Kurzbeschreibung

Der Heidelberger Theologieprofessor Daniel Schenkel (1813–1885) war ein führender Vertreter des liberalen Protestantismus und Mitbegründer des Protestantenvereins (1865). In den Auszügen aus seiner Flugschrift zur Rechtfertigung des Vereins erläutert er seine Unterscheidung zwischen Religion und Kirche sowie seine Betonung von persönlicher, nicht institutionsgebundener Spiritualität. Deutlich wird das Bemühen der liberalen Protestanten um die Überbrückung der Gegensätze zwischen rationalistischem Humanismus und religiöser Erweckung und ihr Streben nach „Erneuerung der protestantischen Kirche im Einklang mit der gesammten Culturentwicklung unserer Zeit“.

Daniel Schenkel, Auszüge aus Der Deutsche Protestantenverein (1868)

  • Daniel Schenkel

Quelle

I. Die Entstehung des deutschen Protestantenvereins

Es ist eine eigenthümliche Erscheinung unserer Zeit, daß die Kirche den größten Theil des Einflusses eingebüßt hat, den sie zu andern Zeiten auf Menschen und Völker auszuüben pflegte. Die Einen freuen sich über diese Thatsache; sie erblicken in derselben einen Sieg der Geistesfreiheit. Die Andern seufzen darüber; sie nehmen darin ein Zeichen religiöser und sittlicher Verwilderung wahr. Wir wollen dagegen versuchen, uns dieselbe zu erklären. Die Religion ist unstreitig die mächtigste geistige Kraft im Menschen; sie erhebt ihn über das bloß sinnliche Dasein; sie giebt ihm das Bewußtsein, der Bürger einer höheren ewigen Ordnung der Dinge zu sein. Wenn die Menschen religiös sind, so ist das der Menschennatur angemessen; wenn sie sich um die religiösen Angelegenheiten nicht kümmern, so ist das nicht in der Ordnung. Nun hat sich aber die Religion immer eine äußere bestimmte Gestalt gegeben in dem Cultus oder der Kirche, und in diesem Umstande liegt der Schlüssel zu der eigenthümlichen Erscheinung, daß die Religion den Menschen bisweilen verloren zu geben scheint, daß sie anscheinend kein Herz mehr zu den religiösen Angelegenheiten fassen, und daß, wie es gegenwärtig unter uns der Fall ist, ein großer, namentlich der gebildetere Theil der Nation keine lebendige Theilnahme mehr für die Kirche und ihre Schicksale zeigt. Es geht hier augenscheinlich eine Verwechslung der Begriffe vor sich.

Gegen die Religion selbst kann das menschliche Gemüth niemals gleichgültig werden; dasselbe ist mit dem Ewigen unauflöslich verwachsen, und wenn es von Gott lassen wollte, so würde gleichwohl Gott nicht von ihm lassen. Mit der Kirche verhält es sich anders. Diese ist in vielen Fällen eine sehr mangelhafte Erscheinungsform der Religion, und es kann so weit mit ihr kommen, daß sie sogar ein Hinderniß der Religion und ein wesentlicher Nachtheil für das religiöse Leben wird. Zum Beweise dafür berufen wir uns auf die Reformation. Die römische Kirche hatte im Mittelalter die Lebensadern der Religion unterbunden; sie war ein ganz verweltlichter Priesterstaat geworden. Sie hatte die Gewissen erstickt, die freien Geister gelähmt, in ihrer eigenen Mitte alle bösen Leidenschaften entfesselt. Wenn die deutsche Nation sich von dieser Kirche abwandte und die Reform mit Begeisterung aufnahm, so war das keineswegs ein Abfall von der Religion, sondern eine Rückkehr zu den Quellen der wahren Frömmigkeit. Man kann, wie dieses Beispiel zeigt, der Kirche, ihren Lehren, Gottesdiensten und Einrichtungen den Rücken kehren gerade aus Religion.

[]

Daß im Uebrigen die religiösen, und genauer ausgedrückt, die kirchlichen Zustände unserer Zeit unbefriedigend sind, daß sie einer gründlichen Erneuerung und Verbesserung bedürfen, darüber besteht auch für uns kein Zweifel. Wir reden zunächst nur von der deutschen Nation. Wenn eine Nation mit ihrer Kirche zerfallen ist, dann droht dem nationalen Leben eine große Gefahr. Indem es sich von der Kirche lossagt, wird es sich entweder zugleich auch von der Religion, die so leicht mit der Kirche verwechselt wird, lossagen, und mit der Religion den ächt sittlichen Gehalt, seine Kraft und Weihe verlieren; oder es wird sich religiös in eine Anzahl von Sekten und Sonderparteien zerspalten, und dann einer der ergiebigsten Quellen seiner Einheit und Zusammengehörigkeit verlustig gehen. Ihr werdet sagen: die religiöse Einheit ist seit der Reformation für uns Deutsche ohnedies nicht mehr vorhanden. Wir leugnen das nicht. Aber der Protestantismus war immerhin eine nationale Schöpfung. Das deutsche Volk ist, trotz seiner confessionellen Spaltung, das Volk der Reformation; die nicht römisch, sondern national gesinnten deutschen Katholiken hatten bisher an dem Protestantismus einen schützenden Wall gegen römische Uebergriffe. Die Auflösung des Protestantismus wäre für das deutsche Volk nicht nur eine unermeßliche religiöse, sondern auch eine furchtbare nationale und politische Gefahr. Wir sind gegen den Katholicismus, so weit er nicht culturwidrige Zwecke verfolgt, und die Gräuel jesuitischer Unduldsamkeit und pfäffischer Verfolgungssucht nicht zu erneuern versucht, lediglich wohlwollend gestimmt; er mag seine religiöse und culturhistorische Mission unbehindert fortsetzen, wenn er uns Protestanten nur an der unsrigen nicht hindert. Allein die Religion der modernen Welt ist immerhin der Protestantismus; nur er hat das Christenthum so aufgefaßt, wie die mündig gewordenen Völker es auf die Dauer noch zu verstehen und sich anzueignen im Stande sind; ihm gehört, nach unserer Ueberzeugung, in eben dem Maße die Zukunft, als es ihm gelingt, seine Grundsätze im Völker- und Staatenleben zu verwirklichen und die theologischen Fesseln abzustreifen, mit denen er, der jugendliche Riese, schon vor drei Jahrhunderten seine ohnedies noch ungelenken Glieder eingeschnürt hat.

Damit sind wir bereits an dem Punkte angelangt, von dem aus wir die Entstehung unseres Vereins näher zu begründen vermögen. Der Protestantismus ist das Christenthum in der Form der religiösen Wahrheit und der sittlichen Freiheit. Er kann seinen Grundüberzeugungen nach, sich nur zufriedengeben mit der höchsten und mit der ganzen Wahrheit, und er bedarf, um zu diesem Ziele zu gelangen, unbedingte, vor keinen Ergebnissen erschreckende Freiheit. In dreifacher Beziehung hat er mit der mittelalterlichen Form des Christenthums gebrochen. Erstens weist er alle priesterliche Vermittelung, alles Pfaffenthum zurück. Zweitens fordert er selbstständige Glaubenserkenntniß, eigene Gewissensüberzeugung; ein bloß überlieferter und angenommener Glaube hat für ihn keinen Werth. Drittens legt er kein Gewicht auf äußere Formen; der Frieden der Seele, die Gemeinschaft mit Gott ist ihm unabhängig von denselben. So wenig es dem Christenthum selbst möglich gewesen war, mit seinen neuen Ideen sofort in der Welt durchzudringen, so wenig gelang es dem Protestantismus, seine Grundsätze unverzüglich in voller Reinheit und Stärke zu verwirklichen. Der katholische Sauerteig, der noch in ihm zurückgeblieben war, durchsäuerte die von ihm gegründete Gemeinschaft wieder. An die Stelle der katholischen Priesterherrschaft trat eine protestantische Theologenherrschaft; an die Stelle der selbstständigen Glaubensüberzeugungen ein unselbstständiger Ueberlieferungs- oder Bekenntniß-Glaube; an die Stelle der katholischen Satzungen und Ceremonien protestantische Dogmen und Formeln, die, wie z. B. beim Abendmahle, sogar ein unheilbares Zerwürfniß unter den Protestanten selbst veranlaßten; an die Stelle des lebendigen Papstes in Rom ein papierner Papst, die für schlechthin inspirirt und darum unfehlbar erklärte Bibel.

Daher gingen die Erwartungen, die man von dem Protestantismus anfänglich hegte, großentheils nicht in Erfüllung. So lange das deutsche Culturleben im Ganzen und Großen die Durchschnittslinie der Bildungshöhe des sechszehnten Jahrhunderts nicht überschritt, fühlte die Nation sich durch die neuen kirchlichen Zustände ziemlich befriedigt. Sie waren immerhin besser als diejenigen des vom Jesuitismus beherrschten römischen Kirchenthums. Als aber seit der Mitte des 18. Jahrhunderts der allgemeine Umschwung der Wissenschaften den herkömmlichen geistigen Vorstellungskreis auflöste und die unfehlbare Autorität der Bibel sich gegenüber den bahnbrechenden neuen naturwissenschaftlichen Entdeckungen und philosophischen Ideen nicht mehr halten konnte, da gerieth auch die protestantische Kirche mit der Wissenschaft und Bildung in ein Zerwürfniß, das nur deshalb einstweilen keine übleren Folgen hatte, weil im 18. Jahrhundert die Theologen die Fahne der Aufklärung aufpflanzten, die Selbstständigkeit der Religion, die Unfehlbarkeit der Bibel, die Autorität des kirchlichen Bekenntnisses preisgaben, und die unbedingte Herrschaft der Vernunft auch auf dem religiösen Gebiete anerkannten.

Diese Entwerthung der Religion war allerdings beklagenswerth, und ein Mann, der wahrhaft reformatorisch auf unser Jahrhundert gewirkt, Fr. Schleiermacher, hat sie in seinen „Reden über die Religion an die gebildeten unter ihren Verächtern“ siegreich und erfolgreich bekämpft. Die Cultur, getrennt von der Religion, besitzt keine Wärme, wie die Religion, entfremdet von der Cultur, kein Licht. Das deutsche Volk sehnte sich beim Beginne dieses Jahrhunderts auch wieder nach religiöser Erhebung und Erfrischung; furchtbare Prüfungen, die eiserne Noth führten zu religiöser Vertiefung und sittlicher Läuterung zurück; es schien eine Zeit anbrechen zu wollen, in welcher eine schwungvolle Religiosität mit einer gediegenen nationalen Bildung Hand in Hand gehen würde.

Es ist anders geworden. Mit der politischen Restauration im Jahre 1815 verband sich die religiöse. Mit den Jesuiten in der katholischen Kirche kehrten die Buchstäbler in der protestantischen zurück. []

Die große Restauration innerhalb der römisch-katholischen Welt hat diejenige im Schooße des deutschen Protestantismus bis jetzt mitgetragen. Seit 1815 hat unter dem Aushängeschilde der sogenannten conservativen Interessen eine Partei in der protestantischen Kirche allmählich die fast durchgängige Herrschaft an sich gerissen, die mit der modernen Cultur auf dem gespanntesten Fuße lebt, und deren Bestrebungen auf nichts Geringeres ausgehen, als die deutsche Theologie und Kirche von ihrem culturgeschichtlichen Zusammenhange mit den großen Errungenschaften der modernen Wissenschaft zu lösen und sie der Autorität des Bibel-Buchstabens und der aus dem Reformations-Zeitalter überlieferten Bekenntnißschriften unbedingt zu unterwerfen. Die Partei, welche dieses Ziel anstrebt, nennt sich „gläubig“; aber sie glaubt nicht an den lebendigen Gott, der sich in der Geschichte offenbart und eben deshalb die Wahrheit nicht an den todten Buchstaben bindet, sondern sie glaubt an ihre vermeintliche Alleinberechtigung, an ihr Privilegium unbedingter Gewissensherrschaft. Eben damit hat sie aber den Boden des Protestantismus thatsächlich verlassen. Dieser schöpft seine Lebenskraft nicht aus dem kirchlich überlieferten Dogma und nicht aus den herkömmlichen kirchlichen Institutionen. Er schöpft sie aus dem Geist der evangelischen Wahrheit und Freiheit. Wer die Ueberlieferung, das Dogma, das Herkommen in der protestantischen Kirche zur maßgebenden Autorität erhebt, der kehrt damit auf den römisch-katholischen Standpunkt zurück. Ihr redet von gegenwärtig innerhalb der protestantischen Kirche sich vollziehendem Abfall. Greift doch einmal in die eigene Brust! Wenn ihr die protestantischen Gewissen auf den angeblich unfehlbaren biblischen Buchstaben verpflichten, wenn ihr sie in die Artikel des Augsburger Bekenntnisses gefangen nehmen, wenn ihr jüngere Forscher durch Einschüchterung und Bedrohung an der gewissenhaften Prüfung der Urkunden des Christenthums hindern wollt: — dann zeigt ihr euch mit solchem Gebahren als Abgefallene von den Grundsätzen der Reformation, welche aus dem Geiste der freiesten Prüfung hervorgegangen ist; dann habt ihr selbst die Grundlagen verleugnet, auf denen seit mehr als drei Jahrhunderten die Kirche, der ihr angehört, sich erbaut hat.

[]

Die Verhandlungen in Eisenach führten rasch zu einer vollständigen Einigung über die Vereinsgrundsätze. Der Protestantenverein steht hiernach auf dem Grunde des evangelischen Christenthums. Dieser Grund ist durch Jesus Christus selbst gelegt, und wird eben deshalb nicht durch das traditionelle Dogma oder Bekenntniß gebildet; denn Christus hat weder Dogmen aufgestellt, noch seine Jünger auf irgend eine Bekenntnißformel verpflichtet. Das Christenthum ist ein Glaubens- und Lebensprincip in der Welt, eine Quelle des Geistes und der Kraft, eine geschichtliche Offenbarung der unmittelbaren Lebensgemeinschaft des Menschen mit Gott. Der Protestantenverein bekennt sich zu den Prinzipien des christlichen Glaubens und Lebens, und darum zu der Person Jesu Christi selbst, der die Wahrheit und das Leben aus Gott in für immer maßgebender Weise geoffenbart und durch seinen heiligen Geist der Menschheit eingepflanzt hat. Die Feststellung der Lehren und Satzungen, in denen diese Prinzipien einen doctrinellen Ausdruck erhalten, überläßt unser Verein den Theologen; sie mögen darüber streiten oder auch sich verständigen das ist nicht seine Sache. Was er anstiebt, ist nicht Einigung in irgend einer Dogmatik; wie eine vielhundertjährige Erfahrung lehrt, hat auch ein solches Streben stets zu nur immer größerer Spaltung und Zerklüftung von Glaubensgenossen geführt. Er beabsichtigt „die Erneuerung der protestantischen Kirche im Geist evangelischer Freiheit und im Einklang mit der gesammten Culturentwicklung unserer Zeit“.

Eine kirchliche Erneuerung; denn darüber kann kein Streit sein, daß unsere Kirche einer solchen bedarf. Sie ist in jeder Beziehung hinter der Zeit zurückgeblieben. Wenn ihre behördlichen Organe noch immer den kirchlichen Schwerpunkt in der überlieferten Lehre, dem sog. „Bekenntnisse“, suchen, so hat die neuere Wissenschaft längst dargethan, daß der Glaube und nicht die Lehre, das Leben und nicht die theologische Formel das Wesen des Protestantismus bildet, und daß der überlieferte Lehrbegriff außerdem vor dem Richterstuhle der strengen Prüfung nicht mehr Stich hält, weil er auf durchaus unhaltbar gewordene Voraussetzungen gebaut ist. Er hat seine wesentlichen Stützen: an der Inspirationslehre des 17. Jahrhunderts, und diese ist wissenschaftlich auf allen Punkten durchbrochen; an der Christuslehre der altkatholischen Kirchenversammlungen im 4. und 5. Jahrhundert, und diese steht mit der richtig verstandenen Evangelienlitteratur und mit einer ächt geschichtlichen Auffassung der Person Christi in unauflöslichem Widerspruche; an dem sogenannten athanasianischen Glaubensbekenntniß, welches die Lehre von drei göttlichen Personen innerhalb eines göttlichen Wesen, bei Strafe des ewigen Feuers, jedem zur unerläßlichen Pflicht macht, und dieses muß, um angenommen zu werden, den Anspruch auf völlige Unterdrückung des vernünftigen Denkens erheben; an der Vorstellung, daß die Theologen den Glauben der Gemeinde zu bestimmen und als die Mündigen die unmündigen Laien zu regieren hätten, und diese Vorstellung ist nicht nur unprotestantisch, sondern sie streitet auch mit dem großen neutestamentlichen Grundsatze, daß alle Christen priesterliche Rechte und freie Gewissen haben sollen. Darum bedarf die evangelische Kirche gegenwärtig dringend einer Erneuerung „im Geiste evangelischer Freiheit“. Niemand darf gehindert sein, das Evangelium nach seinem eigenen besten Wissen und Gewissen zu verstehen und zu bekennen; Niemand, namentlich keine Kirchenbehörde, soll eine einzige Form, das Evangelium zu verstehen und zu bekennen, für die ausschließlich berechtigte erklären, und alle übrigen verurtheilen und unterdrücken dürfen. Das wäre ein Gewissens- und Glaubenszwang, der vor dem römisch-katholischen Geistesdrucke nicht nur nichts voraus hätte, sondern noch schlimmer als dieser, weil er eine Verläugnung der protestantischen Prinzipien unter dem Aushängeschild des Protestantismus selbst wäre.

Der Protestantenverein strebt die Erneuerung der protestantischen Kirche „im Einklang mit der gesammten Culturentwicklung unserer Zeit“ an. Eben deshalb, weil er keine fertige Dogmatik und kein abgeschlossenes Kirchenthum kennt, sondern die Form der Lehre und die Einrichtungen der Kirche als das Erzeugniß einer bestimmten Zeit und der innerhalb dieser sie beherrschenden Ideen betrachtet, kann er auch nicht zugeben, daß die Lehrentwicklung und Verfassungsbildung der Kirche an einem bestimmten Punkt abschließe und mit der darauf gefolgten Zeitbildung in Widerspruch trete. Die herkömmliche Theologie geht zwar von der Voraussetzung aus, daß die Kirche einen übernatürlichen Ursprung habe, wogegen die Cultur etwas Natürliches sei. Die aus dieser Voraussetzung gezogene Schlußfolgerung ist sehr einfach. Das Natürliche hat sich dem Uebernatürlichen unterzuordnen; die Cultur ist nur so weit berechtigt, als die Theologen mit ihr einverstanden sind; wenn daher die Theologie in Gemäßheit ihrer übernatürlichen Erleuchtung und der Theorie von der göttlichen Autorität der Bibel zufolge sich zu der Annahme genöthigt sieht, daß die Erde stille steht und die Sonne sich um sie bewegt, so ist es das Merkmal einer falschen Bildung, wenn das Gegentheil behauptet wird. Der Protestantenverein anerkennt seinerseits die volle Berechtigung der modernen Wissenschaft, ihre eignen Bahnen zu gehen, und ist der Meinung, daß die religiösen Wahrheiten ganz unabhängig sind von den wissenschaftlichen Ergebnissen. So wie dieser Satz einmal in der Kirche Anerkennung gefunden hat, so ist auch der Friede zwischen dem Christenthum und der Cultur geschlossen. Wenn die Cultur in dem Christenthum vielfach einen Feind erblickt, so hat die kirchliche Theologie es zum großen Theile selbst verschuldet. Eine Theologie, welche die Bibel zu einem unfehlbaren Lehrbuche in der Astronomie, der Geographie, der Naturgeschichte und Weltgeschichte erhebt; welche die Erde in den Mittelpunkt der Schöpfung, den Thron Gottes mit den drei Personen der Dreieinigkeit auf das Himmelsgewölbe, und die Hölle mit den Verdammten in das Innere des Erdballs stellt; welche den Luftraum zwischen Himmel und Erde mit Engeln und Dämonen bevölkert, die unter Anderm auch das gute oder schlechte Wetter besorgen; welche den Wahnsinn aus Teufelsbesitzungen herleitet, dem Menschen als solchem den freien Willen und alle Kraft des Guten abspricht, und die Majestät Gottes darin erblickt, daß er seine eigene Weltordnung mit Mirakeln durchbricht und aus der Masse der von ihm geschaffenen vernünftigen Geschöpfe nur ein kleines Häuflein unverdienter Weise aus lauter Gnaden errettet — eine solche Theologie bringt nothwendig einen culturfeindlichen Eindruck hervor und fordert gegen ihre, mit der Miene der Unfehlbarkeit behaupteten Sätze unvermeidlich den Widerspruch des Jahrhunderts heraus. Dieselbe ist auch keineswegs wesentlich christlich. Jesus Christus hat die Menschen zur Gemeinschaft mit Gott und zur Liebe gegen den Nächsten berufen, aber nicht dazu, ein näher formulirtes naturwissenschaftliches System anzunehmen und metaphysische oder astronomische Probleme zu lösen. Er hat erklärt: „Eins ist noth“, und dieses Eine ist die ungetheilte Hingabe des Gemüthes an das Ewige, während die Theologen die Zustimmung zu einem Haufen von Satzungen für nothwendig erklären und die armen Gewissen in Hunderte von Stricken gefangen genommen haben. Der Protestantenverein geht von der zuversichtlich richtigen Annahme aus, daß, sobald einmal die Theologie nur noch religiös sein will, dann auch die Cultur nicht mehr kirchenfeindlich sein wird. Wir werden dann beides zugleich sein können: mit dem Herzen fromm und mit dem Kopfe hell; die Frömmigkeit wird den Kopf erwärmen, die Wissenschaft das Herz erleuchten.

[]

Quelle: Daniel Schenkel, Der Deutsche Protestantenverein und seine Bedeutung in der Gegenwart nach den Akten dargestellt. Wiesbaden: E.W. Kreibel’s Verlag, 1868, S. 1–2, 3–6, 7–8, 23–27.