Quelle
Evangelischer Bund zur Wahrung der deutsch-protestantischen Interessen
An unsere Glaubensgenossen in ganz Deutschland!
Die deutsche evangelische Kirche und mit ihr unser deutsches Vaterland sind von schweren Gefahren bedroht. Durch den sogenannten Kulturkampf und die Art seiner Beilegung sehen wir die Macht des Romanismus aufs höchste gesteigert. Rührig und mit zäher Beharrlichkeit, unter Benutzung aller dem deutschen Wesen entgegenwirkenden Strömungen, verfolgt dieser seine Ziele. Die Zugeständnisse, welche er den deutschen Regierungen abgerungen hat, bieten ihm nur neue Mittel des Angriffs. Auch die größere Mäßigung und die Friedfertigkeit, welche er jetzt zur Schau trägt, dienen ihm zur Gewinnung weiterer Vortheile. Die größten Einbußen hat der Protestantismus jedesmal dann erlitten, wenn die Hierarchie sich auf den Friedensfuß mit der Staatsgewalt zu setzen wußte.
Wir fürchten den Feind nicht. Der Herr Jesus Christus, das alleinige Haupt der Kirche, sitzt im Regiment. Sein Wort der frei und selig machenden Wahrheit ist uns Schwert und Schild, und unser Glaube an ihn ist der Sieg, der die Welt überwunden hat! — Wir wissen auch wohl: um den drohenden Gefahren zu begegnen, kommt es in erster Linie darauf an, daß jeder Bekenner des Evangeliums in seiner Weise und nach seinem Berufe sich die Pflege und Vertheidigung evangelischen Glaubens und Lebens angelegen sein läßt. Was in solcher Weise theils zum Aufbau theils zur Abwehr von einzelnen Männern, welche die Waffen des Geistes zu führen wissen, und von Vereinen bisher schon geschehen ist, achten wir hoch. Aber es hieße die Gefahr unterschätzen und unsere Pflicht verkennen, wenn wir meinten, es sei damit genug gethan.
Der machtvollen Einheit Roms steht die deutsch-evangelische Christenheit in trauriger Zerrissenheit gegenüber. Die Landeskirchen, in welche sie zerfällt, sind durch ein so loses Band verknüpft und im Uebrigen so sehr gegen einander abgeschlossen, daß das evangelische Gemeinbewußtsein verkümmert.
Noch viel verderblicher ist der Parteihader, welcher die besten Kräfte verzehrt und eine gedeihliche positive Entwicklung des deutschen Protestantismus lähmt. Während wir uns über innerkirchliche Fragen entzweien, schreitet der Feind, der uns zu vernichten strebt, unaufhaltsam vor. — Dazu hat er in unserm eigenen Lager gefährliche Bundesgenossen. Die in vielen und einflußreichen Kreisen verbreiteten falschen Paritäts- und Toleranz-Begriffe leisten ihm willkommene Hilfe, und der Materialismus, in welchen ganze Schichten unseres Volkes versunken sind, nicht minder aber der religiöse Indifferentismus bahnen ihm den Weg zur Herrschaft.
Solch eine Lage erheischt große Ziele und umfassende Mittel! Alle, welche ein Herz für unsere Kirche haben, Alle, welche von der Ueberzeugung durchdrungen sind, daß allein die Treue gegen das göttliche Wort und der endliche Sieg der evangelischen Wahrheit unser Volk zur Erfüllung seines weltgeschichtlichen Berufes auch fernerhin befähigen kann, müssen sich zusammenschließen zu gemeinsamer Arbeit und gemeinsamem Kampf!
Dies erwägend und in diesem Geiste haben bereits am 5. October ds. Jahres evangelische Männer aus allen Theilen Deutschlands, von mannigfaltiger Berufsstellung und aus verschiedenen kirchenpolitischen Parteigruppen, einander die Hände gereicht. um ihre Glaubensgenossen aufzurufen, zu einem evangelischen Bunde, dessen Zweck die Wahrung der deutsch-protestantischen Interessen ist.
Das Programm dieses Bundes ist folgendes: Der evangelische Bund bekennt sich zu Jesu Christo, dem eingebornen Sohn Gottes, als dem alleinigen Mittler des Heils, und zu den Grundsätzen der Reformation.
Die Aufgabe des Bundes ist eine zweiseitige. Er will im Kampfe gegen die wachsende Macht Roms die evangelischen Interessen auf allen Gebieten wahren, der Beeinträchtigung derselben durch Wort und Schrift entgegentreten, dagegen allen Bestrebungen wahrer Katholicität und christlicher Freiheit im Schooße der katholischen Kirche die Hand reichen. — Er will andrerseits gegenüber dem Indifferentismus und Materialismus der Zeit das christlich-evangelische Gemeinbewußtsein stärken, gegenüber dem lähmenden Parteitreiben den innerkirchlichen Frieden pflegen, gegenüber der landeskirchlichen Getheiltheit des evangelischen Deutschlands die Wechselbeziehungen zwischen den Angehörigen der einzelnen Landeskirchen beleben und mehren.
Zur Erfüllung dieser Aufgabe verpflichtet sich jedes einzelne Glied des Bundes an seinem Theile mitzuwirken.
Behufs gemeinsamer Thätigkeit organisirt sich der Bund, unter Leitung eines Central-Vorstandes sowie eines weiteren Ausschusses, und gegliedert in landeskirchliche oder landschaftliche Zweigvereine, über das ganze evangelische Deutschland. — Dem Vorstande tritt an die Seite eine Commission zur Vertretung der evangelischen Interessen in der Presse. — Generalversammlungen vereinigen die Bundesglieder zu persönlichem Meinungsaustausch und zu den für das Ganze maßgebenden Beschlüssen. — Die Kosten des Bundes werden theils durch regelmäßige Beiträge, theils durch außerordentliche Zuwendungen gedeckt.
Evangelische Glaubens- und Volks-Genossen! Der Kulturkampf neigt seinem Ende zu. Aber der Kampf mit Rom dauert fort: er wird dauern „so lange noch ein Ketzer im Lande ist“, oder wie wir meinen, bis die Wahrheit des Evangeliums in ganz Deutschland zum Siege hindurchgedrungen ist. Das evangelische Volk muß diesen Kampf aufnehmen mit vereinter und nachhaltiger Kraft.
Vorweg gilt es energische Gegenwehr. In alle Windungen hinein ist die unterminirende Arbeit des jesuitischen Geistes und seiner Werkzeuge zu verfolgen. Fälschungen der Geschichte, Verdächtigungen unserer Kirche, Verkümmerungen ihrer Rechte, insbesondere das Verhalten des römischen Klerus in Sachen der Mischehen und der Erziehung der aus diesen Ehen entsprossenen Kinder, nicht minder die aus den falschen Paritäts-Begriffen herfließenden Nachgiebigkeiten gegen römische Anmaßung, sowie jede Art der Verleugnung des evangelischen Glaubens müssen aus Licht gezogen, jene planmäßig bekämpft, diese ohne Ansehen der Person öffentlich gekennzeichnet werden.
Der Abwehr aber hat der Angriff zur Seite zu gehen. Jedermann soll das wahre Wesen des immer mehr dem Jesuitismus verfallenden Romanismus und seine letzten Ziele kennen lernen. Indem wir zu solch’ einem Kampfe aufrufen, bleiben wir uns der Pflichten wohlbewußt, welche wir gegenüber unsern katholischen Mitbürgern zu erfüllen haben, damit der Riß des confessionellen Gegensatzes nicht immer tiefer und weiter greife. Wo in ihrer Mitte sich christliche Sinnesweise offenbart und bethätigt, da wollen wir das Band der vorhandenen religiös-sittlichen Gemeinschaft zu bewahren, die Liebe zum gemeinsamen Vaterlande zu stärken suchen: nicht minder jedoch nach Pflicht und Gewissen das Unsere thun, um ihnen die Augen zu öffnen über die an erster Stelle sie selber bedrohende Gefahr, die Niederzwingung jeder, auch der letzten freien Geistesregung unter ein fremdes Joch. Und wo der Protest des in der Wahrheit gebundenen Gewissens schon laut geworden ist, da überall wollen wir hilfreiche Hand bieten, das Schwache aufzurichten, das Verachtete und Verfolgte, so viel an uns ist, zu schirmen.
Die höchste Aufgabe setzen wir in die Heilung der eigenen inneren Schäden. — Unser evangelisches Volk in seinem ganzen Umfange der Segnungen der Reformation wieder eingedenk zu machen, des reinen Evangeliums von Gottes Gnade in Christo, des allgemeinen Priesterthums, der Befreiung aus den Banden des Aberglaubens, der Glaubens- und Gewissensfreiheit, und in die weitesten Kreise hinein die Ueberzeugung zu tragen, daß, wie auf der Reformation Deutschlands gegenwärtige Kraft und Größe beruht, so auch seine Zukunft an der Bewahrung jener Güter und dem schließlichen vollen Siege des Evangeliums hängt: in solchem Sinne das protestantische Selbstbewußtsein zu schärfen und gegenüber innerer wie äußerer Zertheiltheit das evangelische Gemeingefühl zu wecken, — darauf muß unsere beste Kraft und der ganze Eifer der Liebe sich richten, damit unser Volk gewaffnet und bereit sei, wenn Gottes Stunde schlägt.
Indem wir an dieses Werk herantreten, rechnen wir keineswegs auf sofortige große Erfolge. Es wird eine anhaltende und rastlose Arbeit kosten. Es wird vor allem gelten, nicht müde zu werden. Auch Vorurtheile werden uns fürs erste begegnen: darum wollen wir nur Schritt für Schritt dem endlichen Ziele entgegengehen. Insbesondere sollen die Generalversammlungen des Bundes erst dann, wenn das Unternehmen innerlich fest begründet ist und nicht mehr in den Verdacht einer neuen Parteisache kommen kann, sich zu deutsch evangelischen Kirchencongressen gestalten, welche die von der Zeit gestellten Lebensfragen der evangelischen Kirche behandeln, der persönlichen Verständigung der Vertreter verschiedener Standpunkte dienen und zugleich eine innigere Verbindung der deutschen Landeskirchen anbahnen helfen.
Dennoch sind wir der guten Zuversicht, daß die Mahnung zur Einmüthigkeit, welche ja nicht wir erheben, die vielmehr aus der gegenwärtigen gefährdeten Lage der deutsch-evangelischen Christenheit an Alle in gleicher Weise ergeht, auch Gehör auf allen Seiten finden wird. Wir unterschätzen nicht, was an inneren Lebensfragen den Einen und Andern von Gewissens wegen noch immer verschiedene Wege führen mag. Aber der Ernst der Stunde fordert, daß wir es weit zurückstellen gegen die nächste und heiligste Pflicht, uns fest zusammenzuschließen zum Schutz und Schirm unseres Vaterlandes und der deutschen evangelischen Kirche.
Theure Glaubens- und Volksgenossen! Fragt deshalb auch nicht, wer euch ruft. Zuletzt ist es, deß halten wir uns freudig versichert, kein Anderer als der unsichtbare Herr der Kirche selbst und der Gott, welcher unserm Volke seinen weltgeschichtlichen Beruf zugetheilt hat. Laßt nicht zu, daß man einst von uns sagen müßte: Dies Geschlecht hat auf blutigen Schlachtfeldern Siege äußerer Macht ohne Gleichen und beispiellose Erfolge errungen, aber den Ruf zur Erhebung wider den Erbfeind seines Geisteslebens hat es vergebens an sich ergehen lassen; es hat den 400jährigen Geburtstag seines großen Glaubenshelden in rauschendem Festjubel gefeiert, aber der Pflicht mannhafter Vertheidigung der Güter der Reformation sich in Kleinglauben und Geistesträgheit entzogen! Sammelt euch um das Panier des Evangeliums und des aus dem Ernste des deutsch-christlichen Gewissens geborenen Protestantismus. Alle Zeichen der Zeit deuten auf das Herannahen eines Entscheidungskampfes. Dort ein Alle beherrschender und bannender Wille, der sich an Gottes Stelle setzt, — hier die Schaar der freien Männer des Glaubens und der Herr in ihrer Mitte! So laßt uns den Kampf aufnehmen, und Er, dem alle Gewalt im Himmel und auf Erden gegeben ist, wird uns zum Siege führen!
Der provisorische Vorstand.
Dr. Bärwinkel, Pf. in Erfurt. D. th. Beyschlag, Professor in
Halle.
D. th. Fricke, Professor in Leipzig.
Goebel,
Consistorialrath in Halle.
D. th. Kawerau, Professor in
Kiel.
Lenschner, Consistorialrath in Merseburg, prov.
Schriftführer.
D. th. Lipsius, Professor in Jena.
D. th.
Niemann, Consistorialrath in Münster.
D. th. Nippold,
Professor in Jena.
D. th. Riehm, Prof. in
Halle.
Geh.-Reg.-R. v. Voß in Halle.
D. th. Warneck, Pf.
in Rothenschirmbach.
Graf v. Wintzingerode-Bodenstein,
provisorischer Vorsitzender.
Witte, Professor und geistlicher
Inspector in Schulpforte.
Quelle: Evangelischer Bund zur Wahrung der deutsch-protestantischen Interessen, „An unsere Glaubensgenossen in ganz Deutschland!“ Archiv des Konfessionskundlichen Instituts des Evangelischen Bundes, Bensheim, S. 500.9.125, Evangelischer Bund, Reichsgeschäftsstelle. Wiedergabe mit freundlicher Genehmigung.
Evangelischer Bund: Mitgliederstatistiken
Jahr | Zahl der Mitglieder |
---|---|
1887 | 10.000 |
1888 | 37.000 |
1889 | 60.430 |
1891 | 82.978 |
1902 | 156.000 |
1906 | 328.322 |
1910 | 400.593 |
1912 | 485.753 |
1913 | 510.000 |
Quelle: Herbert Gottwald, „Evangelischer Bund zur Wahrung der deutsch-protestantischen Interessen (EB) 1886–1945“, in Dieter Fricke et al., Hrsg., Lexikon zur Parteiengeschichte 1789–1945, 4 Bde. Leipzig, 1983–1986, Bd. 2, S. 580–87, hier S. 581. Wiedergabe mit freundlicher Genehmigung.