Richtigkeit des Grundsatzes „vom beschränkten Untertanenverstande“!
8. Präge ihm außer der niedrigsten Meinung von sich selbst die höchste Meinung von andern, namentlich vor sogenannten höhergestellten Personen, ein!
9. Seinen Umgang beschränke auf bornierte, sklavisch und servil gesinnte Personen, im übrigen isoliere ihn und halte ihn ganz streng von dem Besuch von Vereinen, in welchen freie Meinungsäußerung herrscht, ab!
10. Von Büchern erlaube ihm nur solche, in welchen die absolute Autorität als dem schwachen Menschen geziemend und seligmachend geschildert wird!

Sollten diese Regeln Dir zur Erreichung des Zweckes noch nicht ausreichend erscheinen, so empfehle ich Dir noch zwei:

11. Erfülle seine Phantasie mit abergläubischen Vorstellungen von Hexen, Kobolden, Teufeln und Dämonen und
12. mache ihm, falls es ihm jemals einfallen sollte, sich die edlen Grundsätze, in und nach welchen er erzogen worden ist, aus dem Sinn zu schlagen, bange vor der Hölle, noch besser: führe ihn so, daß ihn bei jedem Zweifel oder jedem Versuch der Abweichung von der geraden und sicheren Straße, die Du ihn geführt hast, Herzklopfen und Selbstpein überfällt!

2. Regeln für die Bildung mechanischer (mechanisch wirkender) Menschen

Unter „Mechanismus“ versteht man die Einrichtung, durch welche Tätigkeiten auf äußere Antriebe erfolgen. Die bewegende Kraft liegt außerhalb der Maschine. Befindet sich die bewegende Kraft im inneren Wesen der Stoffe, so ist das zusammengehörige Ganze nicht ein Mechanismus, sondern ein Organismus. Uhren, Mühlen, Lokomotiven usw. sind Maschinen; der menschliche Leib, das Weltall usw. sind Organismen.

Daraus folgt als allgemein gültige, einzige Regel für die Bildung mechanisch tätiger (mechanisch denkender, mechanisch empfindender, mechanisch handelnder) Menschen die: Setze dieselben durch äußere Antriebe in Tätigkeit! Spezieller für die drei Richtungen menschlicher Tätigkeit: Halte die Einsicht in das Wesen der Dinge von ihnen ab! Gewöhne sie, ihre Empfindungen nach äußeren Regeln (der Sitte und Mode, der kirchlichen Vorschriften, des Herkommens usw.) zu bemessen; lehre sie, ihre Handlungen nach von anderen gegebenen Vorschriften zu bestimmen!

Nach diesen für unseren Zweck ausreichenden Bemerkungen braucht nur, im besonderen Bezuge auf den Schulunterricht, gesagt zu werden, welches die vorzüglichsten Arten mechanischer Verfahrungsweisen und Tätigkeiten in der Schule sind.

1. Das Buchstabenschreiben bloß nach gegebenen Vorschriften (besonders in alter Weise des Vorschreibens der Buchstaben mit der Bleifeder, mit oder ohne Verbindung mit der Handführung) ist Mechanismus.
2. Das Lesen nach der Buchstabiermethode ist Mechanismus.
3. Das Nachsingen vorgesungener Melodien ist Mechanismus.
4. Das Rechnen und Messen nach unbegriffenen Regeln ist Mechanismus.
5. Das Abzeichnen von Körpern nach Vorlegeblättern ist Mechanismus.
6. Das Auswendiglernen nach dem Klange und dem Reim der Wörter ist Mechanismus. (Das judiziöse Auswendiglernen oder Behalten ist nicht Sache der Kinder; ihr Auswendiglernen ist mehr oder weniger mechanisch; selbst das richtig betonte Hersagen des Katechismus geschieht in der Regel mechanisch.)
7. Das regelrechte Verhalten der Kinder infolge des Gehorsams gegen äußere Befehle ist Mechanismus.
8. Das gewohnheitsmäßige Hersagen von auswendig gelernten Gebeten ist Mechanismus. (Gebetsübungen sind potenzierter Mechanismus.)
9. Die Annahme der Glaubensbekenntnisse auf das Ansehen der Eltern und Lehrer ist Mechanismus.
10. Die Verrichtung „frommer Gebräuche und Handlungen“ auf Befehl der Kirche ist Mechanismus.
11. Das Unterlassen verbotener Handlungen aus Furcht vor Strafe (Hölle) und das Ausüben guter Handlungen aus Hoffnung auf Lohn (im Himmel) ist Mechanismus.
12. Der Autoritätsglaube ist Mechanismus.

Aus obigen allgemeinen und aus diesen spezielleren (zwölf) Sätzen folgen die Regeln für den Zweck, mechanische Menschen zu bilden, sie zu mechanischem Denken, zu mechanischem Empfinden und zu mechanischem Tun abzurichten.

3. Schul-Regeln für die Erhaltung, Wiederherstellung und Befestigung des Aberglaubens

1. Lehre überall gemäß dem Grundsatze, daß der Inhalt sowohl des Alten wie des Neuen Testaments wörtlich und buchstäblich angenommen werden müsse und daß jede Abweichung von der buchstäblich aufgefaßten Lehre den Zorn der Gottheit errege!
2. Behandle die Wundergeschichten beider Testamente bis hin zur Hexe von Endor, zu Jonas im Walfischbauche und dem Esel des Bileam mit besonderer Ausführlichkeit und mit dem gläubigsten Sinne!
3. Unterhalte die Schüler mündlich und durch Lektüre mit Erzählungen aus dem Geisterreich, mit Gespenster- und Ahnungsgeschichten aller Art bis hin zu den neuesten Enthüllungen dieses Reiches durch Tischklopferei und Geistesmagnetismus und Spiritualismus!
4. Durchdringe sie mit dem Glauben an den Teufel und sein Reich und an die List der in der Luft schwebenden bösen Dämonen! (Nach Wangemann in Pommern.)
5. Halte alle naturwissenschaftlichen Kenntnisse fern von den Schülern, oder kleide sie ein in fromme Betrachtungen, und erbaue die Kinder an solchen Lesestücken, welche die Naturdinge in „frommen Schmuse“ vorführen!
6. Dieses ist aber nicht genug, sondern Du mußt auch die als richtige Lehre, nach welcher die Erde der Mittelpunkt des Weltalls und die Sterne keine Weltkörper, sondern Lichter des Himmels sind, und alles das, was damit zusammenhängt, wiederherstellen. Naturgesetze existieren gar nicht. Das sogenannte Wissen muß nach dem Glauben korrigiert werden. (Die Prätensionen der exakten Naturwissenschaft usw., von Dr. Frantz, Oberpfarrer, Superintendent in Sangerhausen; Nordhausen 1857.)
7. Zeige ihnen, daß die Furcht vor Kometen und Irrwischen und die Lehren der alten Astrologen nicht ganz „ohne“ waren!
8. Teile den Schülern Geschichten mit, die „tatsächlich“ beweisen, daß das Gebet der Gläubigen imstande sei, schädliche Nässe oder Trockenheit wegzubeten und andere Wirkungen „außer der Ordnung der Natur“, d. h. Wunder, zu veranlassen.
9. Hüte Dich, in den Wahn zu verfallen, die sogenannte Aufklärung – dieses Gift des aufklärerischen 18. Jahrhunderts – sei eine Aufgabe Deines Amtes! Du hast es nicht mit dem „Aufkläricht“, sondern mit dem frommen Glauben, nur mit der Aufgabe zu tun, der Kirche und dem Staate gläubig-gehorsame Untertanen zu erziehen!
10. Verfalle auch nicht in den Irrtum, als sei es der Zweck der Volksschule, den Verstand der Jugend zu bilden. Das war eine List der Umkehrer und Umstürzer des vorigen Jahrhunderts. Fromme Gemütsrichtung reicht für den Bauer und gemeinen Bürger aus. Der Mensch begreift überhaupt so vieles nicht; darum ist es nicht seine Aufgabe, die Natur ihrer Geheimnisse zu entkleiden, die überhaupt im Himmel und auf Erden so vieles enthält, wovon sich selbst unsere Philosophen nichts träumen lassen.
11. Übe Deinen Schülern bestimmte Fertigkeiten nach Regeln ein, ohne deren Gründe, die Du selbst nicht zu wissen brauchst, mitzuteilen. Das Denken nach Gründen erzeugt den Vorwitz, ist überhaupt eins der traurigen Symptome der Überspanntheit der neuernden Schullehrer. Unter der Zeit der alten Lehrer erwuchs ein gläubiges Geschlecht. Zu ihrer Weise und zu ihrem bescheidenen, aber ausreichenden Maß von Bildung muß zurückgegangen werden. (Wolfgang Menzel, Geschichte der letzten 40 Jahre. Nathusius, Volksblatt für Stadt und Land. Auch Riehl, Naturgeschichte des Volkes. Band II: Die bürgerliche Gesellschaft, der Schullehrer als Geistesproletarier.)
12. Willst Du Dir aber ganz besondere Verdienste um die Erreichung und Lösung der in Rede stehenden Aufgabe erwerben, so flöße den Schülern eine besondere Vorliebe zu allem Übernatürlichen, Unnatürlichen und Unbegreiflichen ein, indem Du überall nach dem in Düsseltal neu aufgewärmten, dann von dem (durch die Regierung in Potsdam fast privilegierten) Brandenburger Schulblatte seinen Lehrern warm empfohlenen Grundsatze: credo, quia absurdum est, handelst! –

[]

4. Zwölf praktische Regeln für die Aneignung des Autoritätsglaubens

1. Sprich den Kindern im Alter der Unmündigkeit möglichst früh – nach Carl von Raumer vom dritten Lebensjahre ab – die Artikel des Glaubens vor und laß sie dieselben nachsprechen!
2. Mache dieses Nachsprechen und Nachglauben zu einer förmlichen Übung, die täglich wiederholt wird, laß die Kinder den Katechismus beten[1] und verknüpfe die Einprägung desselben mit den frommen Gefühlen, die durch liturgische Andachten und Kindergottesdienste zu erwecken sind!
3. Präge ihnen den Glauben ein, daß die Katechismuslehren dem Menschengeschlecht ohne dessen Zutun von oben mitgeteilt seien, von den Menschen ohne Prüfung angenommen werden müßten, da ja doch die menschlichen Kräfte nicht hinreichten, sie zu fassen oder zu begreifen!
4. Flöße ihnen überhaupt gegen die Natur des Menschen gründliches Mißtrauen ein, daß der Mensch nur durch die Annahme der Glaubensartikel selig werden könne, daß jeder Zweifel an ihrer Wahrheit aus böser Lust entspringe und ewig strafbare Sünde sei!
5. Sage ihnen, daß ihr Katechismus ausschließlich die seligmachenden Wahrheiten, jeder andere Irrlehren enthalte!
6. Stelle ihnen die Abweichung von der „alleinseligmachenden Lehre“, den Übergang zu einer andern, als die größte Sünde dar!
7. Warne sie vor dem Umgange mit Andersgläubigen und sondere sie von den Kindern derselben sorgfältig ab!
8. Hüte Dich vor dem Gedanken, die Glaubensartikel begreiflich zu machen und sie von den Kindern, von ihrer Vernunft begreifen lassen zu wollen!
9. Zeige ihnen vielmehr, daß sie geglaubt werden müßten, weil sie unbegreiflich seien (Brandenburger Schulblatt, 1857, No. 1), und daß dieses verdienstlich sei!
10. Laß sie außerdem möglichst viel auswendig lernen, besonders solche Stücke, die den Grad ihrer Auffassungskraft überschreiten – gleichviel oder desto besser, wenn die Stücke in veralteter Sprache abgefaßt sind!
11. Befleißige Dich allüberall der mitteilenden, dogmatischen Lehrweise!
12. Hüte Dich überhaupt, die Verstandeskräfte der Kinder zu wecken, beschränke Dich auf das Anlehren von Worten ohne Anschauung, gewöhne sie, alles auf Deine Autorität anzunehmen, und betrachte die Mahnung der „Neurer“, es bei aller Unterweisung auf die Entwicklung der Anlagen und Kräfte und auf die Erzeugung selbständiger Tätigkeit anzulegen, als den Grund des Verderbens! –

Noch mehr der Regeln zur Erreichung des „frommen Zweckes“ wird es nicht bedürfen, obgleich, wie bekannt, noch manche andere – gepfefferte und pfeffernde – von altersher im Gebrauch sind und – sich bewährt haben.

5. Wie man den Kindern die Religion verleidet

1. Laß sie in möglichst zartem Alter (mit Professor Carl von Raumer vom dritten Lebensjahre an) Katechismusstücke nachsprechen (nachlallen)![2]
2. Die Mutter zwinge sie, morgens, mittags und abends lange Gebete zu sprechen!
3. Die Schule nötige sie, vom ersten Schulbesuch an den Katechismus zu lernen und tagtäglich „aufzusagen“!
4. Lange und schwere Gotteslieder zu lernen!
5. Hunderte oder Tausende von Bibelsprüchen, desgleichen Psalmen (besonders die 7 Bußpsalmen), Perikopen usw. wörtlich zu memorieren!
6. Die biblischen Geschichten (3-500 Oktavseiten engen Druckes von Zahn, Preuß und O. Schulz) wortgetreu zu behalten und aufzusagen!
7. Die gelernten Stücke einzeln und im Chore (mit Benutzung des in Mecklenburg erfundenen Repetierzirkels) tagtäglich zu „beten“!
8. In den Religionsstunden ergehe sich der Lehrer mit salbungsvollen Worten in ausgedehnten Anwendungen, in Prologen und Epilogen!
9. Man führe (nach dem Braunschweiger Schulboten!) Schul-Liturgien und -Litaneien ein!
10. Man versammle die Kinder (nach Herrn Sluymer u. a.!) zu lang ausgedehnten Kindergottesdiensten!
11. Man stelle (nach dem Brandenburger Schulblatte!) Gebetsübungen an!
12. Man zwinge ihnen solche Gesangbuchslieder, solche Bekenntnisse auf, deren Inhalt der Überzeugung der Eltern möglichst direkt und stark widerspricht!
13. Man leite den Konfirmandenunterricht so, daß die Katechumenen sich grundmäßig langweilen und den Augenblick der Konfirmation kaum erwarten können!
14. Einschüchterung, Bangemachen vor möglichen Zweifeln und Bedrohung mit den Höllenstrafen kann auch nicht schaden.
16. Schmähung und Unterdrückung der Vernunft ist, besonders bei intelligenten Kindern, ein probates Mittel.
17. Imponierend priesterliches Ansehen und Beanspruchung unbedingter Autorität tun in nachhaltiger Wirkung auch das ihrige.

Und so weiter.

6. Regeln, durch deren Anwendung man der Entwicklung des gesunden Menschenverstandes bei Kindern vorbeugt

1. Schließe sie von dem Leben in der Natur wie von dem Umgange und freien Spiele mit andern Kindern ab!
2. Verabsäume die Entwicklung der Sinne und die Übung der Glieder des Körpers!
3. Entzünde ihre Phantasie frühzeitig durch monströse Märchen und fabelhafte Erzählungen!
4. Halte sie zum Behalten und Hersagen unverständlicher Wörter und Sätze an!
5. Belaste ihr Gedächtnis mit möglichst vielen Stoffen möglichst dunklen Inhalts!
6. Vermeide jedwede Anregung verständigen Urteils!
7. Gewöhne sie, keine Meinung zu haben, sich selbst zu mißtrauen und überall das souveräne Urteil ihrer erwachsenen Umgebung zu begehren und dasselbe blindgläubig nachzusprechen!
8. Laß ihnen nur mechanischen Unterricht erteilen, und gewöhne sie an die Nachahmung sinnloser Gebräuche!
9. Lege besonderen Wert auf das Nachsprechen religiöser Formeln!
10. Durchdringe sie mit der Meinung von dem hohen Wert kirchlich-religiöser Zeremonien und äußerlicher Handlungen!
11. Lehre sie den Wert der Menschen nach äußerlichen Verhältnissen der Geburt, des Standes, des Reichtums, der Konfession usw. taxieren, besonders aber übe ihnen die Meinung ein, daß sie in dem alleinseligmachenden, alle andern in ketzerischem Glauben erzogen werden!
12. Halte sie ab von der Kenntnis und richtigen Beurteilung der Naturerscheinungen und natürlicher Verhältnisse überhaupt, erfülle sie dagegen mit dem Glauben an Wunder, Dämonen und Teufel und mit Vorurteilen aller Art!

7. Wie man ein Kind illiberal erzieht

1. Gleich nach der Geburt läßt man es so einschnüren, daß es Arme und Hände nicht frei bewegen kann.
2. Auf die durch Schreien des Säuglings angedeuteten Triebe und Wünsche wird nicht geachtet.
3. In den folgenden Jahren zwingt man das Kind, auch die ihm widerstehende Speise zu genießen.
4. Freie Bewegung in Zimmer und Garten, Spielen nach freier Lust usw. wird nicht gestattet.
5. Wollen und Tun nach eigenem Belieben wird dadurch verhindert, daß man es gewöhnt, bei allem nach dem Willen der Eltern und Lehrer zu fragen.
6. Zwischen eigenem Sinn und Eigensinn wird kein Unterschied gemacht; alles, was das Kind gegen den Willen seiner Erzieher will, ist Eigensinn.
7. Dieser „Eigensinn“ wird ihm „gebrochen“.
8. Nach den Anlagen zu diesem oder jenem Lerngegenstande wird nicht gefragt.
9. Eignes Urteil ist Naseweisheit.
10. Durch willkürliche, launenhafte oder auch despotische Behandlung erziele man vollkommene Einschüchterung!
11. In Gegenwart fremden Personen oder Erwachsenen wird dem Kinde weder freie, wenn, auch anständige Bewegung, noch auch ein Wort gestattet; gegen „Vornehme“ wird ihm knechtiger Sinn eingewöhnt.
12. Die Eltern bestimmen ohne Rücksicht auf Anlagen und Naturbestimmung nach äußeren Rücksichten die Wahl des Berufs.

8. Wie man das geistige Leben der Kinder zugrunde richtet

1. Sätze und Redensarten nachsprechen lassen, die sie nicht verstehen;
2. ihnen im Alter der Unmündigkeit Glaubensbekenntnisse vorlegen und dieselben als ihre Überzeugung aussprechen lassen;
3. sie zum Mitmachen von Zeremonien und symbolischen Handlungen anleiten, deren Verständnis für die Kinder unmöglich ist;
4. ihnen die Religion, in der sie erzogen werden, als die allein-seligmachende darstellen, und lehren, daß alle Andersdenkenden und Andersglaubenden in Irrtum befangen oder in Verstockung versunken oder gar der Verdammnis bestimmt seien;
5. ihnen Glauben an Dinge einpflanzen, von welchem man gewiß sein kann, daß er, wenn sie herangewachsen unter gebildete Menschen kommen, sie wieder verläßt, z. B. den Wunderglauben und andere Arten des Glaubens und Aberglaubens; die mit der fortgeschrittenen Kultur nicht mehr harmonieren;
6. den Wert der Menschen nach Geburt, Stand, Vermögen und anderen Äußerlichkeiten beurteilen und danach behandeln lehren;
7. sie nach der Konfession ihrer Eltern (nach der Verschiedenheit der Kirchen) voneinander absondern (Konfessionsschulen);
8. sie aus Glaubensgründen zu inhumanen Gesinnungen, zu Intoleranz und anderen Unsittlichkeiten verleiten, den „wahren Glauben“ von der echten Liebe trennen;
9. ihnen einreden, daß sich die Seele durch äußere Handlungen von sündhaften Gesinnungen und Sündenstrafen befreien könne;
10. durch Lehre, Beispiel und die gesamte Erziehung in Schule und Familie darauf es anlegen, daß sie sich (nach Möglichkeit) niemals von der Abhängigkeit von andern im Denken, Glauben und Handeln (vom Autoritätsglauben) befreien;
11. sie zu rein passivem, rezeptivem Lernen verurteilen, ohne ihre schaffende Kraft zu wecken, und ihnen dadurch alles Vertrauen zu selbständigem Tun rauben;
12. ihnen das Streben nach irdischem Glück als das Höchste vorhalten und sie von allem idealen Streben zurückhalten.

9. Wie man die Lehrer in geistiger Abhängigkeit erhält

1. Man halte die Präparanden von dem Besuche allgemeiner Bildungsanstalten ab!
2. Präpariere sie direkt für die Anforderungen der Seminarien!
3. Berechne den gesamten Unterricht in den Seminarien für die direkten Leistungen in dem Schulamte (ad hoc)!
4. Verbanne daher alle Gedanken und Einrichtungen, welche den Grund zu allgemeiner Bildung legen!
5. Halte sie insonderheit von dem Lesen und Studieren von Schriften allgemeiner Bildung (der Nationalschriftsteller) ab!
6. Schreibe den Lehrern die Schriften (Zeitschriften usw.) vor, die sie lesen sollen, kontrolliere ihre Büchersammlungen usw.!
7. Verbiete die freien Vereine derselben!
8. Stelle ihre Versammlungen unter die Aufsicht und Leitung von nicht fach- und sachkundigen Personen (Nicht-Schulmännern)!
9. Schärfe ihnen von Zeit zu Zeit die Mängel ihrer Bildung ein, und behandle sie als solche, die in jeder Beziehung der Leitung bedürfen!
10. Versage ihnen Sitz und Stimme in den Beratungen über die Schule!
11. Schließe sie von der Berechtigung zu Ehrenämtern in den Gemeinden aus!
12. Nötige sie durch die Ziffer ihres Einkommens zu den äußersten Beschränkungen!

10. Wie man Lehrer zu Abrichtern stempelt

1. Man präpariere sie für das Seminar vorzugsweise durch wörtliches Auswendiglernen biblischer Geschichtsbücher (von 300 bis 500 Seiten von Zahn, Preuß, Otto Schulz und ähnlichen ausführlichen Schriften), 30 bis 50 oder 80 Kirchen- oder Gesangbuchs-Kern- und Sternlieder, nebst der entsprechenden Dosis von Bibelsprüchen, Psalmen, Perikopen usw.!
2. In dem Seminar dressiere man sie ad hoc!
3. Halte ihnen allgemeine Bildungsmittel (Weltgeschichte, Naturwissenschaften, deutsche Literatur usw.) fern!
4. Schreibe ihnen im Amte die Einübung des Katechismus in einem so frühzeitigen Alter der Kinder vor, daß sie zu mechanischem Verfahren genötigt werden!
5. Verlange von den Schulkindern das fertige, wortgetreue Auswendigwissen einer übergroßen Masse kirchlich-religiöser Stoffe und beurteile danach den Wert der Schule und des Lehrers!
6. Schreibe ihnen die Bücher (Zeitschriften usw.) vor, die sie lesen sollen!
7. Man halte sie ab von der Vereinigung mit geistig geweckten Kollegen und freien Vereinen überhaupt!
8. Man stelle sie nicht bloß unter die Aufsicht strenggläubiger Theologen (der sogenannten Konfessionalisten), sondern lasse auch durch diese, damit die Lehrer in einseitiger Richtung fortgeleitet werden, die amtlich vorgeschriebenen Lehrervereine dirigieren!
9. Man spreche ihnen die Befähigung, Gemeinde- und kirchliche Ehrenämter zu übernehmen, und das Recht, an den Verhandlungen ihres Schulvorstandes teilzunehmen, ab!
10. Man überlade die Schule mit einer übergroßen Zahl von Schulkindern von möglichst verschiedenem Alter (80, 100, 150, 200 und mehr – je mehr, desto besser)!
11. Man befördere sie zu besseren Stellen – absehend von ihrer Schultätigkeit – , je nach ihrem Eifer für kirchliche Zwecke, Missions- und Traktatenvereine, Mäßigkeitsgesellschaften u. dgl.!
12. Man besolde sie so, daß sie sich in der Stadt durch Privatstunden, auf dem Lande durch Ackerwirtschaft abarbeiten müssen!

Traun, durch diese und die ihnen verwandten Mittel darf man mit Sicherheit auf die Bildung eines Lehrerstandes rechnen, der wohl abzurichten, aber nicht zu unterrichten, nicht zu bilden, die Menschennatur nicht zu entwickeln versteht. –

11. Wie man einem angehenden Lehrer (Seminaristen) die Natur austreibt

1. Man macht ihn mißtrauisch gegen die menschliche Natur überhaupt.
2. Man macht ihn mißtrauisch gegen die eigene Natur.
3. Man macht ihn ganz besonders mißtrauisch gegen die kindliche Natur.
4. Man lehrt ihn, daß das Heil von außen komme.
5. Man lehrt ihn, daß das Heil in einem bestimmt formulierten Bekenntnis enthalten sei.
6. Man veranlaßt ihn zur blinden Unterwerfung unter den Inhalt dieses Bekenntnisses.
7. Man überredet ihn, daß er sich durch Annahme desselben die Seligkeit erwerbe.
8. Man sagt ihm, daß er sich durch die Verbreitung desselben um die Menschheit („das Reich Gottes“) verdient mache.
9. Man droht ihm mit zeitlichen und ewigen Strafen, wenn er davon abwiche.
10. Man belohnt und befördert ihn, wenn er sich in der Verbreitung des allein selig machenden Glaubens eifrig erweist.
11. Man hält ihn von der Kenntnis und Erkenntnis der Gesetze der äußeren Natur ab.
12. Man erhält ihn in Unwissenheit über die Natur und Gesetze des geistigen Lebens.
13. Man verdächtigt ihm die Werke und Schriften natürlich-idealer Menschen (der Klassiker der Nation), hält ihn von dem Lesen derselben ab, versenkt ihn dagegen in supranaturalistisch-positive Systeme und stellt ihn unter die Aufsicht konfessionell strenggläubiger Theologen.

12. Welche Momente man nur fortdauern zu lassen braucht, um die Fortdauer eines ungenügenden Lehrerstandes zu sichern

1. Das Herkommen aus den unteren Ständen.[3]
2. Mangelhafte Vorbildung.
3. Einseitige Ausbildung.
4. Allzu frühe Selbständigkeit.
5. Isolierte Lage.
6. Beaufsichtigung durch Männer, die nicht eigens für pädagogisches Wirken im Sinne der Menschenbildung herangezogen sind und welchen vermöge ihrer Vergangenheit und Art der Ausbildung nur ein sehr geringes, wenigstens einseitiges Interesse an der Wirksamkeit des Lehrers in der Schule beiwohnen kann.
7. Mangel an literarischen Bildungsmitteln.
8. Verheiratung mit Personen aus den unteren Ständen.
9. Die dadurch entstehende Verwandtschaft.
10. Vermehrte Sorge und Bedrängnis bei anwachsender Kinderzahl.
11. Bekümmernis um Weib und Kind bei dem Blick in die Zukunft im Fall des Todes.
12. Ökonomische Bedrängnis.

13. Wie man die Entstehung von Charaktermenschen (Charakteren) verhindert

1. Man stelle an die Spitze jedes Zweiges des Gemeinwesens einen Mann, der, wenn auch nicht über die Einrichtung, doch über die im Bereich desselben vorkommenden streitigen Fälle ohne Mitwirkung der Gerichte die letzte Entscheidung hat und dem Gemeinwesen nicht verantwortlich ist.
2. Man überlasse ihm namentlich die Entscheidung über alle in dem Bereich seines Wirkens anzustellenden Beamten, bis zu den Vorstehern der einzelnen Gemeinden hinab, gestatte denselben keinerlei Art von Mitwirkung bei der Wahl derselben und unterstelle die Beamten einem speziellen Disziplinarverfahren auf Verfügung des betreffenden Ministers.
3. Man überwache das Verhalten der Bürger durch ein Korps von Polizeibeamten, an deren Spitze in bürokratischer An- und Überordnung ein unverantwortlicher Polizeiminister steht.
4. Man verweigere die Errichtung einer Nationalmiliz und verteile anstatt derselben ein stehendes Heer über das ganze Land.
5. Man mache die Anstellung und Beförderung der Mitglieder des (konfessionellen) Klerus von der weltlichen Gewalt abhängig, betraue ihn mit der Aufsicht über die vorgeschriebene Volksbildung und unterstütze ihn in dem Streben nach der Gewalt über die Gewissen.
6. Man lege die Befugnis der Ernennung aller Lehrer, von der Universität ab bis zu den Dorfschulen, in die Hand eines Ministers und erhalte die Volkslehrer in geistiger wie ökonomischer Hinsicht in dürftiger Lage.
7. Man statte den Minister mit der Macht aus, die Art der öffentlichen Erziehung und des Unterrichts endgültig vorzuschreiben.
8. Man hänge das Damoklesschwert der Konzessionsentziehung über alle Organe der Presse und deren Vermittler sowie über alle Betreiber öffentlicher Geschäfte.
9. Man hindere die Bildung freier Vereine, lasse sie jedenfalls durch die persönliche Anwesenheit von Polizeibeamten überwachen, statte diese mit der Gewalt aus, jeden Verein augenblicklich aufzulösen, mache überhaupt alle freie Bewegung der Menschen in jedem einzelnen Falle von polizeilicher Erlaubnis abhängig.
10. Man gestatte keinem Verein die Diskussion über politische und allgemein-soziale Angelegenheiten, und unterdrücke jeden Gedanken an die Selbstregierung der Gemeinden.
11. Man mache die Zuerkennung aller bürgerlichen Rechte abhängig von der Zugehörigkeit zu einer von der weltlichen Macht konzessionierten Kirchengemeinschaft.
12. Man mache jede Art von Begünstigung der Bestrebungen eines Mannes weniger von seiner allgemein-menschlichen und beruflichen Tüchtigkeit, als von seiner Teilnahme an der Beförderung der augenblicklich eingeschlagenen politischen Richtung abhängig.

Unter der Zusammenwirkung dieser und der ihnen analogen Momente wird man den Zweck, die Bildung von festen Charaktermenschen zu verhindern, vollkommen erreichen, oder, wenn man diesen Zweck nicht direkt anstrebt, doch das Resultat herbeiführen, daß Männer dieser Art als seltene Ausnahmen erscheinen. Die Geschichte der Vergangenheit liefert zu dieser Wahrheit die Belege.

Anmerkungen

[1] Herr Bormann empfiehlt im Brandenb. Schulblatt „Gebetsübungen“, in Mecklenburg stellt man täglich Katechismusandachten an (Rhein. Bl. 55 Vd. S. 223.), und wie im Braunschweigschen (in Luclum) der Freitag begangen wird, haben wir neulich (Rhein. Bl. neueste Folge II.) berichtet. Die Litaneien werden in Mecklenburg nach dem „Repetierzirkel“ geübt. Lauter preiswürdige Erfindungen!
[2] Daß dasselbe Mittel öfter wiederkehrt, wird bei der Verwandtschaft und Ähnlichkeit der Zwecke und Absichten niemanden wundernehmen. Der rationell verfahrende Arzt verordnet dasselbe Mittel in verschiedenen Krankheiten, in anderen Verbindungen; nur der Homöopath wendet bei jeder Krankheit nur ein Mittel an. Von der homöopathischen Apotheke sind aber unsere modernsten pädagogischen Heilkünstler keine Freunde; sie lieben die Massen. Der Herr Pfarrer und der Herr Lehrer in Schönebeck verordnen den Schulkindern zur Stärkung ihres Gedächtnisses 120 Kirchenlieder und bezeichnen die Folgen als „sehr erfreuliche“. Die Kurmethode des weiland weltberühmten Dr. Eisenbart verrichtet bekanntlich noch größere Wunder. –
[3] Ich weiß sehr wohl und danke Gott, daß nicht vorzugsweise in goldnen Wiegen künftige Talente schlummern, sondern daß auch mitunter neben Webstuhl und Eisenhammer das Bettchen eines künftigen Luther oder Kant steht. Auch weiß ich, daß Ehrbarkeit und frommer Sinn noch in mancher niedrigen Hütte zu finden sind. Aber in der Regel entbehren die darin Herangewachsenen des feinen Taktes und des feinen Gefühls, das nicht angeboren, sondern anerzogen werden muß – der Eigenschaft, ohne welche eine tief erkennende und tief wirkende Erziehungstätigkeit nicht möglich ist. Diesen Mangel überwindet kein Seminar, und auch der Begriff zeigt sich in betreff seiner Bewältigung ohnmächtig. Eine mangelhafte Jugenderziehung dieser Art wird nur in den seltensten Fällen verwunden.

Quelle: Pädagogisches Jahrbuch (1859); abgedruckt in Friedrich Diesterweg, Wegweiser zur Bildung für deutsche Lehrer und andere didaktische Schriften, herausgegeben von Franz Hofmann. Ost-Berlin: Volk und Wissen Volkseigener Verlag, 1962, S. 314–23.